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Deswegen muß ich noch lange nicht für mutmaßliche Massenmörder eintreten.
Ich bin ehrlich gesagt erschüttert, welch Gedankengut hier bei Einigen latent verborgen ist.
Bis jetzt dachte ich, das es sich hier schon um ein Forum handelt, welches den Gräueltaten des 3. Reiches ablehnend gegenübersteht.
Mord verjährt nicht.Sollten die Beweise ausreichen, soll er sitzen.
Oder anders gefragt, dürfen wir inzwischen wieder ungestraft Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, weil ja viele Russen usw nicht verurteilt wurden???
Nur, weil lauter ERWIESEN falsche Zeugen und ein MUTMAßLICH gefälschter Ausweis einen bis dato unbescholtenen Menschen zu einem MUTMAßLICHEN Massenmörder brandmarkten, darf man mit diesem Mann alles machen?
Weil er ein MUTMAßLICHER Massenmörder ist, darf man ihn jahrelang unschuldig (im Sinne der damaligen Anklage) ins Gefängnis stecken?
Weil er ein MUTMAßLICHER Massenmörder ist, darf man ihn jetzt wieder in´s Gefängnis stecken, in dem er jetzt wochenlang auf die Anklageerhebung warten darf?
Weil er ein MUTMAßLICHER Nazi-Massenmörder ist, gilt für ihn nicht mehr die Unschuldsvermutung (zumindest bei einigen hier im Forum)?
Nur weil man sich darüber wundert, welche Energie der deutsche Staat bei der Verfolgung eines 89-jährigen MUTMAßLICHEN Massenmörders jetzt an den Tag legt, steht man den Gräueltaten des 3.Reiches zustimmend gegenüber?
Nur weil man seine MUTMAßLICHEN TATEN im Kontext der damaligen Zeit und der Wahlmöglichkeiten, die -nicht nur ihm, blieben, einzuordnen versucht (was auch heute noch vor Gericht geschieht, wir kennen doch alle Urteile, die für uns skandalös erscheinen, weil dem Täter seine schwere Kindheit und die "böse Gesellschaft" oder auch nur der schnöde Alkohol als Urteilsmilderungsgründe angerechnet wurden), tritt man für MUTMAßLICHE Massenmörder ein?
Nur weil man auch bei MUTMAßLICHEN Massenmördern auf die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte hinweist (vergleiche hierzu auch die Behandlung von ERWIESENEN RAF-Terroristen) und sich über den -von anderen bereits erwähnten- politischen Druck "beschwert", macht man sich die Argumentation der "rechten Ecke" zu eigen? (Selbst wenn´s so wäre, sind Tatsachen und Argumente davon abhängig, ob sie von rechten oder linken Geistesbrüdern stammen?)
Nur weil man sich fragt, wie nach einem solchen Zeitraum die Beweisführung funktionieren soll, ist man dafür, "alle Naziverbrecher sofort unverurteilt zu lassen"?
Weil man bei politischen Prozessen eben NICHT von einer unvoreingenommenen Justitias ausgehen kann (da gibts in den letzen Jahren gute Beispiele in D und auch Ö) und man deshalb mißtrauisch eine Art Schauprozess befürchtet, hat man ein bestimmtes Gedankengut "latent" verborgen?
Nur weil man die damaligen und heutigen Verbrechen anderer Länder anprangert und eine ebensolche Verfolgung ohne jede Rücksicht auf Rang und Namen anmahnt (als Widder ärgert mich Unfairnis und Ungleichbehandlung), ist man gleich Antisemit und Amerikahasser?
Da bleibt mir nur, der von einem bezahlten Redenschreiber vorbereitete und von einem Bundespräsidenten vorgetragene Rede, die Florian einstellte, Auszüge aus der selbst geschriebene Rede von Martin Walser in der Paulskirche entgegenzustellen:
"Ich kann solche Aussagen nicht bestreiten; dazu sind sowohl der Denker als auch der Dichter zu seriöse Größen. Aber - und das ist offenbar meine moralisch-politische Schwäche - genau so wenig kann ich ihnen zustimmen. Meine nichts als triviale Reaktion auf solche schmerzhaften Sätze: Hoffentlich stimmt's nicht, was uns da so kraß gesagt wird. Es geht sozusagen über meine moralisch-politische Phantasie hinaus, das, was da gesagt wird, für wahr zu halten. Bei mir stellt sich eine unbeweisbare Ahnung ein: Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: Alle Deutschen. Denn das ist schon klar: In keiner anderen Sprache könnte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so von einem Volk, von einer Bevölkerung, einer Gesellschaft gesprochen werden. Das kann man nur von Deutschen sagen. Allenfalls noch, so weit ich sehe, von Österreichern.
Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern. Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen. Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz. Schon die Teilung selbst, solange sie dauerte, wurde von maßgeblichen Intellektuellen gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz. Oder: Ich stellte das Schicksal einer jüdischen Familie von Landsberg an der Warthe bis Berlin nach genauester Quellenkenntnis dar als einen fünfzig Jahre lang durchgehaltenen Versuch, durch Taufe, Heirat und Leistung dem ostjüdischen Schicksal zu entkommen und Deutsche zu werden, sich ganz und gar zu assimilieren. Ich habe gesagt, wer alles als einen Weg sieht, der nur in Auschwitz enden konnte, der macht aus dem deutsch-jüdischen Verhältnis eine Schicksalskatastrophe unter gar allen Umständen. Der Intellektuelle, der dafür zuständig war, nannte das eine Verharmlosung von Auschwitz. Ich nehme zu meinen Gunsten an, daß er nicht alle Entwicklungen dieser Familie so studiert haben kann wie ich. Auch haben heute lebende Familienmitglieder meine Darstellung bestätigt. Aber: Verharmlosung von Auschwitz. Da ist nur noch ein kleiner Schritt zur sogenannten Auschwitzlüge. Ein smarter Intellektueller hißt im Fernsehen in seinem Gesicht einen Ernst, der in diesem Gesicht wirkt wie eine Fremdsprache, wenn er der Welt als schweres Versagen des Autors mitteilt, daß in des Autors Buch Auschwitz nicht vorkomme. Nie etwas gehört vom Urgesetz des Erzählens: der Perspektivität. Aber selbst wenn, Zeitgeist geht vor Ästhetik.
Bevor man das alles als Rüge des eigenen Gewissensmangels einsteckt, möchte man zurückfragen, warum, zum Beispiel, in Goethes "Wilhelm Meister", der ja erst 1795 zu erscheinen beginnt, die Guillotine nicht vorkommt. Und mir drängt sich, wenn ich mich so moralisch-politisch gerügt sehe, eine Erinnerung auf. Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: "Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief- in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen." Und: "Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten." Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?
In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das "negativen Nationalismus". Daß der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bißchen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten."
Quelle:
http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/WegeInDieGegenwart_redeWalserZumFriedenspreis/
Besonders die letzten beiden Sätze sollten manchem doch zum Nachdenken anregen.
Bevor hier wieder gesagt wird, daß seien ja alles Argumente von der rechten Seite: Walser ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Sächsischen Akademie der Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) und Mitglied des deutschen P.E.N.
Im Jahr 2007 erstellte das Magazin Cicero eine Liste der 500 wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen. Demnach liegt Martin Walser hinter Papst Benedikt XVI. auf dem zweiten Platz, noch vor Günter Grass.
Quelle: wikipedia
Gruß
Ralf