"Neben den Schienen" - ,Kindheitserinnerungen Teil 4
MEINE ERSTE EISENBAHNFAHRT
Es gibt im Leben eines jeden Menschen Ereignisse aus seiner Kinderzeit, die ihm auch noch als Erwachsener immer in Erinnerung bleiben. Ein solches ist für mich meine erste Fahrt mit einem Eisenbahnzug.
Großmutter hatte eine Schwester in Unterradlberg und eine Schwägerin in Oberradlberg. Das bedingte natürlich ein reges gegenseitiges Besuchen, zur damaligen Zeit selbstverständlich nur per Bahn. Bei einer dieser Fahrten durfte ich Oma begleiten. Es ging zur Mitzi-Tante, der Schwester meines Großvaters, nach Oberradlberg.
Wie war das aufregend für mich kleinen Buben! Endlich durfte ich einmal mit einem jener Züge, die sonst immer nur bei meinem Fenster vorbeizogen, mitfahren. Zu so einer „großen“ Fahrt musste man natürlich entsprechend gekleidet sein. Also wurde ich in eine Lederhose gesteckt, bekam eine dicke Weste übergezogen und zu guter Letzt auch noch einen Filzhut auf den Kopf gesetzt. Und schon ging es ab zum Bahnhof, hinein in den Warteraum zum Fahrkartenschalter. „Eine Ganze und eine Halbe, Oberradlberg retour!“, rief Großmutter dem hinter einem Glasfenster sitzenden Beamten zu. Der Mann wandte sich zu einem Hängekasten, in dem eine größere Menge verschiedener Kartonkärtchen steckten, suchte zwei, ein größeres und ein kleineres, heraus, drückte sie in einen Prägeautomaten und schob sie schließlich durch eine kleine Öffnung im Glasfenster meiner Oma zu. Nachdem diese bezahlt hatte, begaben wir uns auf den Bahnsteig. Auf meine Frage: „Oma, wie weit ist es bis Oberradlbergretour?“, erklärte sie mir lachend, dass die Station Oberradlberg hieße und „retour“ ja „zurück“ bedeute. Somit war mein kindlicher Wortschatz um das erste Fremdwort bereichert!
Auf dem Bahnsteig, der damals nur aus gestampftem grauem Sand bestand und nicht einmal eine Sitzgelegenheit hatte, angekommen, blickte ich gespannt nach Osten, denn von dort sollte unser Zug kommen. Und wirklich, schon nach kurzer Zeit sah ich in der Ferne eine immer größer werdende grauweiße Rauchwolke in den Himmel steigen. Damals, 1959, waren nämlich alle Züge noch mit Dampflokomotiven bespannt, und so ein schwarzes Ungeheuer war es auch, dass sich mit seinem langen grünen Schwanz bedrohlich zischend und letztendlich quietschend mir kleinem Buben näherte. Nun zog die schnaubende Maschine so dicht an mir vorbei, dass ich fast ihren heißen Atem zu spüren vermeinte. Ängstlich hielt ich die Hand meiner Großmutter, die mir dann auch auf das für ein Kind viel zu hohes Trittbrett half.
Der Waggon, den wir bestiegen, hatte einen Seitengang und geschlossene Abteile, war also auch ein für die damalige Zeit schon ziemlich seltener zweiachsiger Coupéwagen. Da die Abteile alle besetzt waren, mussten wir mit Klappsitzen am Gang vorlieb nehmen.
Der Fahrdienstleiter mit der roten Kappe gab das Abfahrtssignal und kurz darauf setzte sich unser Zug ruckelnd in Bewegung, begleitet vom schweren Stampfen der Dampfmaschine, das schneller und schneller wurde und bald in ein gleichmäßiges Auspuffgeräusch überging. Im gleichen Maße verfärbte sich der schwarzgraue Rauch, der zuerst unseren Waggon fast komplett umhüllte, in immer hellere Töne, bis er schließlich nur mehr in Form von weißen Fetzen an unserem Waggonfenster vorbeiflog.
Ein wenig später ging wieder ein Ruck durch unseren Zug, die Bremsen kreischten, und die Garnitur kam zum Stillstand. Durch ein halb geöffnetes Fenster weiter vorne in unserem Gang drang ein zweimaliges lautes „Trasdorf Haltestelle“, ausgerufen vom Schaffner, der zu diesem Behufe auf dem Bahnsteig Aufstellung nahm. Etliche Leute stiegen aus und ein paar andere zu, der Schaffner gab mit seiner Kelle das Abfahrtssignal und sprang im letzten Moment auf die schon anfahrende Garnitur.
Ähnliche Szenen spielten sich ab nun bei jeder der folgenden Stationen ab. Irgendwo dazwischen betrat der Beamte auch unseren Wagen, rief in jedes Abteil ein fragend-forderndes „Jemand zugestiegen?!“, hinein, bis er schließlich vor uns stand. Ich streckte ihm stolz meine Karte entgegen, worauf er mit einer riesigen Zange ein ovales Loch in das kleine Kartonstück hineinstanzte.
Herzogenburg war dann der nächste größere Bahnhof. Hier gab es mehrere Gleise, auf denen eine ganze Reihe von Güterwagen herumstand. Auch eine Dampflokomotive war zu sehen, die offensichtlich gerade von der anstrengenden Verschubarbeit pausierte. Jetzt hatte ich etwas länger Zeit, durch mein Fenster das geschäftige Treiben auf dem Bahnhof zu beobachten, denn unsere Garnitur musste einen Gegenzug abwarten. Dieser ließ nicht lange auf sich warten, und der Mann mit der roten Kappe gab mit seiner Kelle wieder das Abfahrtssignal. Mit lautem Stampfen verließen wir wieder den Bahnhofsbereich, und nach der Station Unterradlberg hatten wir bald unser Ziel Oberradlberg erreicht.
Nun galt es einen längeren Fußmarsch ins Ortszentrum zu bewältigen. Tante Mitzi erwartete uns schon und lud uns auf eine kleine Jause ein. Sie besaß nämlich dort ein Gasthaus und ich freute mich schon auf das Soda-Himbeer, das mir dort kredenzt wurde. Die beiden Frauen tauschten ihre Neuigkeiten aus, was naturgemäß einige Zeit in Anspruch nahm, während der ich mich schrecklich langweilte und den Zeitpunkt der Abreise schon ungeduldig herbeisehnte.
Endlich war es soweit, und nach vielem Händeschütteln und Abschiedsküssen ging es wieder zur Station. Oberradlberg hatte keinen Bahnhof, nur einen kleinen Unterstand, daher auch keinen Fahrkartenverkauf. Den brauchten wir ohnehin nicht, da wir schon in Moosbierbaum unsere Retourkarten gelöst hatten.
Wir mussten nicht lange am Bahnsteig warten, da hielt schon mit lautem Bremsengequietsche unser Zug. Kaum hatten wir im letzten Wagen platzgenommen, setzte sich die Garnitur schon in Bewegung. Diesmal saßen wir in einem der zur damaligen Zeit üblichen grünen Zweiachserwaggons mit Holzbänken und Fallfenstern. Diese waren natürlich sehr interessant, konnte man sie doch mit einem starken Ruck am darunter hängenden, gelochten Lederriemen komplett öffnen, was mir meine Großmutter zwar vorführte, aber leider sofort wieder verschloss. Von außen drang nämlich der rußige Dampf der Lokomotive in unser Abteil, was klarerweise die paar wenigen Mitreisenden mit einem lauten „Fenster zu!“ quittierten.
Jetzt drückte ich meine Nase an die Fensterscheibe und wandte meine Aufmerksamkeit den immer schneller werdenden Telegraphenmasten zu, an deren Spitze mehrere Drahtpaare auf weißen Isolatoren gespannt waren. Ein Paar davon schwenkte bei jedem zweiten Mast ein Stück nach unten, um beim nächsten wieder zu den anderen zurückzukehren. Ich versuchte diese Drähte mit den Augen zu verfolgen, was natürlich ein mit fortschreitender Zugsgeschwindigkeit immer schneller werdendes Nicken meinerseits zur Folge hatte. Zusammen mit dem monotonen Schlagen der Waggonräder auf den damals noch nicht verschweißten Schienenstößen hatte das unweigerlich eine einschläfernde Wirkung auf mich.
Ich verschlief mehrere Stationen und auch den Schaffner, bis mich Oma in Traismauer weckte.
Erst viele Jahre später erfuhr ich von meinem Freund Robert Kemptner, was es mit diesem merkwürdigen auf- und abziehenden Drahtpaar auf sich hatte. Robert war nicht nur Fahrdienstleiter, sondern auch ein glühender Eisenbahnfan und klärte mich darüber auf, dass dies ein Signaldraht für die Streckenarbeiter war, die ihr mobiles Telefon an der tiefsten Stelle einhängten, um damit mit dem nächsten Bahnhof sprechen zu können.
Kurz nach der Haltestelle Trasdorf durfte ich dann bis zum Aussteigen in Moosbierbaum auf die hintere Plattform hinaus. Da wir uns wie gesagt im letzten Waggon befanden, hatte ich einen herrlichen Ausblick auf die nach hinten fliehende Landschaft. Ein unbeschreiblicher Eindruck für einen kleinen Jungen wie mich!
Viele Jahre später noch nutzte ich immer wieder diese freistehenden Plattformen, um einen ungehinderten Blick auf die vorbeiziehende Landschaft zu haben. Leider wurden diese im Laufe der Zeit immer weniger, und jetzt gibt es überhaupt nur mehr geschlossene Waggons. Nur bei Nostalgiefahrten gibt es diese Möglichkeit noch, jedoch herrscht dort meist dichtes Gedränge von Gleichgesinnten, die alle dasselbe im Sinn haben. Manchmal gelingt es mir aber doch, eine Plattform für mich alleine zu ergattern. Es ist einfach ein wunderbares Gefühl, das glänzende Schienenpaar, einem unendlich langen gleichschenkeligen Dreieck gleich, dessen Spitze am fernen Horizont verschwindet, zu betrachten. Während dessen genieße ich den Fahrtwind, der mir immer wieder ölig-rußig riechende Rauchfetzen aus dem Schlot der Maschine zuträgt. Ich höre dann das rhythmische Stampfen der Dampflok und das metallische Kreischen der Räder auf den dahinfliehenden Schienen, das Ganze manchmal unterbrochen vom langgezogenen Pfeifen der Lokomotive, wenn sie vor einem unbeschrankten Bahnübergang auf unsere Garnitur aufmerksam macht.
Und dann denke ich mich gerne zurück in jene lange vergangene Zeit, in der ich als kleiner Bub an der Hand meiner Großmutter bei meiner ersten Zugsfahrt auf der Plattform des letzten Waggons ehrfürchtig die vorbeiziehende Landschaft bestaunte...