Krieg in Europa: Angriff Russlands auf die Ukraine

josef

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RAKETEN UND DROHNEN
Entsetzen über bisher größte Angriffswelle gegen die Ukraine
Russische Luftschläge im ganzen Land forderten viele Tote. Ein Flugobjekt querte den polnischen Luftraum, Warschau spricht von russischer Rakete

Bei den russischen Luftangriffen vom Freitag wurden auch zahlreiche Wohngebäude getroffen, wie hier in der Hafenstadt Odessa.
REUTERS / Sergey Smolentsev

Die Hauptstadt Kiew, die Schwarzmeer-Metrople Odessa im Süden, Charkiw im Nordosten, Lwiw ganz im Westen: Das sind nur einige der ukrainischen Städte, in denen am Freitag Menschen durch russische Luftangriffe ihr Leben verloren haben. Insgesamt gab es bei den Attacken laut offiziellen Angaben aus Kiew mindestens 26 Todesopfer, mehr als 130 wurden verletzt. Das ukrainische Militär sprach von der größte Welle an Luftangriffen seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022.

Dabei kamen demnach strategische Bomber sowie über 150 Raketen und Kampfdrohnen zum Einsatz. Der Großangriff erfolgte in mehreren Wellen aus verschiedenen Richtungen. Ziele seien Einrichtungen der zivilen und militärischen Infrastruktur sowie der Industrie gewesen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beklagte vor allem die massiven Schäden im zivilen Bereich: Getroffen worden seien unter anderem Bildungseinrichtungen, eine Entbindungsstation, ein Einkaufszentrum und viele private Wohnhäuser. Das russische Verteidigungsministerium hingegen sprach von einem "Schlag mit Hochpräzisionswaffen und Drohnen", der gegen Rüstungsbetriebe, Militärflughäfen und Waffendepots geführt worden sei.

Die Zahl der Toten könnte laut Informationen von Freitagnachmittag noch steigen: So wurden etwa in Kiew noch mehrere Menschen unter den Trümmern eines Lagerhauses vermutet. In den Regionen Kiew, Odessa, Charkiw und Dnipropetrowsk kam es zu Stromausfällen. Bereits zuvor hatte Russland immer wieder die Energieinfrastruktur der Ukraine ins Visier genommen. Selenskyj sprach von einem terroristischen Akt und kündigte an, dass die Ukraine darauf antworten werde.


Stockende Hilfe
Andrij Jermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidialamtes, bat die westlichen Verbündeten der Ukraine erneut um weitere Militärhilfen. "Die Welt muss einsehen, dass wir mehr Unterstützung und Kraft brauchen, um diesen Terror zu stoppen", schrieb Jermak auf Telegram. Zuletzt war die Hilfe für die Ukraine allerdings ins Stocken geraten: Die USA hatten am Mittwoch ihre vorerst letzte Militärhilfe im Umfang von 250 Millionen Dollar (gut 226 Millionen Euro) freigegeben. Eine Einigung auf weitere Unterstützung für Kiew war zuletzt aber am Widerstand der oppositionellen Republikaner im US-Kongress gescheitert. Auch in der EU gibt es ähnlichen Widerstand: Hier verweigerte zuletzt Ungarn seine Zustimmung für ein neues Ukraine-Hilfsprogramm über 50 Milliarden Euro für die kommenden vier Jahre.

Auch der ukrainische Botschafter in Österreich, Wassyl Chymynez, warb am Freitag einmal mehr für weitere Hilfe: Der Terror Russlands sei nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern gegen das Völkerrecht und die globale Friedensordnung. "Deswegen kann es nur eine einzige richtige Antwort der freien und demokratischen Welt geben – eine langfristige und starke militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine", so Chymynez.

Zudem appellierte Chymynez auch an Vertreter der österreichischen Wirtschaft, sich aus Russland zurückzuziehen: Der "russische Aggressor" nütze die Steuerzahlungen ausländischer Unternehmen dafür, um Angriffe wie jenen am Freitagvormittag zu finanzieren. Während der "russische Diktator und seine Schergen" in Moskau fröhlich Feiertage feierten, würden Kinder, Frauen und viele Zivilisten in der Ukraine Opfer eines "anachronistischen Terrorkriegs".


Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in seinem Element: Er droht und lässt dementieren.
AFP/POOL/ALEXANDER KAZAKOV

Etwa zur selben Zeit drohte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mit dem Einzug von Vermögen aus Europa und den USA, sollten die G7-Staaten wegen des Ukrainekriegs knapp 270 Milliarden Euro an eingefrorenen Reserven der russischen Zentralbank beschlagnahmen. Zuvor hatte es Berichte über entsprechende Überlegungen der sieben führenden Industrienationen gegeben.

Flugobjekt über Polen
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg äußerte auf X (früher Twitter) seine Bestürzung über die "beispiellose Zahl an Raketen und Drohnen", die Zerstörung über zivile Infrastruktur und ziviles Leben gebracht hätten: "Russland muss diese grausamen Angriffe jetzt stoppen!"

Für Aufregung sorgte die Angriffswelle vom Freitag auch im Nato-Mitgliedsstaat Polen: Ein zunächst nicht identifiziertes Flugobjekt hatte Armeeangaben zufolge den polnischen Luftraum durchflogen und in Richtung Ukraine wieder verlassen. Alles deute darauf hin, dass es sich dabei um eine russische Rakete gehandelt habe, sagte der polnische Generalstabschef Wiesław Kukuła später vor Journalisten. Erinnerungen an den November 2022 wurden wach: Damals war in einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine eine Rakete eingeschlagen, zwei Zivilisten kamen ums Leben. Der Westen geht davon aus, dass bei dem Vorfall eine ukrainische Flugabwehrrakete niedergegangen war, die zur Verteidigung gegen russische Angriffe eingesetzt wurde.
(schub, 29.12.2023)
Entsetzen über bisher größte Angriffswelle gegen die Ukraine
 

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Warum der Verlust einer Awacs-Maschine Russland extrem wehtut
Die ukrainischen Streitkräfte haben eine A-50 über dem Asowschen Meer abgeschossen. Diese Spionageflieger sind Russlands Augen in der Luft – und es gibt kaum noch welche

Beriev A-50 Schmel, Nato-Codename "Mainstay", über dem Roten Platz in Moskau. Eine dieser wertvollen Maschinen wurde von der Ukraine abgeschossen. Möglicherweise verfügt Russland nur noch über sieben derartige Aufklärungsflugzeuge.
AP Photo/Alexander Zemlianichenko

Am vergangenen Sonntag gegen 21.15 Uhr geschah auf den Radarsystemen der russischen Streitkräfte etwas Merkwürdiges: Eine A-50, ein Spionageflugzeug, verschwand einfach vom Radar über dem Asowschen Meer. Die Besatzung antwortete nicht mehr auf Funkanfragen. Später entdeckte der Pilot einer Su-30 der russischen Luftwaffe ein Feuer rund um das Wrack eines abgestürzten Flugzeugs genau in jenem Gebiet, in dem sich die A-50 befunden hatte. Die geht aus Funksprüchen der russischen Armee hervor, die von den Streitkräften der Ukraine abgefangen wurden, wie CNN berichtet.

Am nächsten Tag meldete die ukrainische Armee offiziell den Abschuss des russischen Aufklärungsflugzeugs. Täglich werden über der Ukraine Kampfflugzeuge und Hubschrauber abgeschossen, doch der Verlust einer A-50 ist für die russische Luftwaffe aus mehreren Gründen ein herber Rückschlag. Erstens gibt es nur wenige Exemplare dieses Flugzeugs. Zweitens ist die Ausbildung einer Besatzung enorm aufwendig. Drittens liegt es an der Art des Flugzeugs selbst: Die A-50 ist nämlich Russlands Auge am Himmel, das vermutlich von einer ukrainischen Patriot-Rakete getroffen wurde.

Bei der A-50 handelt es sich im Grunde um eine gewaltige fliegende Radaranlage und Kommandozentrale. Die Antenne am Rumpf, ein rotierender Teller mit neun Metern Durchmesser, verleiht diesem Flugzeug das charakteristische Aussehen.

Wer hat's erfunden?
Ähnliche Flugzeuge werden auch im Westen eingesetzt. Mehr noch, die russische A-50 ist so etwas wie das Gegenstück zur Boeing E-3 Sentry, man könnte sie auch eine Kopie nennen. Die russische Propagandaerzählung geht freilich anders: Die Russen haben das Design des Frühwarn- und Überwachungsflugzeuge ersonnen. Der Westen, vor allem die USA, hat es dann dreist kopiert und in die E-3 Sentry eingebaut, so lautete zumindest die Behauptung von Konstrukteur Vladimir Verba von der Vega-Gruppe in einem Propagandafilm auf Youtube. Die Vega-Gruppe ist für den Bau des Radars zuständig. Dass die USA dafür eine Zeitmaschine gebraucht hätten, lässt der Entwickler aus. Denn die westliche E-3 Sentry wurde 1977 in den Dienst gestellt. Ein Jahr bevor die A-50 überhaupt zum ersten Testflug abhob. Die beiden Flugzeuge sehen sich auch verdächtig ähnlich, selbst die Abmessungen der A-50 stimmen mit jenen der E-3 Sentry grob überein.

Aber zurück zur Technik und der Rolle der Berijew A-50. Sie ist ein sogenanntes Frühwarn- und Überwachungsflugzeug oder AEW&C, Airborne Early Warning and Control, in Nato-Sprache. Und weil diese Bezeichnung nicht gerade leicht von der Zunge rollt, hat sich der Oberbegriff "Awacs" (Airborne Early Warning and Control System) durchgesetzt.

Diese Flugzeuge spielen in der Luftaufklärung ihre entscheidende Rolle. Durch ihre außergewöhnlich starken Radaranlagen können sie Ziele erfassen, während das Flugzeug selbst außer Reichweite der feindlichen Fliegerabwehr bleibt.

Ein Gebiet von der Größe Finnlands im Blick
Dafür braucht es eine ganze Menge Technik, weshalb als Basis für Awacs auch meist große Linien- oder Frachtflugzeuge dienen. Denn auch die Besatzung braucht eine Menge Platz: Während ein Jagdflugzeug von einem Piloten kontrolliert wird, haben Awacs eine Besatzung von 15 bis 20 Personen, je nach Typ. Im Fall der russischen A-50 sind es 15 bis 16 Crewmitglieder. Neben der üblicherweise dreiköpfigen Flugmannschaft, arbeiten im Rumpf Radar- und Überwachungstechniker. Deren Aufgabe ist es, feindliche Fluggeräte aufzuspüren. Unter Idealbedingungen können 650 Kilometer weit entfernte Luftfahrzeuge erfasst werden.

Für Bodenziele sinkt die Aufklärungsreichweite naturgemäß ab: Im Fall des Vega-M-Radars der A-50 sind das theoretisch etwa 300 Kilometer. Dieses Radar soll laut russischen Angaben bis zu 150 Luftziele gleichzeitig verfolgen können, wobei im Tracking-Modus die Reichweite auf 240 Kilometer sinkt. Große Zielobjekte, wie Kriegsschiffe, können auf eine Distanz von 400 Kilometern verfolgt werden. Insgesamt kann eine einzige A-50 eine Fläche von 330.000 Quadratkilometern abdecken, was in etwa der Größe Finnlands entspricht. Wichtig dabei ist die sogenannte "Look Down"-Fähigkeit, was es den Flugzeugen ermöglicht, auch extrem kleine Tiefflieger wie Drohnen zu erfassen, die mit bodengestütztem Radar kaum zu orten sind.

In Russland trägt das Flugzeug den Namen "Schmel", was so viel wie "Hummel" bedeutet, sich aber auf das Radar bezieht. Als Codename für die A-50 hat sich in der Nato "Mainstay" etabliert.

Komfort ist Nebensache
Gleichzeitig kann die Crew zehn Kampfflugzeuge gleichzeitig koordinieren und etwa Abfangkurse berechnen. Ohne externe Unterstützung durch Tankflugzeuge kann die A-50 vier Stunden lang mit einer Reichweite von 1.000 Kilometern von der Heimatbasis aus operieren und das bei einem maximalen Startgewicht von 190 Tonnen. Während die westliche Vorlage, die Boeing E-3 Sentry auf einem Passagierflugzeug, nämlich der Boeing 707 basiert, setzen die Russen bei ihrer Konstruktion auf die Il-76, ein Frachtflugzeug aus der Sowjetunion der 1970er-Jahre.

Das dürfte sich auch im Komfort für die Besatzung bemerkbar machen. Dass die A-50 für Fracht entworfen wurde, sieht man ihr an. Jedenfalls müssen die Mitglieder der Besatzung dicke Jacken tragen, weil es offenbar keine ausreichende Heizung gibt, und auch der Lärm dürfte nicht unerheblich sein, was auf X, vormals Twitter, bereits für Diskussionsstoff sorgte. Auch das Interieur dürfte nicht mit dem westlichen Pendant konkurrieren können.


Das Cockpit einer Berijew A-50.
RT


Zum Vergleich: das Cockpit einer E3A Sentry der Nato.
AWACS.NATO

Wie immer sind die russischen Angaben über die Leistungsfähigkeit des Kriegsmaterials mit äußerster Vorsicht zu behandeln. So behauptete die russische Propaganda, man sei auch in der Lage, Stealth-Flugzeuge wie den amerikanischen B2-Bomber zu erfassen. Ob diese Behauptung eine Grundlage in der Realität hat, ist mindestens zweifelhaft, denn Belege existieren dafür nicht.

Die russischen Streitkräfte sollen im November 2023 damit begonnen haben, die A-50 zur Identifikation von Zielen für die Boden-Luft-Raketensysteme vom Typ SA-21 zu identifizieren. Das Flugzeug soll also auch die eigene Luftabwehr anleiten, wie der britische Geheimdienst berichtet. Das ist nicht ganz überraschend, denn die Mainstay kann gegnerische Flugzeuge auf größere Entfernungen ausmachen, als das bodengestützte Radar der SA-21. Durch die Flughöhe kann die A-50 nämlich besser um die Erdkrümmung "herumsehen". Das britische Verteidigungsministerium geht davon aus, dass Russland diese Integration beschleunigt hat, als bekannt wurde, dass die Ukraine F-16 Kampfjets aus dem Westen erhalten wird.

Ein peinlicher Verlust
Wie genau es der Ukraine gelungen ist, eine A-50 abzuschießen, ist unklar. Man werde sich auch nicht zu dem "Wie" äußern, gab die Sprecherin des Kommandos Süd, Oberst Nataliya Humenyuk, bekannt. Klar sei nur, dass gleichzeitig auch eine Il-22, eine fliegender Kommandoposten, getroffen wurde. Das ist umso erstaunlicher, sollte die A-50 anfliegende Raketen eigentlich frühzeitig erkennen. Gleichzeitig verfügt die Maschine über Verteidigungsmaßnahmen wie Störgeräte, Düppel- und Täuschkörperwerfer. Wie all diese Systeme gleichzeitig versagen konnten, ist unklar. Fix ist jedoch, dass der Verlust einer A-50 für die russischen Luftstreitkräfte ein "operativ höchst bedeutsamer und peinlicher" ist, wie Justin Bronk, Luftfahrtspezialist des britischen Thinktanks Royal United Services Institute, gegenüber der BBC erklärt.

Wie viele A-50 die russische Luftwaffe noch hat, ist aktuell unklar. Bereits im Vorjahr wurde ein A-50 auf einem Flugplatz in Belarus von einer ukrainischen Drohne getroffen worden. Ob diese Maschine wieder einsatzfähig gemacht werden konnte, ist aktuell nicht bekannt. Es sei also durchaus möglich, dass die russische Armee nur noch über sieben Mainstays verfügt, wie der ehemalige Nato-General Erhard Bühler gegenüber dem MDR erklärte. Der Wert einer A-50 wird auf rund 330 Millionen US-Dollar geschätzt. Viel schmerzlicher für Russland dürfte aber der Verlust der 15-köpfigen Besatzung sein, denn die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten ist enorm zeitaufwendig und dauert mitunter Jahre, wie russische Quellen anmerken.
(Peter Zellinger, 18.1.2024)
Warum der Verlust einer Awacs-Maschine Russland extrem wehtut
 

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Viele offene Fragen nach Flugzeugabsturz über Belgorod
Russischen Angaben zufolge haben ukrainische Streitkräfte ein Transportflugzeug mit 65 Kriegsgefangenen an Bord abgeschossen. Kiew will den Vorfall prüfen.
Ein Bericht aus Moskau

Rauch nahe der Absturzstelle in Jablonowo in der Region Belgorod.
AP

65 ukrainische Kriegsgefangene sollten am Mittwoch im Raum Belgorod gegen russische Soldaten ausgetauscht werden. Per Flugzeug wollte man sie zum Kontrollpunkt Kolotilowka an der russisch-ukrainischen Grenze bringen, hieß es aus Moskau. Doch die Maschine stürzte gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit sechs Kilometer vor dem Dorf Jablonowo in der Region Belgorod ab. Ein Video, das vom Onlinemedium "Baza" auf Telegram veröffentlicht wurde, zeigt ein großes Flugzeug, das auf den Boden stürzt und in einem riesigen Feuerball explodiert. "Das Dorf wurde nicht beschädigt, da das Flugzeug auf ein Feld außerhalb des Dorfes stürzte", sagte der Ortspfarrer von Jablonowo der staatlichen Nachrichtenagentur Tass.

An Bord der Maschine vom Typ Iljuschin Il-76 seien insgesamt 74 Menschen gewesen, neben den 65 Kriegsgefangenen auch sechs Besatzungsmitglieder und drei weitere Personen, wie russische Nachrichtenagenturen unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau meldeten. Nach Angaben von Wjatscheslaw Gladkow, dem Gouverneur der Region Belgorod, hat niemand den Absturz überlebt.

Gefangenenaustausch geplant
Dass tatsächlich für Mittwoch ein Gefangenenaustausch geplant war, bestätigte inzwischen Andrij Jussow, der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Er würde nun nicht stattfinden, erklärte er gegenüber der ukrainischen Redaktion von Radio Free Europe / Radio Liberty. Insgesamt hätte es laut Medienberichten einen Austausch von 192 gegen 192 Gefangene geben sollen. Eine weitere Maschine vom Typ Il-76 mit 80 weiteren Gefangenen an Bord habe nach dem Absturz gewendet und sei sicher gelandet.

Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete den Absturz als Terroranschlag und beschuldigte das "Kiewer Regime", ihn verursacht zu haben. Das Flugzeug sei auf der Strecke Tschkalowski–Belgorod geflogen. Ukrainische Streitkräfte hätten das Flugzeug aus der Gegend von Liptsy in der Region Charkiw mit einem Flugabwehrraketensystem angegriffen. Das russische Radar habe "den Abschuss zweier ukrainischer Raketen beobachtet".

Fehlende Beweise
Die Iljuschin sei von der Ukraine mit westlichen Flugabwehrwaffen abgeschossen worden, behauptete der Chef des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolow, in Moskau. "Die ukrainische Führung wusste bestens über den geplanten Gefangenenaustausch Bescheid, wurde darüber informiert, wie die Gefangenen transportiert werden", sagte er. Beweise für seine Vorwürfe legte Kartapolow nicht vor, Kiew dementierte, vorab informiert worden zu sein. Laut Kartapolow wurde das Militärflugzeug mit drei Flugabwehrraketen entweder des US-Systems Patriot oder des deutschen Systems Iris-T abgeschossen. Beweise dafür gibt es gleichfalls keine. Wjatscheslaw Wolodin, der Vorsitzende des russischen Parlaments, kündigte eine Eingabe an den Deutschen Bundestag und den US-Kongress an. Der Schritt solle den Parlamentariern vor Augen führen, wem sie mit ihren Waffenlieferungen helfen, sagte Wolodin.

Auch das russische Außenministerium machte die Ukraine für den Absturz verantwortlich. Es handle sich um einen "barbarischen Terrorakt", heißt es in einer von der Nachrichtenagentur Tass zitierten Erklärung. Verantwortlich für den Abschuss des Transportflugzeugs sei "das Regime in Kiew", erklärt das Ministerium. Kiew habe sehr wohl gewusst, dass ein "militärisches Transportflugzeug ukrainische Soldaten zum Austausch auf einen Flugplatz in Belgorod bringen sollte".

Widersprüchliche Angaben
Aus Kiew kamen widersprüchliche Angaben. Zunächst meldete das Nachrichtenportal "Ukrajinska Prawda" unter Berufung auf Militärquellen, die ukrainische Seite bestätige den Absturz. Auch habe das ukrainische Militär von einem Abschuss des Flugzeugs gesprochen. Nach Angaben aus dem Generalstab habe das Flugzeug Flugabwehrraketen vom Typ S-300 an die Front bringen sollen. Aus dem ersten Bericht wurden Angaben zu einem möglichen Abschuss wieder herausgenommen. Auch gab es ukrainische Behauptungen, das russische Militär selbst habe das Flugzeug abgeschossen.

Dann meldete die Agentur Interfax Ukrajina unter Berufung auf Militärquellen, es sei ein Flugzeug durch ukrainische Streitkräfte abgeschossen worden – allerdings nach dessen Start von Belgorod. Die tatsächliche Absturzstelle lag nach russischen Angaben aber beim Ort Jablonowo. Dieser liegt 50 Kilometer nordöstlich von Belgorod wie auch etwa 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Auch das auf Telegram veröffentlichte Video deutet auf diesen Absturzort hin.

Der ukrainische Koordinierungsstab für die Angelegenheiten von Kriegsgefangenen äußerte sich nicht zum Absturz des Flugzeugs und zum Tod gefangener ukrainischer Soldaten. Man sammle und analysiere alle Informationen, teilte der Stab auf Telegram mit. Die Bürger sollten offizielle Mitteilungen abwarten. Zugleich betonte der Stab, dass Russland spezielle Informationskampagnen gegen die Ukraine führe, "um die ukrainische Gesellschaft zu destabilisieren".
(Jo Angerer aus Moskau, 24.1.2024)

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Warum Kiew nun in die Defensive gehen muss
Weil die Munition zur Neige geht, muss die ukrainische Armee wohl bis 2025 warten, bevor sie wieder angreift. Besonders erbittert wird in Awdijiwka gekämpft, das seit 2014 zur Bastion ausgebaut wurde
Im Donbass herrscht dieser Tage grimmiger Frost. Mitunter zweistellig rutscht die Temperatur in den langen Jännernächten unter null. An der Front, vor allem in Awdijiwka, kämpft die ukrainische Armee in der Eiseskälte verbissen dagegen an, von der russischen Winteroffensive überrollt zu werden. In immer neuen Angriffswellen versucht Russland die strategisch wichtige, mittlerweile weitgehend in Trümmer geschossene Ortschaft vor den Toren der Separatistenhauptstadt Donezk einzukesseln. Verluste spielen dabei kaum eine Rolle.

Seit dem Ende der für Kiew so enttäuschenden Gegenoffensive im Herbst hat sich ein Schwerpunkt der Kämpfe an der 1.200 Kilometer langen Front in die seit 2014 von der Ukraine zum Bollwerk gegen russische Angriffe befestigte Stadt verlagert. Von den 32.000 Menschen, die 2019 dort wohnten, dürften mittlerweile nur mehr etwa 1.300 ausharren. Während im Rest der Ukraine am Mittwoch seit 700 Tagen Krieg herrschte, sind es rund um Awdijwka bald zehn Jahre. Von April bis Ende Juli 2014 war die Stadt von prorussischen Truppen besetzt – und blieb nach der Befreiung durch die ukrainische Armee ein über die Jahre zur Festung ausgebauter Dorn im Auge der Separatisten und ihrer Moskauer Verbündeten.

Nachdem am Montag dutzende Menschen auf einem Donezker Markt von Granaten getötet wurden, beschuldigte die dortige prorussische Führung die Ukraine, die Stadt von Awdijiwka aus beschossen zu haben.

Entscheidende Schlacht
Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte bei einem Frontbesuch Ende Dezember, dass die Schlacht um die Stadt den Fortgang des gesamten Krieges bestimmen könnte. Fest steht, dass Kiews Armee so wie 2023 in Bachmut auch in Awdijiwka gegen einen Feind kämpft, der nicht nur bei Artilleriemunition aus dem Vollen schöpfen kann, sondern auch kein Problem mit Verlusten hat.


Der ukrainische Präsident hat kurz vor dem Jahreswechsel Awdijiwka besucht. Wolodymyr Selenskyj hält den Kampf um die Frontstadt entscheidend.
AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS

Weitläufige Datschenkolonien zeugen gerade im besonders bedrohten Süden der Stadt von dem einstigen Reiz des Donezker Vororts, in dem vor dem Krieg zudem eine bedeutende Kokerei für Arbeit sorgte. Die niedrige Bauweise der Häuser macht es den Verteidigern aber gerade dort schwer. Unweit der südlichen Stadtgrenze hatte sich die ukrainische Armee in dem idyllisch gelegenen Waldgasthaus Tsarska ohota, zu Deutsch Zarenjagd, jahrelang erfolgreich verbarrikadiert. Jüngst nahmen russische Truppen das strategisch wichtige Gelände doch noch ein.

Während die Ukraine mit Personalproblemen kämpft, hat Russland mittlerweile fast eine halbe Million Mann unter Waffen. "Man schätzt, dass Moskau täglich bis zu 1200 neue Soldaten rekrutiert. Das deckt die Verluste vermutlich weitgehend ab", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie dem STANDARD. Der Kommandant des ukrainischen Heeres, Olexander Syrskyj, nannte die Lage rund um Bachmut, Awdijiwka und Kupjansk "extrem gespannt".

Noch anschaulicher wird das Ungleichgewicht beim Thema Artilleriemunition. Russland dürfte 2023 im eigenen Land bis zu zwei Millionen Stück produziert und zudem eine Million aus Nordkorea importiert haben. Etwa 2000 Artilleriegeschoße verbrauche die ukrainische Armee derzeit pro Tag, schätzt Reisner, Russland hingegen 10.000. Und der Westen, von dessen Hilfe die Ukraine abhängig ist, kann der russischen Militärindustrie bisher kaum etwas entgegenhalten.

In Awdijiwka wirken sich diese Faktoren nun in voller Härte aus. Tausende Soldaten sind bereits gestorben – auf beiden Seiten. Zudem gibt es Berichte, wonach nun auch das seit 2014 von der Ukraine gehaltene Bollwerk Zenit, das in einer ehemaligen Luftabwehrstellung des Donezker Flughafens eingerichtet wurde, mehr und mehr unter Druck gerät. Von dort aus sind es nur mehr wenige Kilometer bis in das Stadtzentrum, dessen Einnahme ein wichtiger Prestigeerfolg wäre.


Schon im März 2023, als dieses Bild entstand, wurde intensiv gekämpft, insgesamt aber schon seit 2014.
AP/Evgeniy Maloletka

Moskau dürfte aber auch deshalb unablässig Soldaten in die Schlacht werfen, weil man den Preis für eine eventuelle nächste Offensive der Ukraine so hoch wie möglich treiben will. Auch die Luftangriffe mit Raketen und Drohnen in der Tiefe des Landes, die immer wieder auch weitab der Front im Osten zivile Ziele treffen, dienen nach Ansicht des Osteuropaforschers Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg diesem Zweck. Erst am Mittwoch starben bei Angriffen auf Kiew und Charkiw 18 Menschen. "Russlands Kalkül ist, die Industrie und die kritische Infrastruktur so stark zu zerstören, dass die Ukraine strategisch nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu regenerieren und den Krieg fortzusetzen." Dem stimmt auch Reisner zu: "Russland versucht, die Reserven der Ukraine abzunutzen und so deren Fähigkeiten, wieder in die Offensive zu gehen, zunichtezumachen." Auch weil die westlichen Waffen zu einem Teil bereits aufgebraucht sind und auch die Soldaten selbst geschont werden müssen, bleibe Kiew nichts anderes übrig, als sich in die Defensive zu begeben.

Mühsame Defensive
"Einerseits bedeutet Defensive, dass man an entscheidenden Punkten Abwehrsperren errichten dürfte. Dort, wo Russland gerade in der Offensive ist, könnte die Ukraine versuchen, dessen Truppen abzunutzen. Und der dritte Punkt sind Angriffe im russischen Hinterland und der Krim", sagt Graef. Die beiden zuletzt weit hinter der Front zerstörten russischen Flugzeuge, ein A50-Radarflugzeug und eine ebenso wichtige Iljuschin Il-22M11, sind für Graef Beispiele dafür. Ob die am Mittwoch abgestürzte Il-76 ebenfalls dazugehört, ist freilich unklar.

Um doch noch eine Wende in dem seit 700 Tagen tobenden russischen Angriffskrieg zu erwirken, hofft die Ukraine derweil auf weitere Waffenlieferungen aus dem Westen und will zudem auf eigene Rüstungsproduktion setzen. Frühestens 2025, so sagen Fachleute, könnte Kiews Armee dann wieder angreifen.
(Florian Niederndorfer, 24.1.2023)
Warum Kiew nun in die Defensive gehen muss
 

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"WAR THUNDER"
Wissen aus Videospiel half ukrainischer Bradley-Besatzung im Kampf gegen einen T-90
In einem ungleichen Duell konnte ein Bradley gegen einen deutlich überlegenen T-90 siegreich bleiben. Der Kommandant hatte in "War Thunder" geübt

Ein M2A2 ODSBradley der ukrainischen Streitkräfte mit einer 25-mm-Bushmaster-Kanone.
REUTERS/Serhii Nuzhnenko

Ein virales Video zeigt, wie ein russischer Panzer immer wieder getroffen wird. Immer wieder schlagen Geschoße an der Front ein, bis eine größere Explosion den stählernen Koloss endgültig außer Gefecht setzt. Ein einzelner M2 Bradley soll einen mächtigen T-90 im direkten Duell besiegt haben. Ein zerstörter russischer Panzer in den sozialen Medien ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 keine Seltenheit, die Frage ist das Wie.

Üblicherweise zeigen die Aufnahmen aber, wie russische Fahrzeuge von Drohnen, Artillerie oder Lenkraketen ausgeschaltet werden. Doch in diesem Fall scheint es sich um eine Maschinenkanone mit relativ kleinem Kaliber zu handeln. Theoretisch sollte ein russischer Panzer gegen derartigen Beschuss immun sein. Doch wie sich herausstellte, hatte der Kommandant des Bradley geübt – mit dem Videospiel "War Thunder".


Der russische T-90 gilt in der Propaganda als der beste Panzer im Arsenal der russischen Streitkräfte.
EPA/MARTIN DIVISEK

T-90 auf dem Papier weit überlegen
Doch der Reihe nach: Das Video dürfte in der Nähe der Ortschaft Stepowe im Süden der Ukraine entstanden sein, wie aus dem Kanal des Blogs Special Kherson Cat hervorgeht. Darin ist zu sehen, wie ein Schützenpanzer M2 Bradley einem Kampfpanzer vom Typ T-90 zuerst ausweicht und später das Feuer erwidert. Dabei könnte das Gefecht nicht unausgewogener gelaufen sein: Der T-90 trägt den Beinamen "Proryv", was so viel wie "Durchbruch" bedeutet. Der T-90 ist der modernste Kampfpanzer im aktiven Dienst der russischen Streitkräfte. Theoretisch soll der T-14 zwar den T-90 ablösen, von diesem dürften aber nur wenige Stück existieren und diese darüber hinaus in einem erbarmungswürdigen Zustand sein.

Russlands Diktator Wladimir Putin feierte den T-90 gar als den besten Panzer der Welt – eine Behauptung, die in der Realität eher wenig Bodenhaftung haben dürfte, wie die zweiköpfige Besatzung eines eigentlich unterlegenen Bradley bewies. So soll der T-90 dank seiner Verbundpanzerung eine Panzerungsstärke haben, die mindestens 800 Millimetern Panzerstahl entspricht. Dazu kommen noch Kontakt-5-Elemente. Dabei handelt es sich um Reaktivpanzerung. Diese ist mit Sprengladungen geladen und erzeugt bei einem Treffer eine Abwehrdetonation, die anfliegende Geschoße ablenken soll.

Mit einer 125-mm-Kanone, zusätzlichen Maschinengewehren und elektronischen Schutzmaßnahmen sollte der T-90 eigentlich feindliche Stellungen durchbrechen und in der direkten Auseinandersetzung mit den schwersten westlichen Kampfpanzern, also etwa dem Leopard 2 oder dem M1 Abrams, als Sieger hervorgehen, so zumindest die Theorie. Ein Panzerung eines Bradley hat dem eigentlich nichts entgegenzusetzen.

Wie ungleich das Match tatsächlich ist, wird umso deutlicher, wenn man den T-90 direkt mit dem Bradley vergleicht. Der M2 Bradley ist seit den 1980er-Jahren das Arbeitstier der US-Streitkräfte und gilt aufgrund seines Alters schon seit einigen Jahren als Kandidat für eine Ablöse. Im Vergleich zum T-90 ist der Bradley auch deutlich schlechter gepanzert: Seine Aluminium-Stahl-Hülle schützt gegen den Beschuss von Waffen mit dem Kaliber 30 Millimeter. Ältere Modelle halten überhaupt nur Beschuss von 14,5 Millimetern stand. Aber der Bradley ist auch gar nicht dafür gemacht, russische Kampfpanzer auszuschalten.

Es handelt sich bei dem M2 nämlich um ein sogenanntes Infantry Fighting Vehicle (IFV).Dessen Rolle ist es, sechs Infanteristen an die Front zu bringen und den Trupp so gut wie möglich zu unterstützen. Dafür steht dem Bradley eine Bushmaster-Maschinenkanone im Kaliber 25 Millimeter zur Verfügung. Diese ist aber zur Bekämpfung feindlicher leicht gepanzerter Ziele wie BMPs geeignet, quasi dem russischen Gegenstück zum M2. Die Standardmunition ist laut "Armyinform" gegen 70 Millimeter dicken Panzerstahl wirksam, ein T-90 sollte also immun gegen Beschuss sein.

Der Faktor Mensch
Aber technische Spezifikationen sind auf Quartettkarten wichtig, auf dem Schlachtfeld entscheidet immer noch der Faktor Mensch. Und der hieß in dem Fall Serhij, der Kommandant des M2, wie der ukrainische Sender TCH berichtet. „Im Training dachte ich noch: 'Gott behüte mich davor, dass ich einen Panzer sehe.' Dieser Albtraum sei aber Realität geworden. Gemeinsam mit dem Fahrer Oleksandr schlug Serhij einen T-90 im direkten Duell. Laut dem Bericht sei es einer anderen Einheit der ukrainischen Armee nicht gelungen, den T-90M zurückzudrängen, also wurden Serhij und Oleksandr in ihrem Bradley losgeschickt.

Serhij war erst im Dezember in die Ukraine zurückgekehrt, nachdem er sein Bradley-Training auf einem US-Stützpunkt in Deutschland absolviert hatte. Er und sein Fahrer waren erst auf der zweiten gemeinsamen Mission, als sie dem T-90M begegnet sind. Ihre Aufgabe war es, Infanteristen zu beschützen, die in einem Graben unter Beschuss von russischen Panzern gekommen waren. Warum Serhij die Rolle als Richtschütze und Kommandant gleichzeitig übernommen hat, ist unklar.

"Wir schossen mit allem, was wir hatten", erklärte Serhij dem Sender. Dann aber gab es Probleme mit der panzerbrechenden Munition. Ob es sich um eine Ladehemmung handelte oder die Munition schlicht ausging, ist nicht überliefert. Aber: "Weil ich Videospiele gespielt habe, habe ich mich an alles erinnert", erklärt der Kommandant und führt seine einschlägige Erfahrung in der Kampffahrzeugsimulation "War Thunder" ins Feld.

In dem Spiel des ungarischen Studios Gaijin werden Kampffahrzeuge enorm realistisch dargestellt. Wer in den höheren Ligen (Tiers genannt) die Oberhand behalten möchte, muss die Schwachstellen der Feindfahrzeuge kennen und diese gezielt unter Beschuss nehmen. So wusste Serhij, wo sich die empfindlichen Optiken des T-90M befinden, und nahm diese bewusst mit hochexplosiver Munition unter Beschuss, die Besatzung des russischen Kampfpanzers war quasi blind.

Das Videospiel "War Thunder" sorgt in Militärkreisen immer wieder für Kontroversen. Das liegt vor allem am dazugehörigen Forum, wo gerne intensiv über die Vor- und Nachteile von Militärfahrzeugen aus aller Welt gestritten wird. Dazu kommt, dass unter den Fans auffallend viele tatsächlich dem Militär und der Rüstungsindustrie angehören dürften. Nur so ist es zu erklären, warum das Entwicklerstudio Gaijin immer wieder Postings löschen musss, weil die User eigentlich geheime Unterlagen über Kriegsgerät veröffentlichen. Um in der digitalen Auseinandersetzung recht zu behalten, wurden etwa schon geheime Pläne von russischen Kampfjets oder britischen Panzern geteilt. Ganze 14-mal sind in den Foren schon geheime Militärdokumente aufgetaucht. So berichtet "t3n" davon, dass auch vom M2A2 Bradley bereits zwei Seiten aus dem Handbuch in dem Forum gelandet sind.

Dazu muss auch gesagt werden, dass laut Einschätzung westlicher Militärexperten längst ein Großteil der gut ausgebildeten und erfahrenen russischen Panzerbesatzungen gefallen sein dürfte. Die US-Nachrichtenseite "Forbes" beruft sich auf Zählungen von Analysten und berichtet, dass Russland im Februar 2022 mit 2.987 Panzern in die Ukraine einmarschiert sei. Davon sollen mittlerweile 2.619 Panzer zerstört, beschädigt, aufgegeben oder von ukrainischen Streitkräften gekapert worden sein. Anders als in eigenen gepanzerten Bereichen der westlichen Panzer wird die Munition russischer Panzer am Wannenboden und unter dem Turm gelagert. Das hat bei einem Treffer oft verheerende Konsequenzen für die Besatzung. Im Fall einer Detonation hat die meist dreiköpfige Crew keinerlei Überlebenschance.

Kritik am T-90
Auch wenn die russische Propaganda den T-90 anders darstellt, kann man das Fahrzeug eigentlich als Mogelpackung bezeichnen. Im Wesentlichen handelt sich doch um einen T-72, der mit der Feuerleitanlage eines T-80 ausgestattet wurde. Das alleine würde noch keine neue Modellbezeichnung rechtfertigen, und so wurde das Kampffahrzeug eigentlich auch T-72BU genannt. Doch dann brach der Zweite Golfkrieg aus, und russische T-72 mussten enorme Verluste hinnehmen, ohne auch nur einen einzigen US-Panzer zu vernichten. Unter anderem waren es auch Bradleys, die reihenweise T-72 ausschalteten, allerdings mit TOW-Raketen und nicht mit den Bushmaster-Kanonen.

Der Ruf des T-72 war also zerstört, weshalb Russland den T-72BU in T-90 umbenannte, um ihn auch weiterhin am internationalen Markt zu verkaufen. Größter Nutzer des T-90 ist übrigens Indien. Angeblich sollen dort mehr als 1.000 Stück der Exportvariante T-90S im Einsatz sein. Die Stückkosten dürften rund 6,7 Millionen Dollar betragen. Zum Vergleich: Ein alter M2 Bradley kostet mit 3,2 Millionen Dollar nicht einmal die Hälfte. Russland dürfte laut dem Militärblog "Oryx" mindestens 97 T-90 verloren haben.
(Peter Zellinger, 2.2.2024)
Wissen aus Videospiel half ukrainischer Bradley-Besatzung im Kampf gegen einen T-90
 

josef

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Laut Kiew weiteres russisches Kriegsschiff versenkt
Eine Bestätigung von russischer Seite steht noch aus. Nach ukrainischen Angaben ist indes auch eine Rakete in ein Krankenhaus in der Region Charkiw eingeschlagen

Die Lenkraketenkorvette Iwanowets.
via REUTERS/RUSSIAN DEFENCE MINI

Charkiw – In ihrem Abwehrkampf gegen die russische Marine will die Ukraine einen weiteren Erfolg im Schwarzen Meer erzielt haben. In der Nacht auf Donnerstag sei das Raketenschiff Iwanowets durch mehrere Seedrohnen versenkt worden, teilte der ukrainische Militärgeheimdienst am Donnerstag mit. Der Angriff sei an der Westküste der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim erfolgt. Von russischer Seite gab es bisher keine Bestätigung dieses Vorfalls.

Als Beleg zeigte Kiew ein Video, in dem nacheinander mehrere mit Sprengstoff beladene Seedrohnen auf das russische Kriegsschiff zusteuern und explodieren. Das Schiff habe Schlagseite bekommen und sei letztendlich gesunken.

Ukrainischer Geheimdienstchef: Werden Angriffe auf Russland ausweiten
Die Ukraine wird ihre Angriffe auf Russland nach Angaben des Chefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR ausweiten. "Die Zahl der Angriffe auf die russische Infrastruktur wird wahrscheinlich zunehmen", kündigte Kyrylo Budanow am Donnerstag im Onlinedienst Telegram an. Es sei "nützlich", dass die russische Zivilbevölkerung "die Realität des Krieges" sehe, erklärte er bei CNN. Als mögliche Angriffsziele nannte Budanow in seinem Online-Beitrag die wichtigsten "kritischen und militärischen Infrastrukturen in Russland". "

Die Ukraine wehrt seit fast zwei Jahren mit westlicher Hilfe eine russische Invasion ab. Das ukrainische Militär hat dabei mehrfach bereits russische Kriegsschiffe mit Raketen und Seedrohnen versenkt oder zumindest schwer beschädigt. Die russische Schwarzmeerflotte konnte damit weitgehend aus dem Westteil des Schwarzen Meeres verdrängt werden.


Angriff auf Krankenhaus in Charkiw
Eine russische Rakete ist nach ukrainischen Angaben in einem Krankenhaus in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine eingeschlagen. Vier Menschen seien leicht verletzt und 38 evakuiert worden, teilte der Gouverneur der Region, Oleh Synehubow, auf Telegram mit. Die Fassade, die Fenster und das Dach des Krankenhauses seien beschädigt worden. Russland seinerseits meldete knapp ein Dutzend ukrainischer Drohnenangriffe im Grenzgebiet.


Ein beschädigtes Gebäude in Charkiw.
REUTERS/STATE EMERGENCY SERVICE OF UKRAINE

Acht Drohnen seien über der Region Belgorod von der russischen Flugabwehr abgeschossen worden, zwei in Woronesch und eine in Kursk, teilte das Verteidigungsministerium am Donnerstag in Moskau mit. Über Opfer und Schäden war zunächst nichts bekannt.

Raketen auf Krim
Ob wirklich alle Geschoße im Anflug abgewehrt werden konnten, war zunächst nicht unabhängig überprüfbar. Die russische Seite meldet im Fall ukrainischer Drohnenattacken oft nur angebliche Erfolge der eigenen Luftverteidigung.

Erst am Mittwoch hatte die ukrainische Armee die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Schwarzmeerhalbinsel Krim massiv mit Raketen beschossen. Der ukrainische Luftwaffenkommandeur Mykola Oleschtschuk veröffentlichte daraufhin ein Video, das einen Treffer des russischen Luftwaffenstützpunkts Belbek unweit der Stadt Sewastopol zeigen soll. Auch in russischen sozialen Netzwerken wurde am Donnerstagmorgen unter Berufung auf anonyme Quellen die Vermutung geäußert, dass in Belbek eine ukrainische Rakete eingeschlagen sei. Unabhängig bestätigt ist das aber bisher nicht.

IAEA: Ukrainer dürfen Akw Saporischschja nicht mehr betreten
Unterdessen teilte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit, dass Angestellte des ukrainischen Energiebetreibers Energoatom das von Russland besetzte Atomkraftwerk Saporischschja seit Donnerstag nicht mehr betreten dürfen. Das Akw habe bekanntgegeben, dass fortan nur noch Mitarbeiter dort arbeiten werden, "welche die russische Staatsbürgerschaft angenommen und Verträge mit dem russischen Betreiber unterzeichnet haben".

IAEA-Chef Rafael Grossi will das Atomkraftwerk in der kommenden Woche besuchen. Dabei werde er weitere Informationen zu der "neuen Ankündigung" bezüglich des Personals anfordern, hieß es in einer Erklärung der Behörde. Es sei von entscheidender Bedeutung, "dass die Anlage über qualifiziertes Personal verfügt, um die nukleare Sicherheit zu gewährleisten", betonte Grossi.

Saporischschja ist das größte Atomkraftwerk Europas. Die russische Armee brachte die ukrainische Anlage bereits im März 2022 unter ihre Kontrolle. Die Atomzentrale geriet seither bereits mehrfach unter Beschuss, was die Angst vor einer nuklearen Katastrophe schürte. Zudem war das Kraftwerk mehrfach von der Stromversorgung abgeschnitten.
(APA, red, 1.2.2024)
Laut Kiew weiteres russisches Kriegsschiff versenkt
 

josef

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Ukraine verfügt als erste Armee der Welt über die "Frankenstein"-Bombe
Eine neuartige Mischung aus Rakete und Gleitbombe soll den Verteidigern bis zu 150 Kilometer Reichweite verschaffen. Dabei besteht die Waffe zur Hälfte aus eigentlich ausgemusterten Teilen

Die GLSDB kann von einem Werfer in einem Frachtcontainer gestartet werden. Das Waffensystem besteht aus einem alten Raketentriebwerk und einer Gleitbombe, die mit einem Adapter zusammengebaut wurden.
APA/AFP/SAAB

Seit Mittwoch verfügt die Ukraine über ein neues Präzisionswaffensystem in ihrem Arsenal. Damit rücken einmal mehr die Nachschublinien und das Hinterland der russischen Angreifer in den Fokus.

Einem Bericht von "Politico" zufolge ist die erste Charge sogenannter Ground-Launched Small Diameter Bombs (GLSDB) in der Ukraine eingetroffen. Dabei handelt es sich um eine von Boeing und Saab entwickelte Langstreckenwaffe mit einer Reichweite von etwas unter 150 Kilometern. Von Langstreckendrohnen einmal abgesehen, verdoppelt sich damit die Reichweite der ukrainischen Artillerie. Die Lieferung der GLSDB erhöhe die Fähigkeiten für Langstreckenangriffe der Ukraine massiv, so ein anonymer US-Behördenvertreter in dem Bericht.

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Die GLSDB ist eine Mischung aus Marschflugkörper und Gleitbombe. Zum Einsatz kommen zwei bereits bestehende Systeme, die erprobt, günstig sind und vor allem verfügbar sind.

Warum keine große Bombe?
Im Prinzip handelt es sich bei der Waffe um eine 250-Pfund-Bombe vom Typ GBU-39 Small Diameter Bomb. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich dabei um die mit insgesamt 129 Kilo kleinste Präzisionsbombe der US-Streitkräfte. Diese wurde 2006 eingeführt und erwies sich bislang als äußerst präzise. Nach dem Abwurf klappen Flügel aus, die der Bombe Gleiteigenschaften verleihen. Die Waffe kann so noch einmal knapp 100 Kilometer zurücklegen.

Durch Trägheitsnavigation und GPS werden die 23 Kilo Sprengstoff der Bombe auf einen Meter genau ins Ziel befördert. Aber warum eine so kleine Bombe? Die Antwort ist denkbar einfach: Weil sie ausreicht, um die meisten Ziele zu zerstören. So verfügt die GBU-39 über die gleiche Durchschlagskraft wie eine 907 Kilo (2.000 Pfund) schwere herkömmliche Bombe. Das reicht aus, um etwa 90 Zentimeter Stahlbeton zu durchschlagen.

Resteverwertung
Diese Bombe wurde nun mit einem Raketentriebwerk vom Typ M26 gekoppelt. Dabei handelt es sich eigentlich um eine ausgemusterte Rakete aus US-Beständen. Bislang haben die US-Streitkräfte hohe Entsorgungskosten bezahlt, nun findet sich in Form der GLSDB eine Letztverwertung als Antrieb für die Gleitbombe.

Die Neuentwicklung an der Waffe ist eigentlich der sogenannte Zwischenstufenadapter, der die Komponenten aus Gleitbombe und Raketentriebwerk miteinander verbindet und die Waffe in den Gleitflug übergehen lässt, wenn der Raketentreibstoff aufgebraucht ist. Das hat wiederum den Vorteil, dass M26-Rakete noch in großer Menge vorhanden ist. Mehrere Hunderttausend Stück sollen sich noch in den US-Arsenalen befinden.

Abgefeuert wird die GLSDB aus einem Himars-Werfer. Dabei handelt es sich um ein Mehrfachraketenwerfersystem, das auf einem Lkw montiert ist. Dieses erwies sich in der Vergangenheit bereits als sehr effektiv, um russische Versorgungslinien und Nachschubdepots anzugreifen. Tatsächlich war der Einsatz von Himars derart erfolgreich, dass Russland die Zerstörung der ukrainischen Systeme zur Priorität erklärte.

Aber: Die mit Himars der Ukraine abgefeuerten Raketen (M31 bzw. M30A1) haben "nur" eine Reichweite von 80 Kilometern. Die GLSDB soll diese Einsatzfähigkeit der Ukraine nun beinahe verdoppeln und Angriffe in die Tiefe der russischen Nachschublinien möglich machen. Somit wäre die neue Waffe das weitreichendste Artilleriesystem im Arsenal der Ukraine.

Start per Himars
Die neuentwickelte Bombe aus zwei bestehenden Komponenten kann auch von den bestehenden Himars-Werfern aus abgefeuert werden, damit muss die ukrainische Armee keine neuen Systeme adaptieren. Alternativ dazu können die Gleitbomben aber auch von einem Werfer gestartet werden, der in einen Standard-Schiffscontainer passt. Das wiederum könnte der Ukraine neue Möglichkeiten eröffnen, billige Ablenkungsmaßnahmen zu setzen. Schließlich könnten die Verteidiger Frachtcontainer in großer Zahl aufstellen. Die russischen Angreifer müssten Mensch und Material riskieren, um möglicherweise leere und billige Container anzugreifen.

Noch ist unklar, wie viel ein Stück der GLSDB kosten wird. Die US-Streitkräfte geben die Kosten einer GBU-39 mit rund 40.000 US-Dollar pro Stück an. Zum Vergleich: Eine M31-Rakete, wie sie üblicherweise mit Himars gestartet wird, kostet etwa 500.000 Dollar.


Ein Himars bei einer Übung in Lettland.
APA/AFP/GINTS IVUSKANS

GLSDB hat noch einen Vorteil: Durch die Steuerungsfähigkeit der Bombe kann sie Kurven fliegen. So könnten etwa auch hinter Hügeln oder Gebäuden versteckte feindliche Stellungen angegriffen werden. Außerdem kann die Bombe ihr Ziel erst überfliegen, dann umkehren und es von hinten angreifen.

Die Bombe kann wahlweise über dem Boden gezündet werden, was sie beispielsweise gegen Truppen in einem Schützengraben effektiv macht. Alternativ dazu kann sie die Zündung verzögern, damit sie erst detoniert, wenn sie ein Bunkerdach durchschlagen hat.

Nach Angaben von Saab kann die Waffe so programmiert werden, dass sich die Bombe einem Ziel aus jeder Richtung und aus verschiedenen Winkeln nähert, was Abfangmaßnahmen zusätzlich erschwert. Gleichzeitig kann die Bombe so schlechter geschützte Bereiche des Ziels angreifen, wie die "Kyiv Post" berichtet.

Die Ukraine ist die erste Nation, die GLSDB einsetzen wird, denn die Bombe ist offiziell bei den US-Streitkräften noch nicht im Einsatz. Dennoch soll die Waffe einsatzfähig sein, wie aus Tests der US Army hervorgeht.
(Peter Zellinger, 3.2.2024)
Ukraine verfügt als erste Armee der Welt über die "Frankenstein"-Bombe
 

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Ukraine
Soldaten filmen jedes Gefecht
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist der erste, bei dem eine internationale Öffentlichkeit „erste Reihe fußfrei“ sitzt, wie Oberst Markus Reisner im ORF-Topos-Interview sagt. Denn überall kursieren in sozialen Netzwerken – auch ganz öffentlich auf YouTube – brutalste Videos von Kampfhandlungen, Tod, Kriegsverbrechen und Folter, aufgenommen von Soldaten selbst.

Oberst Markus Reisner vom ÖBH kommentiert:
Die Aufnahmen stammen entweder von Helm- und Brustkameras der Soldaten beider Kriegsparteien oder von Drohnen. Einige wenige sind auf den Websites des ukrainischen und russischen Verteidigungsministeriums online. Auch dort sind Leichen zu sehen. Die meisten kursieren in geschlossenen, nicht wenige aber auch in offenen Telegram-Gruppen – frei und international zugänglich. Auf YouTube gibt es eigene Accounts, die für Videos Werbung machen, mit Titeln wie „Brutal Battle Ukrainians GoPro. 50 ruZZian soldiers Eliminated. Battle Analysis“.

Solche Videos werden dann auch im Forum unter Videos gepostet, in denen Egoshooter-Computerspiele gespielt werden – also Videos, die sich besonders viele Jugendliche anschauen. Tatsächlich weisen Egoshooter- und echte Videos von Kampfhandlungen große Ähnlichkeiten auf: Man sieht aus der Perspektive des Kämpfers, wie etwa ein Maschinengewehr aufgehoben wird, man hört eine Salve, sieht Patronenhülsen davonfliegen und einen Soldaten in zehn Meter Entfernung zu Boden stürzen.

Solche echten Videos vom Krieg werden mitunter auf YouTube ihrerseits von Werbungen für Egoshooter unterbrochen. Wenn es noch ein Symbolbild für die Entmenschlichung von Menschen im Krieg gebraucht hätte, hier wäre es.

Hinweis
Es wird ausdrücklich davor gewarnt, nach Videos aus dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu suchen oder sie anzuklicken, wenn man zufällig auf sie stößt. Das Material ist mitunter äußerst verstörend.



Ein Bild wie aus einem Egoshooter, hier zu sehen: Ein ukrainischer Soldat der Dritten Asowschen Brigade in einem Schützengraben während eines Gefechts gegen russische Wagner-Söldner

„Extreme Brutalität“
Oberst Reisner zeigt sich, konfrontiert mit solchen Videos, alles andere als überrascht. Auf seiner Festplatte befindet sich für jeden Tag seit Beginn des Krieges ein Ordner, in dem jeweils eine Handvoll, manchmal sogar Dutzende solcher Videos abgespeichert sind. Videos, die zum Teil so brutal sind, dass er sie nicht einmal dem Journalisten zumuten möchte. Auf den Videos von russischer Seite sind oft Folter und andere Kriegsverbrechen zu sehen, etwa die Erschießung von ukrainischen Soldaten, die sich eigentlich schon ergeben haben. Oder die Tötung von Soldaten, die Verletzte transportieren.

Ohne hier die Folter beschreiben zu wollen, stellvertretend eine Zahl, die eine Ahnung davon gibt, was auf den Videos zu sehen ist: Rund zehn Prozent der ukrainischen Soldaten, so Reisner, die aus russischer Kriegsgefangenschaft befreit werden oder zurückkehren, sind verstümmelt, viele schwer traumatisiert. Vergewaltigungen stehen an der Tagesordnung. „Extreme Brutalität“ durch russische Soldaten werde auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um sie in den neu besetzten Gebieten einzuschüchtern.

Drohnen, die Kamikazedrohnen filmen
Eine große Anzahl an Videos sind Drohnenaufnahmen. Es gibt Drohnen zu Aufklärungszwecken, sie filmen ein Schlachtfeld von oben und liefern so Echtzeitinformationen darüber, wo welcher Soldat im feindlichen Schützengraben sitzt, ob sich Panzer nähern und so weiter. Dann gibt es Drohnen, die Geschoße abfeuern bzw. Bomben und Granaten abwerfen, auch sie filmen, man sieht die Detonation und ihre Folgen. Und es gibt Drohnen, die selbst Waffen sind. Man sieht aus ihrer Perspektive Videos, die zeigen, wie sie sich auf ihre Opfer stürzen.

Reisner spricht von einer regelrechten Menschenjagd, die da zu beobachten ist. Drohnen filmen andere Drohnen, wie sie auf ihre Opfer zusteuern, dann Schnitt auf die Perspektive der Drohne, die als Waffe eingesetzt wird, dann wieder zurück zur Aufklärungsdrohne, die das Sterben der Soldaten filmt, manchmal sogar in Nahaufnahme. Ähnlich ist es bei den Videos von Helm- und Brustkameras, auch sie werden gegengeschnitten mit Drohnenaufnahmen, um eine Kampfhandlung von oben und dann auch noch aus nächster Nähe zu zeigen.


Drohnenaufnahme von einem Gefecht in einem Schützengraben

Die Karten liegen offen auf dem Tisch
So viel dazu, was auf den Videos zu sehen ist. Was sie brisant macht, ist längst nicht nur ihre verstörende Wirkung auf Zuschauerinnen und Zuschauer in unbeteiligten Ländern. Sie verändern auch völlig die Art und Weise, wie Krieg geführt wird. Denn Oberst Reisner ist nicht der einzige, der solche Videos sammelt und analysiert. Es gibt Telegram-Gruppen, wo Militärexperten, Journalistinnen und interessierte Laien sämtliche Informationen zusammentragen und so einen detailgetreuen Frontverlauf auf Landkarten bestimmen können.

Videos werden nach ihrer Analyse in diesen Karten genau dort eingefügt, wo sie aufgenommen wurden. Anhand der Waffengattungen bzw. des schweren Geräts können Experten wie er erkennen, welche Einheit hier kämpft, so Reisner. Und aufgrund der Topografie könne man den Ort der Videos mit Onlineabgleichen auf den Meter genau bestimmen. So wissen Experten oft bereits Tage, bevor Medien berichten, wo sich der Frontverlauf wie verschiebt.

Oberst Markus Reisner in seinem Büro in der Maria-Theresien-Kaserne
ORF Topos / Simon Hadler

Kriegsparteien wissen alles über den Gegner
Kürzlich publizierte die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, einer der einflussreichsten Thinktanks der Welt, einen Artikel des deutschen Bundeswehr-Majors und Digitalexperten Paul Strobel, in dem er genau erklärt, wie das technisch funktioniert. Auch er bestätigt, dass diese Informationen in einschlägigen Onlineforen jederzeit verfügbar sind. Das heißt natürlich auch: Sie sind für die Kriegsparteien abrufbar.
Nicht nur das. Auch Truppenbewegungen hinter der Front können nachvollzogen werden – zu Satellitenbildern gesellen sich heute die Drohnen- und Bodycam-Videos. Sprich: Jede Kriegspartei weiß haargenau in jedem Moment über jede Bewegung der Gegenseite Bescheid. Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum momentan die Ukraine und Russland in einem Stellungskrieg feststecken. Überraschungsangriffe seien mittlerweile so gut wie unmöglich, so Reisner.
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Bilder wie im Zweiten Weltkrieg
Das erklärt wiederum, warum der Krieg in den Bodycam-Videos aus den Schützengräben so aussieht, wie der Zweite und sogar der Erste Weltkrieg ausgesehen haben müssen, sagt Reisner. Er ist ein klassischer Artilleriekrieg und im Schützengraben ein Kampf Mann gegen Mann. Mit dem Unterschied, dass Soldaten sich nicht nur nach vorne, zum Gegner hin, orientieren, sondern auch versuchen, über sich Drohnen abzufangen – die wiederum ihrerseits von Soldaten im unmittelbaren Umkreis der Kampfhandlungen gesteuert werden. Selbstredend sind auch deren Unterstände ein Ziel für die Drohnen und das Artilleriefeuer der Gegner.

Ein ukrainischer Soldat der Dritten Asowschen Brigade in einem Schützengraben während eines Gefechts
Youtube.com/@resonanceinfo/3. Asowsche Brigade

All das sieht man ebenfalls in den Videos, und es bedeutet für beide Parteien große Verluste an Menschenleben. Im Militärsprech sind es „Humanressourcen“, und bei denen ist Russland klar im Vorteil. Erstens hat es mehr Einwohner, zweitens zögert die russische Armee auch nicht, ihre Soldaten als „Kanonenfutter“ einzusetzen. Die russischen Streitkräfte sind bei den Luftstreitkräften ebenfalls im Vorteil. Alle zehn bis 14 Tage ist ihnen ein größerer Luftangriff möglich. Dazwischen können sie hinter den Fronten mit weitreichenden iranischen Drohnen Versorgungslinien und Truppen angreifen sowie die ukrainische Flugabwehr abnützen.

Die Ukraine ist also dringend auf die Lieferung von Kriegsmaterial durch den Westen angewiesen, um diesen Nachteil zu kompensieren. Aber der Nachschub stockt, die Partner der Ukraine werden kriegsmüde. Europa und die USA sind in einem „Superwahljahr“. Rechte Parteien drängen darauf, die Unterstützung für die Ukraine einzufrieren.

Warum die Videos nicht unterbunden werden
Man könnte meinen, die Videos sind für beide Kriegsparteien jeweils von Nachteil, und davon ausgehen, dass beide Armeen versuchen, ihre Soldaten daran zu hindern, sie online zu stellen. Entsprechende Nachfragen von ORF Topos beim ukrainischen und beim russischen Verteidigungsministerium blieben eine knappe Woche lang (bis zum Erscheinen des Artikels) unbeantwortet. Das ukrainische Verteidigungsministerium hatte bereits davor auf eine Frage nach einem speziellen Video der Asowschen Truppen, die an der Front kämpfen, reagiert. Es wurde nicht bestritten, dass das Video echt ist, sondern nur mitgeteilt, dass es nicht „offiziell“ sei.

Die Soldaten zeigen in den Videos offen ihre Gesichter. Es wäre ein leichtes, sie zu identifizieren und zu bestrafen. Doch ihre Videos haben für die Armee eine wichtige Funktion – als Teil des Propagandanarrativs, schreibt der deutsche Militärdigitalexperte Strobel in seinem Text, und auch Oberst Reisner bestätigt: Besonders für die Ukraine ist es angesichts ihrer Unterlegenheit bei den Ressourcen wichtig, die Moral der Soldaten möglichst zu stärken.

Und auch in der Öffentlichkeit im Hinterland entsteht für die jeweilige Kriegspartei der Eindruck, die Truppen hätten alles im Griff, wenn man regelmäßig Videos sieht, in denen die Soldaten des eigenen Landes jene des Kriegsgegners überwältigen. Was die Ukraine betreffe, heilige da der Zweck die Mittel, findet Reisner, angesichts der Übermacht der russischen Streitkräfte und angesichts dessen, dass von russischer Seite ein Angriffskrieg geführt und regelmäßig Kriegsrecht mit Füßen getreten werde.
07.02.2024, Simon Hadler (Text, Gestaltung), ORF Topos, Paul Krehan

Links:

Oberst Markus Reisner
Artikel von Paul Strobel (Konrad-Adenauer-Stiftung)
ORF Topos
 

josef

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Wie die Ukraine mit umgebauten Jetskis Jagd auf russische Kriegsschiffe macht
Erstmals in der Geschichte wurde ein Kriegsschiff durch unbemannte Überwasserfahrzeuge versenkt. Hinter der Magura-Drohne steht der ukrainische Geheimdienst

Die russische Raketenkorvette Iwanowez ging unter, nachdem sie von sechs ukrainischen Seedrohnen getroffen worden war.
IMAGO

Zum ersten Mal in der Geschichte haben Seedrohnen ein Kriegsschiff versenkt. Alles, was dafür nötig war, waren sechs zu Drohnen umgebaute Jetskis, um die russische Raketenkorvette Iwanowez auf den Grund des Schwarzen Meeres zu schicken.

Die Videos sind spektakulär: In Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist zu sehen, wie ein kleines Boot auf ein russisches Kriegsschiff zurast. Gerade als der Bug den Schiffsrumpf berührt, reißt die Verbindung ab. Schnitt. Auf einer anderen Kameraperspektive ist zu sehen, wie das Schiff von einer gewaltigen Explosion erschüttert wird. Offenbar versucht die Besatzung an Bord der Raketenkorvette Abwehrfeuer zu geben, kleinkalibrige Geschoße schlagen rund um die Drohnen ein, die sich im Zickzackkurs ihrem Ziel nähern. Am Ende ist zu sehen, wie eine Drohne genau in ein gewaltiges Loch im Rumpf gesteuert wird, das wohl von einer vorigen Drohne gerissen wurde. Es kommt zu einer Explosion an Bord. Die Iwanowez sinkt. Ob oder wie viele Besatzungsmitglieder überlebt haben, ist unklar. "Eine Rettungsmission der russischen Angreifer war nicht erfolgreich", heißt es lediglich im Bericht des ukrainischen Geheimdienstes GUR.


Klar ist nur, dass das Kriegsschiff mehrere direkte Treffer von den Magura genannten Drohnen einstecken musste. Laut den vom ukrainischen Geheimdienst veröffentlichten Informationen fand der Angriff im Salzwassersee Donuslaw vor der Küste der Krim statt. Zehn Drohnen wurden eingesetzt, sechs trafen ihr Ziel und versenkten es. Magura steht für Maritime Autonomous Guard Unmanned Robotic Apparatus, hinter dem Akronym verbirgt sich technisch gesehen nichts anderes als ein zur Drohne umgebauter Jetski.

Die Drohne selbst ist mit 5,5 Meter Länge relativ klein, wendig und schnell. So kann die Magura eine Höchstgeschwindigkeit von 78 km/h (42 Knoten) erreichen. Die Größe des transportierten Sprengkopfs wird mit 200 Kilo angegeben. Zudem soll die Seedrohne über eine Reichweite von 800 Kilometern verfügen, wobei der tatsächliche Einsatzradius bei immer noch hohen 400 Kilometern liegen dürfte. Durch diese große Reichweite soll es den Drohnen auch möglich sein, in Küstenabschnitten der Ukraine zu patrouillieren.

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Umgebaute Jetskis
Die Kamikaze-Drohne wurde von der geheimen "Gruppe 13" des Geheimdienstes sowie dem ukrainischen Ministerium für digitalen Wandel entwickelt und erst im Juli 2023 erstmals öffentlich vorgestellt. Wie sich dann laut einem Bericht von CNN herausstellte, handelte es sich aber nicht um ein Ausstellungsstück, sondern bereits um ein voll einsatzfähiges Waffensystem. Tatsächlich steckt in dem umgebauten Jetski mehr Technologie, als das schlichte Äußere vermuten lässt. Die Drohne ist in der Lage, bis zu drei HD-Videostreams zu übertragen, die Steuersignale sind 256-Bit-verschlüsselt. Gesteuert wird die Magura entweder per Satellit oder optisch. Außerdem verfügt die Magura über Trägheitsnavigation. Ein Exemplar kostet aktuell rund zehn Millionen Hrywnja, das entspricht ungefähr einer Viertelmillion Euro.

Theoretisch wäre es möglich, die Drohne sogar mit 300 Kilo Sprengstoff zu beladen, was laut von CNN zusammengetragenen Informationen aus der Gruppe 13 aber nicht nötig sei. Selbst gegen die bestens gepanzerten Schiffe der russischen Marine hätten sich die Maguras in ihrer Standardkonfiguration als effektiv erwiesen. Durch die relativ geringe Größe sei es den Piloten der Magura möglich, jedes Kriegsschiff anzumanövrieren, heißt es von ukrainischer Seite.

Die Ukraine versucht seit Monaten mit Drohnen die russische Überlegenheit an Waffen auszugleichen. Drohnen werden mittlerweile als die entscheidende Waffe in dem Krieg gesehen, doch bislang waren mit dem Begriff eher unbemannte Flugobjekte gemeint. Mittlerweile kommen auch Boden- und nun auch Seedrohnen zum Einsatz. Mit Erfolg: Noch nie zuvor wurde ein Kriegsschiff von unbemannten Wasserfahrzeugen versenkt.

"Es sind diese unbemannten Systeme – wie Drohnen – zusammen mit anderen Arten von fortschrittlichen Waffen, die der Ukraine die beste Möglichkeit bieten, einen Stellungskrieg zu vermeiden, bei dem wir nicht im Vorteil sind", sagte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj.

Schwarzmeerflotte dezimiert
Mit der Zerstörung der Iwanowez ist ein weiterer Schlag gegen die ohnehin schon stark dezimierte Schwarzmeerflotte Russlands gelungen. Deren Flaggschiff, die Moskwa, wurde im April 2022 vermutlich durch fliegende Drohnen versenkt. Davor wurde ein Landungsschiff der Alligator-Klasse, die Saratow, getroffen. Auch die Minsk und die Nowotscherkassk wurden laut ukrainischen Quellen zerstört. Dazu kommen noch Angriffsboote, kleinere Landungsschiffe, Korvetten, das U-Boot Rostow am Don und mehrere Patrouillenboote. Laut dem britischen Geheimdienst dürfte die russische Schwarzmeerflotte bis Ende 2023 rund ein Fünftel ihrer Schiffe verloren haben.


Die Iwanowez bei einer Übung im Schwarzen Meer. Die Moskit-Antischiffsraketen sollen kleine bis mittlere Seeziele mit einem Treffer versenken können.
via REUTERS/RUSSIAN DEFENCE MINI

Bei dem jüngsten Verlust handelte es sich um eine Raketenkorvette. Diese mit 550 Tonnen Verdrängung relativ leichten Schiffe sind mit P270-Moskit-Raketen ausgestattet. Dabei handelt es sich um moderne Antischiffsraketen, die Hyperschallgeschwindigkeiten erreichen sollen. Diese Raketen sollen in der Lage sein, feindliche Kriegsschiffe von der Größe eines Zerstörers mit einem einzelnen Treffer zu versenken. Zudem ist es möglich, die Raketen mit dem Nato-Code SS-N-22 Sunburn mit nuklearen Gefechtsköpfen auszustatten. Mit diesen Waffen sollen ganze feindliche Flottenformationen vernichtet werden. An Sekundärbewaffnung verfügte die Iwanowez über zwölf Flugabwehrraketensysteme vom Typ Igla. Diese werden von einem fortschrittlichen Radarsystem gesteuert. Dazu kommen noch 76-mm- und 30-mm-Schnellfeuergeschütze zur Bekämpfung von Luft-, See- und Küstenzielen. Vor allem Letztere dürften vergeblich auf die ukrainischen Drohnen gefeuert haben. Die Iwanowez hatte eine Besatzung von 40 Mann.
(pez, 8.2.2024)
Wie die Ukraine mit umgebauten Jetskis Jagd auf russische Kriegsschiffe macht
 

josef

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KRIEG IN DER UKRAINE
Neue Methoden, neue Gefahren in Odessa
Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen griff Russland Odessa mit Drohnen an – mit einer neuen Taktik, die seinen Verteidigern zunehmend Probleme bereitet. Bericht aus Odessa

Die Zahl der Abschüsse russischer Drohnen in Odessa sinkt.
IMAGO/Yulii Zozulia

Odessa – Der Mann hatte offenbar genug und sich gedacht: Probieren kann man es ja. Kurz vor zehn Uhr Freitagabend mischten sich in Odessa kurzzeitig so ungewohnte wie seltsame Laute mit dem Lärm der anfliegenden Drohnen und dem damit einhergehenden Geschosshagel der Luftabwehr. Kurze Stöße mit ein paar Sekunden Abstand dazwischen, so wie sie bei Jagden zu hören sind. Die Aufklärung machte keine zehn Minuten später in den lokalen sozialen Medien die Runde und bestätigte den Verdacht. Ein Bürger der Hafenstadt hatte angesichts des zweiten schweren Angriffs binnen drei Tagen beschlossen, quasi seine eigene Luftabwehr zu bilden. Er hatte seine doppelschrötige Flinte geladen, war mit ihr auf den Balkon marschiert und hatte von dort das Feuer auf Russlands Drohnen eröffnet. Ob sein Bemühen von Erfolg gekrönt war, darf bezweifelt werden; aber als sich gegen Mitternacht auch der letzte Pulverdampfrest endlich gelegt hatte, war zumindest fix, dass Odessa in dieser Nacht seinem Ruf als Hort des Eigensinns und des schrägen Humors wieder einmal gerecht geworden war.

Die erste Welle der von der Krim übers Schwarze Meer geschickten Angriffsdrohnen hatte die Küste kurz nach halb neun erreicht. Was binnen der darauffolgenden Stunden passierte, illustriert beispielhaft, wie es den Russen mittlerweile zunehmend gelingt, den Verteidigern der Stadt ihre Arbeit zu erschweren. Von den insgesamt drei Angriffswellen – die letzte erfolgte kurz vor Mitternacht und richtete sich nicht gegen die Stadt, sondern die Kleinstädte am Südwestrand des Odessa Oblast, die die Donauhäfen beherbergen – zeichneten sich die ersten zwei durch ihre relative Unberechenbarkeit aus. Die eingesetzten Drohnen iranischer Bauart (Shahed 136/131) wurden nicht nur erst relativ spät entdeckt. Sie schienen auch keinerlei fixen Flugbahnen zu folgen. Über dem Festland angekommen, begannen sie ständig ihre Richtung zu ändern. Was unter anderem dazu führte, dass mindestens drei Drohnen, die zuvor übers Meer geflogen kamen, soweit ins Hinterland der Stadt vordrangen, dass sie plötzlich vom Norden her angriffen.

Ukrainische Luftabwehr zusehends überfordert
Für die Verteidiger ein neues Problem, auf das zuletzt auch die Mitarbeiter der ukrainischen Data Visualization-Firma Top Lead aufmerksam machten. Top Lead betreibt unter anderem den bekannten, kostenpflichtigen Dienst "UAWarInfographics". Laut einer aktuellen Aussendung der Firma sei die Abschussquote von Drohnen aufgrund der neuen Taktik im Sinken begriffen. Sukkus: Durch die immer bessere Tarnung und immer unberechenbareren Kurse, die sie einschlagen, sei die ukrainische Luftabwehr zunehmend überfordert.

Laut dem für die Verteidigung des südlichen Frontabschnitts verantwortlichen Operational Command South (OCP) und dem Büro von Odessas Militärgouverneur Oleh Kiper kam es bei den Angriffen vom Freitag zu vier Verletzten, drei davon schwer. Zudem wurden in Odessa und in den Donauhafen-Städten Izmail und Reni wieder mindestens ein Dutzend Gebäude zerstört oder schwer beschädigt, fast alle in Küstennähe.
(Klaus Stimeder aus Odessa, 10.2.2024)

Neue Methoden, neue Gefahren in Odessa
 

josef

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RÜSTUNGSINDUSTRIE
Taiwan gilt als Hauptlieferant für Russlands Rüstungsproduktion
Ein Bericht deckt auf, dass Russland das Gros seiner Hochpräzisionsmaschinen für die Waffenproduktion aus Taiwan bezieht – trotz Sanktionen und obwohl Taiwan enger US-Partner ist

Bei der Herstellung von Rüstungsgütern in Russland spielen taiwanische Hochpräzisionsmaschinen eine große Rolle.
EPA/RUSSIAN DEFENCE MINISTRY PRE

Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, waren sich viele Länder im Westen schnell darin einig, Sanktionen über Russland zu verhängen. Vor allem die sensible Rüstungsindustrie beziehungsweise Maschinen zur Waffenherstellung sahen strikte Exportblockaden in den USA, in EU-Ländern, Japan oder der Schweiz. Auch die kleine Insel Taiwan in Ostasien verurteilte den Überfall rasch. Taiwan liegt zwar weit von der Ukraine entfernt, doch auf der demokratisch regierten Insel war der Angriff eine Zäsur: Droht doch China seit Jahren damit, die Insel zur Not mit Gewalt an die Volksrepublik anzugliedern. Könnte sich Peking ein Vorbild an Moskau nehmen?

Allein schon wegen jener Drohgebärden sucht Taiwan Verbündete in Europa, und natürlich die Gunst der langjährigen Schutzmacht USA – Washington versorgt Taiwan bekanntlich seit Jahrzehnten mit schwerem Rüstungsgerät.

Und doch: Bis Jänner 2023 betrafen taiwanische Sanktionen gegen Russland Produkte der Chipindustrie, Telekommunikation oder der Luftfahrt, allerdings nicht Hochpräzisionsmaschinen, wie sie zur Waffenherstellung benötigt werden. Wie nun ein Bericht zweier Investigativmedien zeigt, ist Taiwan in den vergangenen Jahren so zum wichtigsten Zulieferer für derartige Maschinen in Russland avanciert. Manche der Maschinen sollen sogar an russische Raketenentwickler und Kernforschungsinstitute gegangen sein, wie das russische Medium "The Insider" und das taiwanische Medium "The Reporter" berichten.

Die Journalisten konnten die Handelsströme anhand von öffentlichen Datenbanken nachvollziehen. Manche ihrer Funde ließen sie sich durch Nachfragen bei den Unternehmen bestätigen, wobei vor allem taiwanische Firmen überraschend offen über die Deals sprachen.

Drehmaschinen, Bearbeitungszentren oder Funken-Erodiermaschinen – derartige Maschinen werden für die Herstellung so gut wie jeder Waffe im russischen Arsenal benötigt, beschreibt der Bericht. In Statistiken ist zu sehen, dass ab Februar 2022 deren Exporte zum Beispiel aus Deutschland nahezu versiegten, während sie in Taiwan stiegen.

So waren die qualitativ besten Maschinen – aus Deutschland, Japan und der Schweiz – nach dem Überfall auf die Ukraine nicht mehr für Moskau verfügbar. Mit China hatte Russland einen alternativen Zulieferer gefunden; die Qualität der Produkte ist aber minderwertig. Aushilfe schafften da die Produkte aus Taiwan, die zwar nicht so gut sind wie die der Konkurrenz, so der Bericht, aber immer noch besser als die chinesischen. Und sie konnten die längste Zeit legal erworben werden.

Maschinen an Raketenentwickler
Vor allem auf US-Druck hin verschärfte die Regierung in Taipeh Anfang 2023 aber ihre Exportschranken. Die meisten Hochpräzisionsmaschinen waren ab da tabu für Moskau. Immer noch fielen aber zum Beispiel Funken-Erodiermaschinen nicht darunter. So haben mindestens zwei staatliche Kerninstitute derartige Maschinen 2023 direkt aus Taiwan bezogen, wie der Bericht aufzeigt.

Aber auch bei den eigentlich sanktionierten Maschinen fanden Hersteller Schlupflöcher. Dabei dienen demnach vor allem Zwischenhändler in der Türkei und China als Vermittler. Und diese schneiden gut mit: Russische Abnehmer sind bereit, hohe Geldsummen zu zahlen. Eine Maschine, die eigentlich mit einer Preisspanne zwischen 60.000 und 180.000 US-Dollar gelistet ist, ging laut den Recherchen um knapp eine Million US-Dollar nach Moskau.

Türkei und China als Umschlagplatz
Russische Zolldokumente verzeichnen wiederum im Zeitraum zwischen März und September 2023 den Import von mindestens 193 Made-in-Taiwan-Bearbeitungszentren nach Russland. Die meisten davon, rund 80 Prozent, gelangten demnach über die Türkei und China ins Land. So gilt die Türkei als Hauptumschlagplatz: Taiwans Exporte derartiger Maschinen in die Türkei lagen in der ersten Jahreshälfte 2023 fast 50 Prozent über dem Wert des Vorjahres. Umgekehrt erhält Russland 40 Prozent der betreffenden Maschinen wiederum aus der Türkei.

In manchen Fällen konnten die Journalisten nachweisen, dass Produkte 2023 an den staatlichen Raketenhersteller Korporatsiya Kometa gingen, an das russische Lebedev Physical Institute und an das Budker Nuclear Physics Institute – und so möglicherweise im Ukrainekrieg Auswirkungen haben. Es sind alles Organisationen, die direkt oder indirekt unter US-Sanktionen fallen.

Grundsätzlich haben taiwanische Unternehmen immer wieder mit fragwürdigen Handelspartnern aufhorchen lassen, meint einer der Autoren des Berichts, Yian Lee, dem STANDARD gegenüber. Da gibt es Deals mit dem Iran oder auch Nordkorea. Auch der Maschinenhandel zwischen Russland und Taiwan ist nicht neu.

Taiwan will "braves Kind" sein
Taiwans spezieller Status sei dabei ausschlaggebend, meint Lee: Eben weil die Insel nur von wenigen Ländern voll anerkannt ist und keinen UN-Sitz hat, herrscht in Taiwan viel Spielraum. "Taiwan will aber anerkannt werden, also versuchen wir, den internationalen Standards zu folgen und ein 'braves Kind' zu sein", sagt Lee.

Ein Grund dafür, warum Taiwans erste Sanktionswelle im Vergleich zu anderen Ländern lax ausfiel, könnte laut Lee der ohnehin angeschlagene Markt gewesen sein. Anfang 2022 kämpfte die taiwanische Industrie demnach mit starker und billiger Konkurrenz aus Japan: Durch einen günstigen Yen konnte Kunden in Japan billig bei gleichzeitig höherer Qualität einkaufen. Für Moskau war mit Februar 2022 damit Schluss. In Taiwan fand man da plötzlich "eine der letzten verbleibenden Optionen", so Lee.

Das taiwanische Wirtschaftsministerium reagierte vergangene Woche mit neuen Sanktionen auf den Bericht. Nicht zuletzt wolle man, so eine Erklärung, den Ruf taiwanischer Unternehmen schützen. Strafen für illegale Exporte nach Russland wurde um das 15-Fache erhöht. Aktuell sind demnach in Taiwan rund 1.900 Organisationen mit Verbindungen nach Russland sanktioniert.
(Anna Sawerthal, 12.2.2024)
Taiwan gilt als Hauptlieferant für Russlands Rüstungsproduktion
 

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SCHWARMTAKTIK
Nato-Staaten wollen tausende KI-gestützte Drohnen an die Ukraine liefern
Die Drohnenschwärme sollen sich selbstständig auf die russischen Angreifer stürzen. Wann sie genau eingesetzt werden können, ist noch unklar

Ein ukrainischer Soldat der Artillerieaufklärung macht eine Shark-Drohne einsatzbereit.
REUTERS/ALINA SMUTKO

Russlands angebliche Stärke in der Rüstungsproduktion macht sich bemerkbar, und die Ukraine braucht dringend Nachschub. Deshalb arbeitet Großbritannien nun mit mehreren Ländern, darunter auch die USA, zusammen. So sollen KI-fähige Drohnen entwickelt werden, die zu tausenden gegen russische Ziele ausschwärmen und sie autonom angreifen sollen, wie Bloomberg unter Berufung auf Insider berichtet.

Die Idee der Militärstrategen: Die Drohnen sollen in Schwärmen die russische Abwehr sättigen und so überwältigen. Die Fluggeräte könnten schon innerhalb weniger Monate in die Ukraine geschickt werden, heißt es weiter, gleichzeitig wird aber auch gewarnt, dass sich der Zeitplan verschieben könnte.

Wettrüsten im Drohnensektor
Drohnen haben im russisch-ukrainischen Krieg zunehmend an Bedeutung gewonnen, und ein globaler Wettlauf um die Entwicklung neuer Technologien ist im Gange. Schon jetzt ist klar: Drohnen werden in Zukunft die Kriegsführung prägen. Russland steigert seine eigene Produktion von Kampfdrohnen und hat umfangreiche Lieferungen von seinem Verbündeten Iran erhalten. Dessen Shahed-Drohnen wiederum sind auf westliche Teile angewiesen, die unter Umgehung von Sanktionen in den Iran gelangen.

Innerhalb eines Jahres soll eine Million Drohnen als Militärhilfe an die Ukraine geliefert werden. Deren Streitkräfte haben erst in der Vorwoche erneut ein russische Landungsschiff mit der Hilfe von Drohnen versenkt. In der Woche davor wurde eine russische Raketenkorvette von Drohnen getroffen und sank. Dafür setzt die Ukraine aber keine unbemannten Flugkörper, sondern Seedrohnen vom Typ Magura ein. Dabei handelt es sich im Grunde um stark modifizierte Jetski.

Die neuen Drohnenfähigkeiten ersetzen zwar nicht den dringenden Bedarf an Granaten, können aber dazu beitragen, einen Teil dieses Defizits auszugleichen und eine neue Dynamik auf dem Schlachtfeld zu schaffen, so die Teilnehmer.

Große Flotten
Die KI-fähigen Drohnen würden in großen Flotten eingesetzt werden und miteinander kommunizieren, um feindliche Stellungen zu bekämpfen, ohne dass jede einzelne von einem menschlichen Bediener gesteuert werden muss, wird ein Insider zitiert. Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, erklärte gegenüber Bloomberg, dass der Einsatz von Drohnen in Kombination mit künstlicher Intelligenz in der Ukraine erfolgreicher sein könnte als Artilleriegeschütze gegen die Russen.

Die Idee ist, eine möglichst einfache Drohne mit simpler Kamera so zu verbessern, dass sie mithilfe von Software und vielen anderen Drohnen einen Schwarm bilden kann. Möglich wäre, dass ein menschlicher Pilot eine Art Leitdrohne steuert und den nachfolgenden KI-Drohnen Ziele vorgibt, die diese dann autonom bekämpfen.

Aktuell sind vor allem sogenannte FPV-Drohnen in der Ukraine gefragt. Diese werden aus der Egoperspektive mit einem Headset gesteuert, daher die Abkürzung FPV für First Person View. Meist handelt es sich um zivile Modelle, die mit Granaten ausgestattet wurden. Der Vorteil dieser Art von Drohnen: Sie können zielgenau in offene Luken von Panzern oder in Unterstände manövriert werden, wo sie ihre verheerende Wirkung entfalten. (pez, 19.2.2024)
Nato-Staaten wollen tausende KI-gestützte Drohnen an die Ukraine liefern
 

josef

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IN PATT GEFANGEN
Ukraine geht in drittes Kriegsjahr
Der Krieg in Europa ist wieder zum Dauerzustand geworden. Am 24. Februar begeht die Ukraine den zweiten Jahrestag des russischen Überfalls. Vor allem die zurückliegenden zwölf Monate zeigten, dass es kein rasches Ende geben wird. Die ukrainische Gegenoffensive gilt als gescheitert, die Unterstützung im Westen wackelt.
Online seit gestern, 23.32 Uhr
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„Wir haben überlebt. Wir wurden nicht besiegt. Und wir werden alles dafür tun, dieses Jahr zu gewinnen.“ Diese Worte richtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar vor einem Jahr an seine Landsleute. Botschaften wie diese sind zum täglichen Brot für Selenskyj und die Bevölkerung geworden, allabendlich gibt der Präsident online Updates zum Krieg und versucht, den Optimismus zu halten.

Die tatsächliche Lage allerdings gibt dazu wenig Anlass. Fachleute sind sich einig: Ukrainisches und russisches Militär haben sich in eine Pattstellung manövriert, doch Russland sitzt am längeren Ast. Der Kreml spielt auf Zeit, während der Nachschub für die Ukraine zunehmend langsamer ans Ziel kommt.

Schock und Trotz
Das erste Kriegsjahr war vor allem vom Schock begleitet, wie es dazu kommen konnte. Trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor zehn Jahren hatte kaum jemand den Überfall auf das ukrainische Festland vorhergesehen. Russland scheiterte an seinen Plänen, die Ukraine im Blitzkrieg zu nehmen.

Selenskyj, der gleich zu Beginn der Kampfhandlungen hätte gefangen genommen werden sollen, wandelte sich zum Kriegsherren. Die Ukraine stellte sich als überraschend wehrhaft heraus, doch Massaker wie in Butscha, die wochenlange Schlacht um das Stahlwerk Asow-Stahl in Mariupol und die Annexionen der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zehrten an mentalen und physischen Kräften.

Durchhalteparolen dominieren
Das zweite Kriegsjahr war entsprechend von Durchhalteparolen geprägt. Im Frühjahr des vergangenen Jahres nahmen die Invasionstruppen Bachmut ein. Früher lebten hier gut 70.000 Menschen, nach langen, blutigen Kämpfen ist die Stadt in der Oblast Donezk dem Erdboden gleich. Auch Kiew wurde im Frühjahr nächtelang beschossen, zeitgleich griff Russland verstärkt die ukrainische Infrastruktur an.

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APA/AFP/Energoatem
Es war ein Tiefpunkt des vergangenen Kriegsjahres: Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und des angrenzenden Wasserkraftwerks
APA/AFP
Hunderte Quadratkilometer Land wurden geflutet

APA/AFP/Planet Labs
Der Damm diente auch der Trinkwasserversorgung und der Bewässerung des südlichen Teils der Ukraine, der bereits zu den trockensten Gebieten des Landes zählte

APA/AFP/Oleg Tuchynsky
Der Stausee lieferte auch das Kühlwasser für das von der russischen Armee besetzte Atomkraftwerk Saporischschja

Einschneidend für das gesamte Land war der Kollaps des Kachowka-Staudamms, der den Dnipro zu einem riesigen See aufstaute. Das dazugehörende Wasserkraftwerk wurde zerstört, Unmengen Wasser strömten den Dnipro hinab und überfluteten weite Teile der Oblast Cherson.
Beide Kriegsparteien machten den jeweils anderen verantwortlich. Die Zerstörung des Damms hatte laut UNO schwerwiegende Folgen für Tausende Menschen auf beiden Seiten der Front sowie auf Tier- und Umwelt.



Copernicus Sentinel, Copernicus Sentinel
Satellitenbilder des Kachowka-Stausees einen Tag vor und zwei Wochen nach der Zerstörung des Staudamms

Ein Söldner rebelliert
Auch wenn sich das Kriegsglück für die Ukraine nicht einstellen wollte, für Aufsehen sorgte zumindest Schützenhilfe von gar unerwarteter Richtung: Im Sommer rebellierte der Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, der zuvor schon die russische Militärspitze monatelang öffentlich kritisiert hatte. Er wollte seine Wagner-Söldner bei einem „Marsch der Gerechtigkeit“ gen Moskau führen. Die Söldner nahmen auch Rostow am Don ohne Widerstand ein, wo das russische Militär sein Hauptquartier für den Krieg in der Ukraine hat.

Fotostrecke
APA/AFP/@ Razgruzka_vagnera/Telegram
Ein Söldner will eigene Wege gehen: Jewgeni Progoschin, bekannt als „Putins Koch“, hat im Juni 2023 für internationales Staunen gesorgt, als er sich gegen den Kreml gewandt hat. Per Telegram ließ er die Welt wissen, seine Wagner-Truppe fühle sich von der Armee im Stich gelassen. Er habe 25.000 Mann unter Befehl, die nun aufzuklären hätten, warum solch eine Willkür im Land herrsche, so drohte Prigoschin.
APA/AFP/Various Sources
Noch am Abend des 23. Juni leitete der Geheimdienst FSB Ermittlungen gegen Prigoschin wegen versuchten bewaffneten Aufstands ein. Prigoschin erklärte, es handle sich um keinen Militärputsch, sondern einen „Marsch der Gerechtigkeit“, den er nun Richtung Moskau unternehmen werde.

APA/AFP/Natalia Kolesnikova
In der folgenden Nacht wurde Prigoschin im Staatsfernsehen als in Ungnade gefallen bezeichnet.

Der FSB rief die Wagner-Kämpfer dazu auf, ihren Chef festzusetzen. Im Stadtzentrum Moskaus tauchten gepanzerte Fahrzeuge auf, wichtige Einrichtungen wurden verstärkt unter Bewachung genommen. Prigoschin gab kurz darauf bekannt, dass seine Kämpfer die Grenze Richtung Rostow am Don überschritten hätten. Man habe militärische Einrichtungen besetzt, darunter das regionale Hauptquartier und den Flugplatz. Am Morgen des 24. Juni rief das Verteidigungsministerium die Wagner-Kämpfer zum Aufgeben auf. Sie seien von Prigoschin in ein „kriminelles Abenteuer“ gezogen worden. Putin kündigte in einer fünfminütigen TV-Ansprache die Bestrafung von „Verrätern“ an, ohne Prigoschin beim Namen zu nennen. Prigoschin aber widersprach: Seine Männer seien „Patrioten“. Die Wagner-Söldner würden ihren Kampf fortsetzen und sich keinesfalls ergeben.


APA/AFP/Alexander Nemenov
Die Wagner-Söldner kamen auf ihrem Marsch etwa auf halbem Weg nach Moskau zum Stehen. Hinter den Kulissen wurde unter Vermittlung des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko verhandelt.

Alexander Lukaschenko teilte schließlich überraschend mit, dass Prigoschin zur Aufgabe bewogen worden sei. Prigoschin bestätigte die Einigung per Sprachnachricht, der Vormarsch war beendet. „Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück.“ Der Kreml stellte seinerseits das Strafverfahren gegen Prigoschin ein. Der Wagner-Chef selbst ging zunächst nach Belarus.


APA/AFP/@grey_zone/Telegram
Das Ende vom Lied: Im August, kaum zwei Monate nach dem abgebrochenen Aufstand, kam Prigoschin beim Absturz eines Wagner-Flugzeugs ums Leben. Auch Prigoschins Vertrauter Dmitri Utkin befand sich unter den Opfern.

Wenige hundert Kilometer vor Moskau aber stoppte Prigoschin die Rebellion, mit der er die Absetzung der offiziellen Militärführung erreichen wollte. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko vermittelte daraufhin zwischen Putin und Prigoschin, der Söldnerchef floh nach Belarus ins Exil und kehrte wenig später wieder nach Russland zurück. Lange währte Prigoschins Freiheit nicht. Am 23. August starb er beim Absturz seines Flugzeugs – unter nicht geklärten Umständen.

Krieg der Abnützung
Die lang erwartete Gegenoffensive der Ukraine hatte schon im Frühsommer begonnen, doch ist sie nie richtig in die Spur gekommen. Im Herbst unternahmen die russischen Streitkräfte die stärksten Angriffe seit Jahresbeginn, Ziele waren Odessa, Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine. Damit nimmt Russland der Gegenoffensive vollends den Wind aus den Segeln. Angriff folgte auf Gegenangriff, die Front verharrt seit Monaten an Ort und Stelle.

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Kriegshandlungen in der Ukraine (und auf der Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde) von 24.2.2022 bis 16.2.2024 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED nach Art der Gefechte

Fachleute sprachen spätestens ab diesem Zeitpunkt von einem Stellungs- oder Abnützungskrieg, bei dem die Ukraine die schlechteren Karten hat. Die westlichen Verbündeten wurden langsam kriegsmüde, der Nachschub an Waffenlieferungen fing an zu stocken. Die USA schafften es wegen innenpolitischer Konflikte nicht, sich auf neue Ukraine-Hilfen zu einigen.

EU gibt Perspektive
Ein Lichtblick für die Ukrainerinnen und Ukrainer folgte jedoch am 8. November, als die EU-Kommission Beitrittsgespräche empfahl. Im Dezember fiel in Brüssel die Entscheidung, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ein tatsächlicher EU-Beitritt der Ukraine liegt noch in weiter Ferne, doch erhielt das Land eine neue Zukunftsperspektive.

Das russische Militär überzog die Ukraine auch am Ende des Jahres mit seriellen Drohnenangriffen, bei denen auch wiederholt Wohnhäuser getroffen wurden. Die Kleinstadt Awdijiwka in der Oblast Donezk wurde so vollkommen zerstört. Nach monatelangen Kämpfen fiel die Stadt Anfang des Jahres schließlich Russland zu. Inzwischen ist knapp ein Fünftel des Landes von russischen Truppen besetzt.

Konflikt mit Heeresspitze
Am Ende der gescheiterten Gegenoffensive schien die Geduld in Kiew zur Neige zu gehen, Konflikte zwischen politischer und militärischer Führung wurden augenscheinlich. Nach monatelangen Spekulationen bildete Selenskyj die Militärspitze um und ersetzte den Armeechef, Waleryj Saluschnyj, durch Olexandr Syrskyj, der bis dahin Chef der Bodentruppen war. Ob das der Ukraine in ihrem dritten Kriegsjahr den erhofften Erfolg bringen kann, wird abzuwarten sein. Der Munitionsmangel der Ukraine könnte die Pattsituation auf dem Schlachtfeld bald zugunsten Russlands beenden, so Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.

Hinzu kommt die Ermüdung der ukrainischen Soldaten. Wegen des großen Bedarfs gibt es kaum Aussicht auf Besserung. Die Angehörigen verlangen ein Recht auf Rotation und eine Entlassung für Langzeitdienende und machen immer häufiger bei Demonstrationen ihrem Ärger Luft.
Frisch veröffentlichte Zahlen der UNO zeigen das Ausmaß der Zerstörung, die zwei Kriegsjahre brachten. Seit Beginn der russischen Invasion wurden in der Ukraine mehr als 10.200 Zivilisten getötet und mehr als 19.300 verletzt – soweit die offiziellen Zahlen. 6,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flohen in andere europäische Staaten, 3,7 Millionen begaben sich innerhalb der Ukraine auf die Flucht.
24.02.2024, smek, ORF.at/Agenturen

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In Patt gefangen: Ukraine geht in drittes Kriegsjahr
 

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EINSTIGES FERIENPARADIES
Ein Lokalaugenschein auf der annektierten Krim
Ende Februar jährt sich der russische Einmarsch auf der Krim zum zehnten Mal. Während Kiew auf die Rückeroberung pocht, haben sich viele Russen dort gemütlich eingerichtet
Reportage
Russische Kriegspropaganda ist auf der seit 2014 besetzten Krim allgegenwärtig. Hier wird an den Weltkrieg erinnert.Angerer Joachim
Anreise zur Halbinsel Krim, völkerrechtlich betrachtet ukrainisches Staatsgebiet. Heute aber russisch, umkämpft. Es wäre so einfach: Simferopol hat einen hochmodernen Flughafen, ein kurzer Flug aus Moskau. Doch der ist gesperrt, es ist Krieg.


Russische Kriegspropaganda ist auf der seit 2014 besetzten Krim allgegenwärtig. Hier wird an den Weltkrieg erinnert.
Angerer Joachim

Anreise zur Halbinsel Krim, völkerrechtlich betrachtet ukrainisches Staatsgebiet. Heute aber russisch, umkämpft. Es wäre so einfach: Simferopol hat einen hochmodernen Flughafen, ein kurzer Flug aus Moskau. Doch der ist gesperrt, es ist Krieg.

tattdessen über 27 Stunden mit dem Zug, über Woronesch, Rostow am Don und die Krim-Brücke, mehrfach von ukrainischen Truppen angegriffen. Vor der Überfahrt wird die Unterseite des Zuges kontrolliert. Terroranschläge sind nicht auszuschließen.

Zerrissene Familien
Die junge Frau im Abteil erzählt, sie arbeite in Moskau, fahre jetzt zurück auf die Krim, wo sie lebe. Es sei ein "Bruderkrieg", meint Alexander, Rechtsanwalt aus Moskau, im Speisewagen. "Meine Verwandten leben in der Ukraine. Die Familie ist zerrissen. Sie reden nicht mehr miteinander."

Zerrissene Familien, es ist auch der Alltag in Simferopol, der Hauptstadt der "Republik Krim". "Ich bin mit meinem Leben heute sehr zufrieden", meint Alexej, 42 Jahre alt, gegenüber dem STANDARD. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, wohnt in einem Vorort von Simferopol. In der Ukraine habe er zahlreiche Verwandte, erzählt Alexej, doch die hätten seit Kriegsbeginn jeden Kontakt mit ihm und seiner Familie abgebrochen. "Ich habe gar nichts gegen Ukrainer, ich spreche auch Ukrainisch, sehe mich aber selbst als Russe – als Teil der russischen Welt."

Alltag auf der Krim
Simferopol wirkt mittlerweile wie eine ganz normale russische Stadt. An die frühere Zeit erinnert nur wenig. Sogar Straßen wurden umbenannt. Es gibt eine Fußgängerzone, in den Geschäften und Supermärkten ist alles vorhanden. Die Restaurants, die Kaffeehäuser und die Bars in der Stadt sind abends gut mit Kundschaft gefüllt. Alltag. Nur wenige russische Soldaten sind zu sehen, ab und zu dröhnen in der Ferne die Motoren von Militärflugzeugen. "Es ist ruhig hier", sagt ein junger Mann auf der Straße. "Wir spüren hier vom Krieg nichts."

Auf Bussen und Plakatwänden wird für die Präsidentschaftswahlen im März geworben. Auch auf der seit 2014 annektierten Krim wird gewählt. Ende Februar jährt sich der Einmarsch russischer Truppen zum zehnten Mal. Der Einmarsch jener "grünen Männer" in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen. Russische Truppen auf der Krim? Präsident Wladimir Putin leugnete das damals lange, heute erinnert ein Denkmal an die "grünen Männer". Es ist mit Blumen geschmückt. Wladimir Putin ist allgegenwärtig in Simferopol. Zu sehen ist er auf einem Wandgemälde, sein Name steht auf einem schon verblichenen Plakat vor der prächtig restaurierten Alexander-Newski-Kathedrale. "Der Wiederaufbau dieser Kirche erfolgte durch den russischen Präsidenten W. W. Putin", kann man da lesen.

Früher leichter
Über den Krieg, die Annexion sprechen die Menschen in der Stadt nur ungern. Zurück zur Ukraine? Politisch nahezu undenkbar. Aber darüber reden? Die Marktfrau an ihrem Stand preist ihr Obst und Gemüse an. Doch mehr will sie nicht erzählen. Der 76-jährige Sergej ist da gesprächiger. "Natürlich war es vorher besser, weil Frieden war. Jetzt ist Krieg. Eigentlich sollten wir friedlich miteinander leben. Es ist schlimm, dass unsere russischen Soldaten sterben", sagt er dem STANDARD. Und, so ergänzt er: "Es ist nicht ungefährlich, zu sagen, was man denkt, das war früher leichter. Jetzt ist Krieg – und man muss sehr aufpassen, was man sagt. Vorher gab es mehr Freiheit, zu sagen, was man denkt." Wirtschaftlich gehe es ihm besser als früher, erzählt Sergej. Rund 200 Euro Rente hat er jetzt im Monat. Früher, als die Krim noch ukrainisch war, sei es wesentlich weniger gewesen.

Viele der Krim-Bewohner haben ukrainische und russische Wurzel. Ob die Krim nun ukrainisch ist oder russisch, Politik spielt kaum eine Rolle für den 35-jährigen Maxim. Seit allerdings die Krim zu Russland gehöre, sei einiges im Alltag besser geworden, erzählt er. "Die Parks werden gepflegt. Die öffentlichen Anlagen, die Straßen. Da werden Dinge auch repariert." Aber auch Nachteile habe Russland gebracht. Das Schlimmste in der neuen Zeit sei die Bürokratie. "Es gibt alle möglichen Gesetze, man muss ständig Formulare ausfüllen. Das war zu ukrainischen Zeiten nicht der Fall." Als junger Mann kann man heutzutage umgerechnet 400 bis 600 Euro verdienen, so Maxim. Das sei schon in Ordnung – wenn nur das Wohnen nicht so teuer geworden wäre. Eine Wohnung zu kaufen, davon kann er nur träumen. Bis zu 1000 Euro kostet hier der Quadratmeter.

Schwarzmeerflotte im Visier
Deutlich näher am Krieg ist einige Dutzend Kilometer weiter die Hafenstadt Sewastopol. Hier ist die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Schon seit der Zarenzeit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb die Flotte hier, auch als die Krim noch nicht von Russland annektiert war. In den Buchten von Sewastopol kann man die grauen Kriegsschiffe sehen, Fotografieren ist allerdings streng verboten. Vor allem der September und Oktober im letzten Jahr seien schlimm gewesen, erzählt Irina, eine Bewohnerin der Stadt. "Es gab sehr viel Luftalarm, immer wieder die sonore Männerstimme per Lautsprecher, die vor Gefahr warnt."

Irina war gerade in der Stadt unterwegs, als Ende September vermutlich eine Storm-Shadow-Rakete britischer Bauart das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte traf. "Es gab einen Riesenknall", erzählt Irina und deutet auf das zerstörte Gebäude. Es habe Tote gegeben, viele Verletzte.


Auch der berühmten "grünen Männchen", die vor zehn Jahren ohne Hoheitsabzeichen auf der Halbinsel einfielen, wird gedacht
Angerer Joachim

Wachsende Stadt
Die ukrainischen Angriffe hätten inzwischen abgenommen, so Irina. Ihre Heimatstadt boomt seit der Annexion, die Einwohnerzahl habe sich fast verdoppelt. In der Stadt und ihren Vororten leben fast 420.000 Menschen. Sie fühle sich wohl in Sewastopol. Für ihre 1983 geborene Tochter allerdings sei es schwierig. "Für sie ist durch die Annexion eine Welt zusammengebrochen." Irinas Tochter hat studiert, war zu Ukraine-Zeiten geboren, wollte nach Kiew gehen. Da habe sie als ethnische Russin kaum noch eine Chance.

Dass sich die Krim wirtschaftlich gut entwickelt, bestätigt auch Sergej Aksjonow, der Regierungschef. Die Krim sei "eine sich entwickelnde russische Region. Tatsächlich sind wir heute immer noch eine subventionierte Region, aber trotzdem vervielfachen wir unser Einkommen im Vergleich zu 2014." Vor allem der Tourismus soll Geld bringen.

Speziell in Jalta, der Touristenstadt, wird viel gebaut. Schon zu Sowjetzeiten war Jalta für seine Sanatorien berühmt. Durch den Bau der Krim-Brücke, über den Flughafen von Simferopol, soll der Touristenstrom aus Russland dorthin kommen – nach dem Krieg. Man setze auf "Gastronomie, Wein, Berge und Wandern", so die Pressestelle. Alexej, Taxifahrer in Jalta, sieht die Zukunft nicht ganz so rosig. Die Preise für Lebensmittel seien gestiegen, krank werden dürfe man nicht, wegen der teuren Medikamente. "Ich wünsche mir Stabilität, Frieden und keine Sorgen mehr, ob ich mein Brot kaufen kann", sagt er.

Russen zieht es auf die Krim
Viele Russen, die es sich leisten können, wollen sich auf der Krim ansiedeln. In wunderschöner Landschaft mit subtropischem Klima. Bis 2030 soll der Wohnungsbau auf jährlich eineinhalb Millionen Quadratmeter steigen, 55 Prozent der Bildungseinrichtungen seien seit 2014 saniert worden, man habe Kindergärten und Schulen neu gebaut.

Alina in Simferopol, 32 Jahre alt, profitiert davon. Sie lebt in einer Neubauwohnung, für 36 Quadratmeter hat sie rund 72.000 Euro bezahlt. Die junge Frau arbeitet im Staatsdienst. Der Verdienst sei nicht allzu hoch, in der Privatwirtschaft würde sie mehr verdienen, sagt sie. Aber Alina scheint zufrieden. "Ich bin glücklich, habe eine neue Wohnung, lebe viel besser als früher. Es gibt einfach mehr Möglichkeiten." Und der Krieg? Flugzeuge höre sie manchmal, das sei etwas laut.

Aber sonst? "Mir ist schon klar", gibt sie dem STANDARD-Reporter noch mit auf den Weg, "die Wirkung im Ausland ist so, als ob es hier kein Leben mehr gibt. Als ob alle wegen des Kriegs fliehen würden von der Krim." Dem sei natürlich nicht so.
(Jo Angerer von der Halbinsel Krim, 24.2.2024)
Ein Lokalaugenschein auf der annektierten Krim
 

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ZWEI JAHRE UKRAINEKRIEG
Fünf Thesen, wie es in der Ukraine weitergehen könnte
Vor genau zwei Jahren entfesselte der russische Machthaber Wladimir Putin mit seinem Großangriff auf die Ukraine den verheerendsten Landkrieg in Europa seit 1945. Was Fachleute für das dritte Kriegsjahr prognostizieren

Der russische Überfall hinterlässt in weiten Teilen der Ukraine nichts als Tod und Verwüstung.
IMAGO/ZUMA Wire

Waffen: Technologische Innovation für Kiew
Mit historischen Ereignissen, sagt Markus Reisner, sei es so eine Sache: Im Nachhinein betrachtet stellten sie sich häufig als logisch dar, mitunter gar als vorhersehbar. Seit zwei Jahren erklärt der Analyst von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, unter anderem im STANDARD, Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Seine Lehre daraus: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie folgt oft denselben Mustern."

Etwa was die Lage an der Front betrifft. War es im Ersten Weltkrieg der damals neu erfundene Panzer, der etwa an der deutschen Westfront ein Patt löste, könnte es 2024 abermals eine technologische Innovation sein, die wieder Bewegung in den festgefahrenen Abnutzungskrieg bringt. "Das Problem ist, dass es Russland besser als der Ukraine gelingt, das elektromagnetische Feld zu stören, in dem die gegnerischen Drohnen operieren."

Gut möglich, sagt er, dass das Ringen um das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in den USA irgendwann als weitere historische Wegmarke bewertet wird – vergleichbar mit dem Abzug der russischen Invasionstruppen vor Kiew 2022 und der gescheiterten Gegenoffensive 2023. Je nachdem, ob es von Donald Trumps Getreuen im Repräsentantenhaus weiter blockiert oder schließlich doch noch beschlossen wird, könnte sich an dem Votum in Washington das Schicksal der Ukraine entscheiden: "Wenn die Munition nicht geliefert wird, ist unter Umständen ein Dammbruch möglich."

Fest stehe, dass die Ukraine den Nachschub besser heute als morgen brauche, um dem russischen Druck zu widerstehen. Nach der US-Wahl könnte es dafür zu spät sein, fürchtet Reisner: "Denn wir wissen nicht, ob die Russen dann nicht schon am Dnjepr stehen."

Rückeroberungen: Geländegewinne unwahrscheinlich
Zwei Jahre nach Kriegsbeginn hält Russland nach wie vor ein gutes Fünftel des ukrainischen Territoriums besetzt. Dass sich daran 2024 viel ändert, ist unwahrscheinlich – sei es in die eine oder in die andere Richtung.

Während Kiews Armee 2022 bedeutende Rückeroberungen gelangen, etwa im Norden bei Charkiw und im Süden bei Cherson, blieben ähnliche Erfolge 2023 aus. Schlimmer noch für die Ukraine: Heuer könnte eine umgekehrte Dynamik entstehen, sagt Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München: "Wenn nicht genug Munition an die Front kommt, wird man gezwungen sein, Städte im Osten aufzugeben" – so wie Awdijiwka, das vergangene Woche geräumt wurde.

Anders als 2023 lautet die Devise nun nicht mehr Angriff, sondern Verteidigung: "Bisher war Kiew sehr erfolgreich mit seiner Strategie, den Russen so hohe Verluste wie möglich zuzufügen. Von jetzt bis etwa September wird es aber eine sehr kritische Phase geben, in der die Ukraine zur aktiven Verteidigung übergehen muss, also die eigenen Stellungen ausbaut und zugleich versucht, die russischen Nachschublinien zu treffen."

Weil aber bis heute nicht die entsprechenden Waffen geliefert wurden, um weit entfernte Depots zu treffen, etwa deutsche Taurus-Marschflugkörper, ist Kiew weiter zu bloßen Nadelstichen verdammt. Frühestens im Herbst werden die ukrainischen Rüstungsfabriken selbst genügend Munition produzieren können, um die schwindenden Lieferungen aus dem Westen auszugleichen, so Masala. Anders als Russland vor einem Jahr können sich die ukrainischen Verteidiger nun außerdem nicht so tief an ihren Linien eingraben, weil der Feind sie dabei bisher erfolgreich etwa mit seiner Luftwaffe stört.

Aufklärung: Drohnen lähmen den Krieg
Dass der Krieg um die Ukraine heuer entschieden wird, glaubt auch Walter Feichtinger nicht. Der ehemalige Bundesheer-Brigadier leitet heute das Center für Strategische Analysen (CSA) in Wien. Für einen großen Vorstoß fehle derzeit sowohl der Ukraine als auch Russland das Potenzial. "Ich erwarte für 2024, dass die Kontaktlinie weitgehend hält, dass die Kämpfe in hoher Intensität weitergeführt werden und dass die strategische Luftkriegsführung in der Tiefe weitergeht", sagt Feichtinger. Kurz: Eine militärische Entscheidung, die dann zu einer politischen Lösung führen könnte, sei nicht in Sicht.

Die schon heute an der Front omnipräsenten Drohnen dürften im Laufe des dritten Kriegsjahrs aber noch an Bedeutung gewinnen. Sowohl die russische als auch die ukrainische Armee setzt eine massive Zahl unbemannter Flugkörper ein, beide investieren zudem intensiv in Forschung und Weiterentwicklung, sowohl was die sogenannten First-Person-View-Drohnen betrifft, die direkt auf das Gefechtsfeld wirken, als auch jene, die hunderte Kilometer in die Tiefe fliegen können. "Die Drohnen lähmen den Krieg, weil sie beiden Seiten erlauben, jegliche Veränderungen in den gegnerischen Truppen sofort zu sehen."

Die Luftwaffe und -abwehr bleibe vorerst die große Schwachstelle der Ukraine, die vom Westen versprochenen F-16-Jets würden daran nicht viel ändern – so sie denn überhaupt bald einsatzbereit seien.

Die Moral der von Russland so brutal überfallenen Bevölkerung sei aber noch immer hoch, sagt Feichtinger. Russlands Luftkampagne gegen die Infrastruktur habe seiner Ansicht nach nicht zu der vom Kreml erhofften Zermürbung der Ukrainerinnen und Ukrainer geführt: "Der Kampf geht weiter."

Geopolitik: Abnutzungskrieg bis zur Wahl in den USA
In einer Prognose sind sich schließlich alle Fachleute einig, mit denen DER STANDARD für diesen Ausblick gesprochen hat: Das Schicksal der Ukraine wird in diesem Jahr nicht nur an der Front und in den Kommandozentralen in Kiew und Moskau entschieden, sondern auch in Washington. Schon jetzt bereitet die Blockade in Washington Kiews Strategen Kopfzerbrechen. Was passiert, sollte Trump tatsächlich wieder Präsident werden, weiß im Moment niemand so genau. Und bis dahin?

"Der Abnutzungskrieg wird wohl bis zur US-Präsidentschaftswahl weitergehen. Danach werden die Karten neu gemischt", sagt der emeritierte Historiker Herfried Münkler von der Humboldt-Universität in Berlin. Die Zeit der ukrainischen Gegenoffensiven dürfte aber vorbei sein – jedenfalls vorerst. Die Devise heißt nun Konsolidieren. "Die Waffenlieferungen, die 2024 wohl noch kommen werden, können zwar die Defensivkraft erhöhen, aber keine Offensiven mehr zulassen." Münklers Prognose für die kommenden Monate: Beide Seiten dürften einander da und dort in kleineren Angriffen austesten, aber keine großen Durchbrüche probieren.

Denn auch die russische Führung stehe seiner Ansicht nach vor dem Problem, keine Generalmobilmachung durchführen zu können, ohne den Unmut in der Bevölkerung zu groß werden zu lassen. Darum kann auch das weit größere Land nicht aus dem Vollen schöpfen, was die Zahl seiner Soldaten betrifft: "Ich gehe davon aus, dass Wladimir Putin dies auch nach der Präsidentschaftswahl nicht wagen wird. Anhand des Zuspruchs für den nun ausgeschlossenen Kandidaten Boris Nadeschdin, der gegen den Krieg aufgetreten ist, hat er deutlich gesehen, dass dies gefährlich für ihn werden könnte."

Diplomatie: Selenskyj kämpft um Aufmerksamkeit
So gut wie ohne Pause kämpfen zehntausende ukrainische Soldaten seit Beginn des Krieges an der Front. Darüber, wie viele zudem bisher getötet oder verletzt wurden, gibt die ukrainische Führung offiziell keine Auskunft. In Kiew demonstrieren Frauen und Mütter der Kämpfer daher seit Monaten für eine bessere Rotation der Truppen. Dass der Druck durch die russischen Invasoren zuletzt aber immer größer wird, erschwert nach Ansicht der Berliner Osteuropa-Expertin Sarah Pagung von der Körber-Stiftung die so dringend nötige Regeneration der ukrainischen Armee: "Die Herausforderung für die nächsten fünf bis sieben Monate ist es nun, dass aus diesem Druck keine größeren Geländegewinne für Russland resultieren und sich die Ukraine gleichzeitig erholen kann." Sollten dann auch die Lieferungen aus dem Westen wieder ansteigen, könnte sich die Lage 2025 auch wieder zugunsten Kiews drehen. "Das sind natürlich viele Wenns", räumt Pagung ein.

Sollten die USA ihre Unterstützung hingegen mittel- und langfristig substanziell kürzen, geriete die angegriffene Ukraine massiv unter Druck. "Europa kann das allein kaum ausgleichen", so die Forscherin. Zudem bestehe auch die Gefahr eines Dominoeffekts, schließlich könnten sich dann auch europäische Staaten dem US-Fatalismus anschließen, wie Pagung es nennt. Die Zusagen für weitere Lieferungen hielten den rhetorischen Unterstützungserklärungen schon jetzt längst nicht mehr stand.

Und: "Für (Präsident Wolodymyr, Anm.) Selenskyj dürfte es schwieriger werden, die Ukraine auf der Agenda der internationalen Politik oben zu halten, weil es nun auch andere Themen gibt, die auf diesen Bühnen besprochen werden, etwa der Krieg in Nahost."
(Florian Niederndorfer, 24.2.2024)
Fünf Thesen, wie es in der Ukraine weitergehen könnte
 

josef

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MAIDAN 2014
Wo Putins Krieg gegen die Ukraine begann
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Am Wochenende wurde des zweiten Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine gedacht. Tatsächlich aber begann der Krieg schon vor zehn Jahren: Im Februar 2014 ließ die Regierung des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch die Proteste auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, brutal niederschlagen. Nur Tage später schickte Russland Soldaten auf ukrainisches Territorium und annektierte die Krim.
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Schon seit Monaten hatten im Februar 2014 Zehntausende Menschen auf dem Maidan gegen ihre Regierung und für eine Annäherung an die Europäische Union demonstriert, Protestlager errichtet. Janukowitsch hatte sich zuvor dem Druck des Kreml gebeugt und sich geweigert, ein langwierig ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben. Als Janukowitsch den Protest mit Gewalt niederschlagen lassen wollte, schwoll der Unmut an. Forderungen nach seinem Rücktritt wurden immer lauter.

Mit den Wochen wuchs die Brutalität der Sicherheitskräfte, auch die Protestierenden radikalisierten sich. Sie bewaffneten sich mit Baseballschlägern, Eisenstangen, teils auch Schusswaffen. Am 20. Februar 2014 gipfelte die Gewalt in einem Blutbad: Scharfschützen der Sicherheitskräfte eröffneten rund um den Maidan das Feuer. Etwa 100 Menschen wurden getötet, viele weitere verletzt.

Reuters/Yannis Behrakis
Der Maidan im Zentrum Kiews war Ende Februar 2014 nur noch ein Trümmerfeld

Blutbad besiegelt Janukowitschs Herrschaft
Noch am selben Abend versuchte Janukowitsch die Lage unter Kontrolle zu bringen, indem er bei Gesprächen mit europäischen Außenministern einen Deal aushandelte: Er sollte vorerst im Amt bleiben, aber Konzessionen machen und später freiwillig zurücktreten. Doch das war nicht mehr machbar, der Staatschef hatte die Kontrolle über seinen Sicherheitsapparat verloren. Janukowitsch erklärte seine vom ukrainischen Parlament per Mehrheitsbeschluss vollzogene Absetzung für rechtswidrig, verließ in der Nacht auf den 22. Februar Kiew und floh mit russischer Hilfe nach Moskau.
Die russische Staatsführung bezeichnete die Vorfälle auf dem Maidan als einen von den USA und der EU geförderten Putsch militanter Ultranationalisten. „(Präsident Wladimir, Anm.) Putin sah im Maidan sicher gar nicht so sehr ein ukrainisches Event, sondern einen hybriden Angriff des Westens gegen Russland und gegen ihn, gegen sich selbst“, sagte Christian Esch, damals Korrespondent der „Berliner Zeitung“ in Moskau, heute „Spiegel“-Korrespondent für Osteuropa.

„Grüne Männchen“ auf der Krim
Putins Antwort folgte prompt: Ende Februar 2014 besetzten bewaffnete und maskierte Männer in Uniformen ohne Hoheitszeichen Parlament und Gebietsverwaltung auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Putin gab später zu, dass es sich bei den „grünen Männchen“, über die der Westen anfangs noch rätselte, um russische Soldaten handelte. Im März ließ Russland auf der Krim ein international nicht anerkanntes Referendum über den Anschluss an Russland abhalten und gliederte sie am 21. März offiziell als Landesteil ein.

Reuters/Baz Ratner
Vor dem Parlament der Krim in Simferopol treffen am 26. Februar 2014 Russlands Fürsprecher und Gegner aufeinander

„Anti-Terror-Operation“ im Donbas
Ebenfalls im März 2014 intervenierten in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, die gemeinsam als Donbas firmieren, russische paramilitärische Gruppen und riefen zwei „Volksrepubliken“ aus. Im Mai sagte der frisch gewählte ukrainische Präsident Petro Poroschenko, dass „Krieg“ in der Ostukraine herrsche, und verstärkte die militärische „Anti-Terror-Operation“.

Doch die ukrainische Armee stieß auf erbitterte Gegenwehr der separatistischen Milizen. Wer an deren Seite kämpfte, war zu dem Zeitpunkt gar nicht klar: Nach unterschiedlichen Berichten handelte es sich um desertierte Soldaten der ukrainischen Armee, ehemalige Spezialkräfte der Sonderpolizei Berkut und des Geheimdienstes SBU ebenso wie um Söldner aus Russland, darunter Tschetschenen. Im Sommer schickte Russland auch eigene Truppen in den Donbas.

„Aber im Vergleich zur Krim war Russlands Einwirkung im Donbas(s) weniger direkt. Es gab kein festes Drehbuch, sondern Raum und Zeit für Improvisation, und es gab auch kein festes Ziel. Es ging darum, die Unruhe in der Ostukraine zu radikalisieren und in Gewalt zu verwandeln. Dann konnte man weiterschauen“, schrieb Journalist Esch. Das Kalkül ging auf, UNO-Zahlen zufolge starben allein zwischen 2014 und 2018 fast 12.500 Menschen in der Region.

APA/AFP/Ria-Novosti/Alexey Druzhinin
Putin begutachtet im Mai 2014 seine Kriegsschiffe vor der Krim

Zahnlose Protokolle von Minsk
Nach dem schnellen Vorstoß der Separatisten im Donbas wurde nach Lösungen auf dem Verhandlungstisch gesucht. Im September einigten sich die Ukraine, Russland, die Separatisten und die OSZE auf das Protokoll von Minsk (Minsk I). Es sah nicht nur einen Waffenstillstand vor, sondern legte auch weitreichende Maßnahmen für eine friedliche Lösung fest.

Der Waffenstillstand wurde zwar nicht vollständig umgesetzt, die Kampfhandlungen ließen vorübergehend aber deutlich nach – bis im Jänner 2015 die Separatisten begannen, den Donezker Flughafen zu erobern und es auch an anderen Stellen zu verstärkten Kämpfen kam. Am 12. Februar 2015 kam auf Initiative Deutschlands und Frankreichs ein neues Waffenstillstandsabkommen zustande: Minsk II. Auch dieses Abkommen bestand bald nur noch auf dem Papier.

Grafik: APA/ORF; Quelle: Le Monde/ISW

Schaute der Westen zu lange weg?
Der Krieg im Donbas blieb jahrelang eingefroren, bis zum 24. Februar 2022, als Putin der gesamten Ukraine den Krieg erklärte. Ob der Westen über Jahre hinweg zu blauäugig war und die Gefahr, die vom Kreml-Chef ausging, unterschätzte, lässt sich heute schwer beantworten. Nicht einmal Osteuropa-Experte und Maidan-Augenzeuge Esch ist sich sicher, „ob die Rechnung ‚Minsk statt Krieg‘ aufgegangen wäre“.

Im „Spiegel“ schrieb er: „Nicht nur die Ukraine hat sich verändert, auch Putin. Er hat sich über die Jahre radikalisiert. 2021 schrieb er einen langen Essay über die Ukraine, in dem nicht mehr der Maidan das Hauptproblem war, sondern jahrhundertealte Kränkungen. Der Text wurde sofort zur Pflichtlektüre in der russischen Armee erklärt. Für Putin, so scheint mir heute, war die Existenz der Ukraine selbst das Problem geworden. Den nötigen Vorwand für einen Angriff hätte er sowieso gefunden.“
28.02.2024, Alice Hohl, ORF.at
Maidan 2014: Wo Putins Krieg gegen die Ukraine begann
 
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