Sie sieht aus, als könnte man sie auch auf einem beliebigen Flohmarkt finden. Man müsste sie nur von braunem Schlamm säubern. Doch die weiße Tasse, die mit einem schmalen Goldrand und dem Bild einer Trommel dekoriert ist, bezeugt ein tragisches Schicksal. Sie gehörte einem Kind, das vor rund 80 Jahren von den Nationalsozialisten als "lebensunwert" klassifiziert wurde. Ob es psychisch krank war oder etwa von Kinderlähmung oder Tuberkulose betroffen: Aus dem Spital fuhr man das Kind mit dem Bus zum Schloss Hartheim in Oberösterreich, das damals zur Ostmark zählte. Kurz danach wurde das Kind dort ermordet. Die Tasse landete mit vielen anderen persönlichen Gegenständen in einer Abfallgrube im Garten.
Eine Kindertasse wurde im Garten der Tötungsanstalt Hartheim verscharrt.
Benedikt Seidl / OÖ Landeskultur GmbH, Land Oberösterreich Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
Die Objekte gehören zu archäologischen Spuren des NS-Terrors. Obwohl er durch andere Quellen gut dokumentiert ist, werden solche Funde immer wichtiger, sagt Claudia Theune, Expertin für Historische Archäologie an der Universität Wien. Sie beweisen nicht nur Gräueltaten, sondern helfen dabei, "näher an Opfer heranzukommen, sie nicht nur als große Zahl zu sehen sondern tatsächlich als Menschen". Empathie auf diese Weise zu vermitteln wird umso bedeutsamer, je weniger
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen noch am Leben sind.
Vertuschte Verbrechen
Das unterstreichen Fachleute des österreichischen Bundesdenkmalamts und des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege in einem gemeinsamen Positionspapier, das am Mittwoch vorgestellt wurde. In dem kurzen Dokument hält die Arbeitsgruppe, zu der auch Theune gehörte, die große historische Bedeutung archäologischer Funde aus der NS-Diktatur fest. Das ist keine Selbstverständlichkeit angesichts von Massenfunden aus dieser Zeit – zumal die archäologischen Depots der Museen mit Platzproblemen kämpfen.
Schloss Hartheim im oberösterreichischen Alkoven wurde ab 1900 zur Pflegeanstalt für geistig behinderte Menschen umgebaut. Unter den Nationalsozialisten wurden dort ungefähr 30.000 Patientinnen und Patienten aus dem Deutschen Reich sowie KZ-Häftlinge vergast.
imago/Volker Preußer
Als beispielhafter Opferort wurde Schloss Hartheim in Alkoven gewählt. Die dortigen Ausgrabungen vor 20 Jahren sind laut Theune "einmalig", weil man exakt sagen könne, dass in den Gruben hinter dem Schloss nur Material aus der NS-Zeit liegt und sie später nicht mehr verwendet wurden. Ab Ende 1944 beseitigte man die Spuren, um die Verbrechen zu vertuschen, so wurden etwa der Krematoriumsofen und die Gaskammer entfernt.
Durch Asche geschmolzen
Noch während des Betriebs entsorgte man in den Gruben Asche der Ermordeten und ihre Habseligkeiten, sagt Theune: "Einige Objekte sind angeschmolzen, weil heiße Asche darauf abgelegt worden ist, solche Befunde haben wir sonst nicht." Dazu gehört eine verbogene orangefarbene Zahnbürste aus einer Grazer Parfümerie, die darauf hindeutet, dass ihre Besitzerin oder ihr Besitzer aus Graz stammte.
Diese in der Grube teils geschmolzene Zahnbürste gehörte wohl einem NS-Opfer aus Graz.Benedikt Seidl / OÖ Landeskultur GmbH, Land Oberösterreich Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
In der Tötungsanstalt Hartheim wurden zwischen 1940 und 1944 ungefähr 30.000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergast. Unter ihnen waren fast eintausend Kinder und Jugendliche. Die ersten Opfer forderte die "Euthanasie"-Aktion T4, in deren Rahmen behinderte Personen systematisch ermordet wurden. Später folgte die "Sonderbehandlung 14f13", und damit die Vergasung von Häftlingen aus Konzentrationslagern wie Mauthausen, die als zu krank oder zu alt galten.
Diese in der Grube teils geschmolzene Zahnbürste gehörte wohl einem NS-Opfer aus Graz.
Benedikt Seidl / OÖ Landeskultur GmbH, Land Oberösterreich Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
In der Tötungsanstalt Hartheim wurden zwischen 1940 und 1944 ungefähr 30.000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergast. Unter ihnen waren fast eintausend Kinder und Jugendliche. Die ersten Opfer forderte die "Euthanasie"-Aktion T4, in deren Rahmen behinderte Personen systematisch ermordet wurden. Später folgte die "Sonderbehandlung 14f13", und damit die Vergasung von Häftlingen aus Konzentrationslagern wie Mauthausen, die als zu krank oder zu alt galten.
Zu den bekannteren Opfern zählen
die Malerin Ida Maly und
Aloisia Veit, eine Großcousine von Adolf Hitler. Beide wurden in Hartheim als "Schizophrene" ermordet. Eva Gessl ist bisher das einzige Opfer, dem ein konkretes archäologisches Fundstück zugeordnet werden konnte: Die Patientin aus der Landesheilanstalt Salzburg, die mit 66 Jahren ermordet wurde, besaß eine aufwendig gearbeitete Porzellantasse, auf der ihr voller Name stand. Einer der zahlreichen Taschenspiegel, die als Werbegeschenke dienten, ist vermutlich auf eine andere ermordete Frau zurückzuführen, die bei der entsprechenden Firma, den
Österreichischen Cirinewerken Salzburg, gearbeitet hatte.
Dieser Löffel aus Schloss Hartheim ist mit hebräischen Buchstaben versehen.OÖ Landes- Kultur GmbH, Land Oberösterreich, Sammlung Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
Verschiedene Opfergruppen
Andere Objekte deuten nur ungefähr auf die Menschen hin, denen sie gehörten, wie die Grazer Zahnbürste. Beinprothesen und Orthesen lassen vermuten, "dass vielleicht auch Kriegsversehrte aus dem Ersten Weltkrieg unter der Naziherrschaft ermordet wurden", sagt die Archäologin. Dann sind da noch Gegenstände mit Davidstern und ein
Löffel, auf dem in hebräischen Buchstaben "Josef" steht – Spuren jüdischer Opfer. Mehr als hundert Rosenkränze weisen auf Ermordete katholischen Glaubens hin. Und ein Lippenstift der Marke Helena Rubinstein macht deutlich, dass durchaus wohlhabende Personen unter den Opfern waren.
Auch eine Patientin, die sich offensichtlich einen Lippenstift von Kosmetikpionierin Helena Rubinstein leisten konnte, wurde in Hartheim ermordet.
Benedikt Seidl / OÖ Landeskultur GmbH, Land Oberösterreich Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
Die Gegenstände geben also Auskunft zu verschiedenen Opfergruppen und individuellen Aspekten, dem Umfeld und den persönlichen Vorlieben, ihren "Lebensbedingungen und Überlebensstrategien", sagt Claudia Theune. Löffel waren etwa zum Essen notwendig, KZ-Häftlinge stellten sie mitunter selbst aus Aluminium oder Weißblech her, ebenso wie Kämme. Etliche wurden namentlich beschriftet: "In Konzentrationslagern, wo man von den Nazis mit einer Nummer gekennzeichnet wurde, war es wichtig, durch das Schreiben des eigenen Namens die Identität zu bewahren. Solche Funde halte ich für ganz essenziell."
Hier sind weitere Funde aus Hartheim zu sehen, etwa ein Rosenkranz und ein Kamm.
BLfD
Gleichzeitig sind die Orte der Opfer auch Orte der Täter. Die Tötungsanstalt Schloss Hartheim wurde vom Linzer Arzt Rudolf Lonauer geleitet, der
in anderen Institutionen Patientinnen und Patienten medikamentös ermordete und die Vergasungen meist an seinen Stellvertreter Georg Renno delegierte. Die Gaskammer war im Erdgeschoß eingerichtet worden, mit drei Duschköpfen als Attrappen. Anschließend wurden die Toten von sogenannten Brennern in einen Leichenraum gebracht und später im Krematorium verbrannt. Durch Zeugenaussagen wie die des beteiligten "Brenners"
Vinzenz Nohel konnte der Ablauf genauer rekonstruiert werden.
Täterorte in Bergidylle
Archäologisch stellten Theune und ihr Team bei der Vorstellung des Positionspapiers den Opferobjekten aus Hartheim Gegenstände vom Obersalzberg im deutschen Berchtesgaden gegenüber. Dort baute Adolf Hitler neben seinem privaten Wohnsitz auch ein bedeutsames Machtzentrum des nationalsozialistischen Regimes auf, inszenierte sich als Mann des Volks, traf sich mit Politikern und plante den Völkermord. NS-Größen wie Hermann Göring wohnten in unmittelbarer Nähe.
Auf dem Obersalzberg entstand rund um Hitlers Wohnsitz ein strategisches Zentrum, wo auch Fragen des NS-Vernichtungsapparats besprochen wurden. Viele Gebäude von einst wurden gesprengt, in der Dokumentation Obersalzberg kann man sich über den historischen Ort und die Verbrechen informieren.
imago images/Rolf Poss
Erst vor vier Jahren wurde dort ein Gebäude archäologisch erschlossen, in dem einst der SS-Untersturmführer Josef "Sepp" Giggenbach mit seiner Familie lebte und das zu Kriegsende von einer Bombe der Alliierten getroffen wurde. Einige der Funde wurden am Mittwoch erstmals vorgestellt. Auf den Motorradrennfahrer weist ein namentlicher Vermerk direkt hin, eine entdeckte Milchkanne wurde per Anhänger mit dem Namen Giggenbach versehen.
Adolf Hitler und Joseph Goebbels beim Treffen mit Kindern auf dem Obersalzberg.
imago/United Archives International
Den Objekten der Ermordeten lässt sich auch ein Schuh, vermutlich von einem von Giggenbachs drei Kindern, gegenüberstellen sowie eine Zahnbürste, die man zum Schuheputzen verwendet hatte – Banalität des Täteralltags, wie sie jüngst auch im oscarprämierten
Spielfilm The Zone of Interest dargestellt wurde. Anhand der teils vergleichbaren Objekte zeigt sich laut Theune: "Die Interpretation ist immer kontextabhängig."
Dieser Kinderschuh stammte wohl vom Sohn oder einer der beiden Töchter des SS-Manns Josef Giggenbach.
BLfD
Was nicht gefunden werden kann
Dass man genauso Täterorte im Blick behalte, sei wichtig: "Man muss auch an diese Orte gehen, um die Macht- und Terrorstrukturen des Nationalsozialismus zu verstehen." Von der privilegierten Position würden etwa eine Vielzahl von Kämmen, aber auch Kondome zeugen, die dort aufgefunden wurden.
Erhalten hat sich auch eine Kondomdose. Der "Gummischutz" stammt von der Marke Dublosan und wurde im Zweiten Weltkrieg an Soldaten ausgegeben, um Geschlechtskrankheiten zu verhindern.
BDA / BLfD
Nicht zuletzt spielt auch eine Rolle, was nicht mehr gefunden werden kann. Theune war etwa bei einer Auswertung von Funden aus dem Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen beteiligt: "Den Deportierten wurde vorgespielt, man würde sie umsiedeln, und man gab ihnen durch Packlisten klare Anweisungen." Durch die Ermordeten kam man beispielsweise an Pelzmäntel und warme Kleidung, entfernte ihnen aber auch Goldzähne. "Man kann annehmen, dass mit den Kleidungsstücken Wehrmachtsoldaten ausgestattet wurden oder Menschen, die durch Bombenangriffe im Deutschen Reich ihre Wohnungen verloren hatten."
Bei der Freilegung des Gebäudes am Obersalzberg sind auf diesem Foto im Vordergrund Reste eines Herds erkennbar.
Archäologie Hofmann & Heigermoser GbR
Doch was ist, wenn wie vor wenigen Jahren in Linz-Ebelsberg oder in Graz bei Grabungen große Mengen an Gegenständen gefunden werden? Ist es sinnvoll, hunderte Gasmasken eines bestimmten Typs aufzubewahren, tausende Nägel, meterweise Stacheldraht, noch dazu in suboptimalem Erhaltungszustand? Man müsse auch in der Archäologie anfangen, darüber nachzudenken, was aufbewahrenswert sei, sagt Theune – etwas, das Archivarinnen und Archivaren, die mit Schriftdokumenten arbeiten, bereits vertraut ist.
So kann es aussehen, wenn man im Erdreich auf Spuren aus dem NS-Regime stößt. Auch dieses Grubenprofil, das persönliche Gegenstände von Opfern beinhaltet, wird im Schloss Hartheim ausgestellt.
Wolfgang Klimesch
Massenware aus der Vergangenheit
Bei in Massen angefertigten industriellen Funden müsse die genaue Anzahl und der Typus erfasst, beschrieben, datiert und fotografiert werden. Dann gelte es, gemeinsam mit Behörden auszusondern und wenige dieser Objekte zu behalten. "Es ist aber auch selbstverständlich, dass individualisierte oder selbst angefertigte Dinge, die man mit Opfern in Verbindung bringen kann, komplett aufgehoben werden", betont die Archäologin. Die Funde können unterschiedliche Arten von Wert haben, etwa einen forensischen zur Dokumentation von Verbrechen, aber auch empathischen oder Vermittlungswert für Gedenkstätten.
Am Obersalzberg zeugt ein Massenfund von Besteck, das im Haushalt eines SS-Untersturmführers benutzt wurde.
BLfD
Letztere könnten von den Ergebnissen der Grabungen profitieren, wie Theune findet. "Ich würde mir wünschen, dass man zum Beispiel Schülerinnen und Schülern häufiger Objekte zeigt und sagt: 'Versucht mal, etwas über den Inhaftierten herauszufinden, der diese Häftlingsmarke hatte, oder darüber, welche Konzentrationslager von dieser Porzellanfabrik beliefert worden sind.'" So könne man die Geschichte dieser Zeit sehr gut vermitteln, und in den Gedenkstätten Mauthausen und Buchenwald werde dies bereits teils umgesetzt. In der Lern- und Gedenkstätte Schloss Hartheim wurden bestimmte Objekte in transparente Würfel eingeschlossen, sodass man sie von allen Seiten betrachten kann.
(Julia Sica, 10.7.2024)
Hinweis: Der Artikel wurde um Fotos von Funden vom Obersalzberg ergänzt.