Salzburger Pinzgau: Rätsel um Sammelpunkt von SS-Kriegsverbrechern zu Kriegsende 1945 (teilweise) gelöst

josef

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SS-Kriegsverbrecher: Rätsel um weiteres Grab gelöst
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Auch in Taxenbach (Pinzgau) liegt seit 1945 ein Kriegsverbrecher und SS-Offizier auf dem Friedhof. Nicht nur in der Nachbargemeinde Lend, wo ein ähnliches Grab schon länger für heftige Debatten sorgt. Das Taxenbacher Grab des Hans Rihl ist Einheimischen zwar bekannt, die Hintergründe waren es bisher keineswegs. Diese kommen nun für die Öffentlichkeit durch ORF-Recherchen ans Licht.
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Wie und warum kam dieser Deutsche im Salzburger Bergland ums Leben? Welche Verbrechen hat er im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas begangen?

In dem Grab in Taxenbach liegt der SS-Obersturmführer Hans Rihl. Nur der Name war bisher einigen Einheimischen durch die Inschrift bekannt, weil sie gelegentlich an dem Grab vorbeikamen.

Verbrechen an der Bevölkerung Polens
Erst seit kurzer Zeit sind die folgenden Details zu diesem Fall bekannt:
1. Der 1,95 Meter große Hans Rihl wurde am 7. Mai 1945 im Keller der Volksschule Taxenbach von einem anderen SS-Offizier erschossen.
2. Der Tote war 34 Jahre alt und stammte aus Regensburg in Bayern – ein akademisch bestens gebildeter Anthropologe und Biologe aus gutem Hause. Studiert hatte er in München.
3. Einige Jahre zuvor hatte er wichtige Leitungsfunktionen bei der so genannten „Germanisierung“ und „Eindeutschung“ übernommen, die die Nazis im östlichen Polen betrieben – unter dem Oberkommando des SS-Gruppenführers und Massenmörders Odilo Globocnik, einem Kärntner.
4. Bei diesen Aktionen wurden Teile der polnischen Bevölkerung aus der Region Zamosc – unweit der Grenze zur Ukraine – auf „germanische“ Merkmale hin untersucht und kategorisiert – beispielsweise nach blauen Augen, blonden Haaren und überdurchschnittlicher Körpergröße. Solche Leute sollten „eingedeutscht“ werden.
5. Wer aus der Sicht der SS nicht in diese Muster und Klischees der zeitgenössischen Wissenschaft passte und auch nicht für die Ausbeutung durch Zwangsarbeit im deutschen (und österreichischen) „Altreich“ geeignet war, wurde von Hitlers und Himmlers Schwadronen in die Todes- und Vernichtungslager Auschwitz und Majdanek deportiert. Das traf vorwiegend alte Menschen und Kinder der polnischen Region Zamosc.


MDR
Historikerin Heinemann trug sehr Wesentliches zur Aufklärung bei und erfuhr aus dem Unterpinzgau auch viel Neues

Woher stammen diese Informationen?
Die Forschungen der international bekannten Historikerin Isabel Heinemann von der Universität Münster in Norddeutschland sind dafür die wissenschaftliche Quelle. Heinemann gilt als Spezialistin für diese Spezialthemen – unter anderem für die Verbrechen Rihls in Polen.

Sie sagte dem ORF, den Weg dieses Offiziers habe sie bisher aber „nur“ bis Juli 1943 nachverfolgen können – anhand von Dokumenten und aus dem Schriftverkehr zwischen Dienststellen der SS. Was aus Rihl nach seiner Dienstzeit in Polen wurde, das habe sich bisher ihrer Kenntnis entzogen, so Heinemann.
Sie erfuhr dann bei den Recherchen zu diesem Bericht, dass der Obersturmführer im Frühling 1945 im Salzburger Bergdorf Taxenbach erschossen und dort auch bestattet wurde.

Fotostrecke
Gerald Lehner
Vom Schwarzen Kreuz Österreichs und möglicherweise auch von Angehörigen des Toten in Deutschland gut betreutes Grab des SS-Verbrechers in Taxenbach

Gerald Lehner
Zeitzeuge, dem die Aufklärung zu verdanken ist: Rupert Lengauer, der als Achtjähriger von den Kumpanen des Toten mit dem Tod bedroht wurde

Gerald Lehner
Lengauer auf dem Taxbenbacher Friedhof im Gespräch mit Kurt Sinnegger (links), der das Thema auf einer privatem Skitour dem ORF erzählte

Gerald Lehner
Grab des Regimegegners in Taxenbach, der keine SS-Offiziere auf seinem Bergbauernhof in Quartier wollte

Flugbild: Gerald Lehner
Taxenbacher Pfarrkirche mit Bergfriedhof, auf dem sich die Gräber des SS-Verbrechers Rihl und des Regimegegners Lengauer senior befinden – wenige Meter voneinander entfernt

Flugbild: Gerald Lehner
Taxenbach im Salzachtal, Salzburger Unterpinzgau – eine Region, in der sich im Frühling 1945 vielerlei SS-Kriegsverbrecher eine Lösung erhofften, ihren Strafen zu entgehen

Gerald Lehner
Zeitzeuge Lengauer beim Bergbauernhof seines Vaters Joachim mit dem Blick ins Tal, wo die SS-Offiziere die Hauptverkehrsverbindungen im Blick hatten – für die rechtzeitige Flucht vor der U.S. Army

Gerald Lehner
Der „Gruabhof“ oberhalb von Taxenbach, wo damals alles geschah. Die Zufahrtsstraße gab es noch nicht

Gerald Lehner
Grubhof bei Taxenbach: Auch mit dem Flugzeug aus der Luft haben wir den Hof und die Fluchtroute der SS-Offiziere fotografisch erkundet

Flugbild: Gerald Lehner
Fluchtroute der SS-Offiziere auf Taxenbacher Seite über Schusterberg, Lammstein und Pfarrachhöhe in Richtung Maria Alm und Saalfelden

Flugbild: Gerald Lehner
Fluchtroute der SS-Offiziere auf der Seite von Maria Alm. Rechts im Vordergrund: Hundstein. Links im Vordergrund: Aberg, das heutige Skigebiet. Hinten: Hohe Tauern

Gerald Lehner
Weiterer Zeitzeuge: Michael Blatzer, pensionierter Tischler in Saalfelden. Als Jugendlicher trieb er mit Freunden lebensgefährliche Späße und Experimente mit Flugzeugen der Deutschen Wehrmacht, die im Frühling 1945 im Pinzgau stationiert waren

Archiv Isabel Heinemann/Universität Münster
Titelseite im Personalakt des SS-Obersturmführers Hans Rihl, mit dem Himmlers Bürokratie diesen Offizier biografisch erfasste

Archiv Isabel Heinemann/Universität Münster
Weitere Seite mit Angaben über den Bildungsweg – im Personalakt des SS-Obersturmführers Hans Rihl, mit dem Himmlers Bürokratie diesen Offizier biografisch erfasste

Gerald Lehner
Michaela Höfelsauer, Bürgermeisterin von Lend, beim Grab des SS-Massenmörders und KZ-Arztes Franz von Bodmann, der in ihrer Gemeinde begraben ist

Gerald Lehner
Grab des SS-Massenmörders und KZ-Arztes Franz von Bodmann, der in der Gemeinde Lend begraben ist, wenige Kilometer von Taxenbach entfernt

Gerald Lehner
Die Lender Bürgermeisterin Höfelsauer bei der Gedenktafel für einen Widerstandskämpfer, die vor einigen Jahren eingeweiht wurde. In ihrer Gemeinde gab es einst eine lebendige Arbeiterkultur, die den Nazis kein leichtes Leben bescherte

Zufälle führen zur Klärung
Die Aufklärung des Falles hat also auch eine Salzburger Seite. Vorgeschichte: Vor etwas mehr als einem Jahr kam der pensionierte Eisenbahner Kurt Sinnegger aus Taxenbach auf einer privaten Bergtour mit dem ORF-Reporter in Kontakt. Der historisch sehr interessierte und sehr belesene Einheimische erzählte dem Journalisten auf einem Berggipfel von diesem SS-Grab. Sinnegger wunderte sich seit Jahrzehnten, dass sich nicht mehr Gebirgler für diese Geschichte interessierten.

Der Salzburger traf dann Anfang 2021 auf dem Taxenbacher Friedhof einen Bekannten, den heute 85-jährigen Rupert Lengauer. Ebenfalls durch Zufall seien sie genau auf dieses Thema gekommen, erzählt Sinnegger: „Schnell wurde mir klar, der Rupert ist hier der eigentliche Experte. Er hat nämlich als achtjähriger Volksschüler im Frühling 1945 am eigenen Leib erfahren, wie die SS in Taxenbach in den letzten Kriegswochen agiert und auch gewütet hat. Und er wusste auch genau, wie Rihl zu Tode kam.“

Taxenbach als Sammelpunkt der SS
Zwischen 50 und 60 SS-Offiziere hatten sich damals in den Unterpinzgau nach Taxenbach zurückgezogen – aus vielen Teilen Europas, um vor der anrückenden U. S. Army, britischen, französischen und sowjetischen Soldaten zu flüchten. In die vermeintliche Alpenfestung, die in der vom NS-Regime propagierten Form aber nie existierte.
Obersturmführer Rihl soll vehement dafür plädiert haben, sich den bald anrückenden Amerikanern zu ergeben. Er dürfte deshalb von eigenen Kameraden erschossen worden sein, sagt Zeitzeuge Rupert Lengauer: „Das war nach dem Krieg in der Bevölkerung noch bekannt.“ Lengauer erlebte als Kind wochenlang die Einquartierung der SS-Offiziere mit. Ihre erste Unterkunft war die Taxenbacher Volksschule. Diese tarnten sie auf dem Dach mit einer riesigen Rotkreuz-Plane. Lazarett! So wollten die Männer vor möglichen Angriffen von Tieffliegern der U.S. Air Force sicher sein.

Weitere Flucht über die Berge geplant
Himmlers Kämpfer hegten hier weitere Fluchtpläne, um unterzutauchen oder irgendwie nach Italien zu kommen. In einem ersten Schritt zwangen sie den Vater des achtjährigen Rupert, seinen Bergbauernhof auf der Sonnseite des Salzachtales als weiteres Fluchtquartier zur Verfügung zu stellen. Das geschah aus taktischem Kalkül, weil der Hof als einziger in der Region – von hoch oben und nur über einen zweistündigen Fußmarsch erreichbar – eine gute Sicht auf die Straße und die Eisenbahn tief unten im Tal bot. Hier verläuft bis heute die Hauptverbindung zwischen Zell am See und Schwarzach im Pongau. Und hier mussten die amerikanischen Truppen durch, wenn sie ins Land kamen.

Dem Bauern die Pistole an die Schläfe gesetzt
Zeitzeuge Rupert Lengauer erinnert sich, dass ein Obersturmführer namens Müller – der früher in einer SS-Panzerdivision gekämpft hatte, seinen Vater und ihn mit einer Pistole erschießen wollte. Bergbauer Joachim Lengauer weigerte sich nämlich, den SS-Leuten seinen Hof zur Verfügung zu stellen. Er hatte mehrere Verwandte im Krieg verloren, war zu alt für den Fronteinsatz und ein Regimegegner, was er aber nicht ausplauderte. Als Grund gab der Landwirt an, er wolle keine Zerstörung durch Tiefflieger riskieren – wenn die Amerikaner herausfinden, dass die SS bei ihm wohnt. Müller drohte, zuerst den kleinen Sohn und dann den Bauern zu erschießen: „Noch regiert hier der deutsche Soldat“, zitiert der Zeitzeuge den Deutschen. So habe sein Vater dann nachgegeben.

Flucht bei Nacht und Nebel am 8. Mai
Die Truppe ließ sich in den nächsten Tagen von Einheimischen viel Zivilkleidung auf den Hof bringen. Und in der Nacht auf den 8. Mai 1945 – als die Amerikaner nicht mehr weit waren – zogen sich die SS-Offiziere um und flüchteten bei Nacht und Nebel über die Pinzgauer Grasberge im Gebiet des Hundsteins in die Gemeinde Maria Alm. Dort residierte in diesen letzten Kriegstagen Hitlers Generalfeldmarschall Albert Kesselring als verbliebener Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht für den Bereich West. Sein Stab hatte noch mehrere Feldflugzeuge des Typs Fieseler Storch zu Verfügung. Diese starteten und landeten auf weitläufigen Wiesen zwischen Maria Alm und Saalfelden. Auch der Taxenbacher Schüler Rupert sah sie aus großer Entfernung im Tal, als ihn der Vater einige Tage zuvor auf eine Alm beim Hundstein geschickt hatte.

Weiterer Zeitzeuge bestätigt Flugzeug-Story
In der Stadt Saalfelden lebt ein zweiter Salzburger, der die Flugzeuge damals mit eigenen Augen sah – der pensionierte Tischler Michael Blatzer. Er war ein Jugendlicher – zu jung für den Fronteinsatz, aber mutig genug und mit viel jugendlichem Leichtsinn ausgestattet. Mit einigen Freunden schlich er sich an einem Frühlingsabend zu den Maschinen. Einem gelang es, einen Motor zu starten und hundert Meter zu rollen: „Ein Freund hat dann bei einer anderen Maschine an der Tragfläche herumgemurkst. Da tropfte etwas herunter. Um zu sehen, was es war, zündete er die Flüssigkeit an. Dann brannte gleich der ganze Tank und der Flügel. Wir sind davongerannt.“

Auf der „Rattenlinie“ nach Lateinamerika?
Der Taxenbacher Zeitzeuge Rupert Lengauer ist überzeugt, dass die SS-Offiziere mit diesen Maschinen flüchten wollten. Es sollen bis zu sechs Fieseler Störche gewesen sein – dennoch viel zu klein und eine zu geringe Zahl, um 50 bis 60 gestandene Männer auszufliegen.

Ältere Pinzgauer erzählen sich bis heute, dass Himmlers Partie aus Taxenbach im Großraum Salzburg, Tirol und Südtirol in kleineren Gruppen oder einzeln perfekt untergetaucht sein könnte. Wobei einige auf der berüchtigten „Rattenlinie“ durchaus Italien und in den folgenden Monaten und Jahren auch Lateinamerika erreicht haben könnten. Diese Route galt lange als Geheimtipp für vielerlei Mörder und sonstige Straftäter aus den Reihen der SS, die nicht mehr ins zivile Leben zurückkehren konnten oder wollten.

Zwei Kriegsverbrecher im Abstand von wenigen Kilometern:
Die nun entdeckte Geschichte des Taxenbacher Grabes ergänzt eine schon seit zwei Jahren laufende Debatte um ein ähnliches Grab in der Nachbargemeinde Lend. Dort kam erst vor zwei Jahren ans Licht, dass 1945 der SS-Massenmörder Franz von Bodmann auf dem Ortsfriedhof bestattet wurde. Dieser Arzt und Offizier war in Himmlers Auftrag lange auch im Vernichtungslager Auschwitz aktiv und soll für den Tod tausender Häftlinge und Kriegsgefangener verantwortlich gewesen sein.
Die Inschrift auf Bodmanns Grab in Lend, in dem er mit einem zweiten Soldaten liegt, wurde in den 1950er-Jahren wesentlich „neutraler“ gestaltet. Kein SS-Dienstrang wie bei Rihl in Taxenbach, sondern nur der Schriftzug „pol. Arzt“ – was vermutlich „polizeilicher oder politischer“ Arzt heißen und den SS-Hintergrund verschleiern sollte
.
Die Lender Bürgermeisterin Michaela Höfelsauer (SPÖ) ist entsetzt, dass erst jetzt aus der Nachbargemeinde Taxenbach mit Rihl ein ähnlicher Fall bekannt wird – und nur über die Recherchen des ORF: „Das ist wirklich furchtbar, dass in Österreich kollektiv über solche Dinge so lange und weiterhin geschwiegen wird. Obwohl unser Fall Bodmann lokal, regional und international schon zwei Jahre heiß diskutiert wird.“

Die Bürgermeisterin hat nach Bekanntwerden des Lender SS-Grabes eine ehrenamtliche Arbeitsgruppe gegründet. Die beschäftigt sich mit der Frage, wie man eine sinnvolle Erinnerungskultur etablieren könnte – auch im Sinn der Mordopfer. Eine Auflösung des SS-Grabes in Lend kommt für Höfelsauer nicht in Frage. Man tendiert zu einer künstlerischen Lösung oder einer Audio-Ortsführung über Täter, Opfer, Widerständler und weitere Themen der lokalen Zeitgeschichte – gestützt auf eine Handy-App.

Auch der katholische Pfarrer und Theologe Oswald Scherer – der seit eineinhalb Jahren für beide Gemeinden Lend und Taxenbach seelsorgerisch zuständig ist – will sich ebenfalls an der Denkwerkstatt beteiligen. Er möchte keine belehrenden Predigten von der Kanzel herab zelebrieren, sondern an konstruktiver Erinnerungskultur für die Region mitarbeiten.

Die erhofft sich die Lender Bürgermeisterin Höfelsauer künftig auch von ihren Amtskollegen im Salzburger Bergland: „Es könnten da und dort wohl noch ähnliche Gräber auftauchen …“
So gelangte diese Facette der Geschichte über Lengauer, Sinnegger und die folgende ORF-Recherche dann auch zur deutschen Historikerin und Universitätsprofessorin Isabel Heinemann in Münster: „Das ist wirklich sehr interessant, was sich im Frühling 1945 in Salzburgs Bergen abgespielt hat.“

05.05.2022, Gerald Lehner – ORF Radio Österreich 1, salzburg.ORF.at
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Weiterer Link:
SS-Kriegsverbrecher: Rätsel um weiteres Grab gelöst
 

struwwelpeter

Well-Known Member
#3
Info:
Die Grabstelle hat bis in die Gegenwart (Stand 2019) regen Zulauf und wurde bis etwa 2017 privat gepflegt (aus Datenschutzgründen sind weitere Informationen dazu nicht zugänglich).
Seither ist das Grab wieder an den Friedhofsverband zurückgefallen und die Marktgemeinde Berchtesgaden ließ sich von der Denkmalbehörde beraten.
Nach deren Konzept soll künftig kein Grabschmuck mehr zugelassen werden, das Grab also möglichst schlicht und neutral belassen bleiben.
 
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