Nervenheilstätten-Psychatrien Wien-Steinhof (Spiegelgrund), Gugging bei Klosterneuburg und Mauer-Öhling bei Amstetten

#21
WIDER DAS VERGESSEN
„Heil und Pflegeanstalt Mauer“: 275 Tote in 77 Gräbern
NÖN Amstetten, 08. MAI 2023
Hermann Knapp

Neun Patienten wurden am 18. April im Massengrab 64 auf dem erweiterten Anstaltsfriedhof beerdigt. Foto:
FOTO: NOEN, Philipp Mettauer

Am Donnerstag, 11. Mai, um 18 Uhr, werden im Rathaussaal Amstetten die Ergebnisse und Geschichten der Recherchen und Nachforschungen rund um die Grabstätten des NS-Euthanasie-Friedhofs Mauer im Rahmen des „Top-Citizen-Science-Projekts“ präsentiert.

„Heil und Pflegeanstalt Mauer“: 275 Tote in 77 Gräbern
 

josef

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#24
MÄCHTIGSTER NS-MEDIZINER
Die grauenhaften Verbrechen des Doktor Karl Brandt
Der Mediziner war mitverantwortlich für die "Aktion T4" und an Medizinverbrechen in Konzentrationslagern beteiligt.
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Porträt von Karl Brandt als Angeklagter im Nürnberger Ärzteprozess 1946.
United States Holocaust Memorial Museum

Heute ist sein Name nur wenigen geläufig, obwohl er vor 80 Jahren noch der einflussreichste Mediziner im deutschen Sprachraum war. Manche werden meinen, dass Karl Brandt zu Recht weitgehend in Vergessenheit geriet. Ich finde dagegen, dass es lehrreich sein kann, sich an den Begleitarzt Hitlers zu erinnern, der vor ziemlich genau 120 Jahren im Elsass geboren wurde.

Nach dem Abitur studierte Brandt Medizin und promovierte 1928 in Freiburg. Er schlug dann eine chirurgische Karriere ein und war offenbar hochethisch gesinnt: Der junge Arzt wollte sich dem Team des Mediziners Albert Schweitzer in Afrika anschließen, was die französischen Behörden jedoch vereitelten.

1932 trat er dann der NSDAP bei. Mehreren Zufällen ist es zu verdanken, dass Brandt kurze Zeit später Hitlers persönliche Bekanntschaft machte. Dieser war von dem offensichtlich begabten Chirurgen und gutaussehenden jungen Mann beeindruckt. So kam es, dass Brandt schon bald in Hitlers engeren Kreis aufgenommen wurde. Bereits 1934 wurde Brandt offiziell zu Hitlers Begleitarzt ernannt.

Innerhalb der NSDAP machte der ehrgeizige Brandt mit Hitlers Rückendeckung eine rasante Karriere: SS-Gruppenführer der Allgemeinen SS, SS-Brigadeführer, Generalmajor der Waffen-SS sowie Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Nach und nach schaltete er alle Konkurrenten aus und wurde schließlich der mächtigste Mediziner des Reichs.

"Euthanasie" und Menschenversuche
Brandts Rolle als Begleitarzt bedeutete nicht etwa, dass er Hitler ständig betreute. Das war die Domäne von Theodor Morell. Brandt wurden vielmehr andere Aufgaben zugeteilt. Am 1. September 1939 beauftragte Hitler Brandt und Phillip Bouhler, die Organisation der "Aktion T4" zu übernehmen, deren Name sich von der Adresse herleitet, an der die Verantwortlichen tätig waren: In der Tiergartenstraße 4 in Berlin beurteilten Mediziner jene Formulare, die von den Spitälern eingingen, und entschieden so über Leben und Tod der betroffenen Patientinnen und Patienten.

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Beauftragung der "Aktion T4" durch Adolf Hitler.
Gemeinfrei / Wikimedia

Ziel der Initiative war es, psychisch unheilbar Kranken – anfangs meist Kindern – den "Gnadentod zu gewähren". Nach dem damals geltenden Gesetz war dieses Unterfangen illegal und sollte daher geheim gehalten werden. In der Praxis lief es darauf hinaus, dass man – in der NS-Terminologie – "unnütze Esser" und "Nicht-Arier" ermordete, um erstens das deutsche Volk genetisch zu reinigen und zweitens freie Krankenhausbetten zu schaffen, die bald für verwundete deutsche Soldaten gebraucht wurden. Ab 1943 genügte es für eine Einweisung in eine Tötungsanstalt, dass es sich um Zigeuner-, Juden- oder "Mischlingskinder" handelte. Etwa 200.000 Menschen wurden im Laufe der "Aktion T4" und von deren Nachfolgeprogrammen ermordet.

Die "Aktion T4" in Österreich
In Österreich – nach dem "Anschluss" im März im Dritten Reich "Ostmark" genannt – fielen der "Aktion T4" etwa 13.500 Personen zum Opfer. Hier war ihre Durchführung besonders radikal und hatte den Charakter eines veritablen Blitzkriegs gegen die Kranken. Beispielsweise wurden allein aus der Wiener Anstalt Am Steinhof rund 3.200 Patienten umgebracht. Die Heil- und Pflegeanstalt Ybbs hatte vor 1938 einen Bettenstand von 1.650, sie wurde durch die "Aktion T4" nahezu komplett geräumt.

Aus der niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalt Gugging wurden 500 bis 600 Menschen in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz verbracht. Etwa 1.200 Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Ohling wurden deportiert, um dann getötet zu werden. Aus dem Feldhof bei Graz sind etwa 1.500 Opfer zu beklagen. Letztlich verantwortlich für diese und viele weitere Morde war (nach Hitler) Karl Brandt.

Als kriegsbedingt der Bedarf an Betten zunahm, wurde die inzwischen auf Druck der Kirchen unterbrochene "Aktion T4" in die "Aktion Brandt" ausgeweitet. Dabei wurden auch Schwerkranke aus Spitälern verlegt und später getötet. Als Koordinator der medizinischen Forschung in Deutschland war Brandt auch bei einigen der unsagbar grausamen Versuche an KZ-Häftlingen federführend beteiligt.

Von Hitler entlassen
Obschon Brandt stets versuchte, Hitlers Anordnungen zu seiner Zufriedenheit zu befolgen, fiel er schließlich doch in Ungnade. Am "Hofe des Führers" hatte sich gegen Kriegsende eine Intrige unter den dort waltenden Ärzten entsponnen, die das Ziel hatte, den unbeliebten Leibarzt Hitlers, Theodor Morell, zu beseitigen. Dieser Schuss ging jedoch nach hinten los; Hitler schlug sich auf Morells Seite und entließ Brandt aus seiner Position als Begleitarzt.

Nun gehörte Brandt nicht mehr zu dem engeren Kreis um Hitler, und sein Stern war im Sinken. Als Hitler dann noch erfuhr, Brandt habe seine Familie vor den nahenden russischen Streitkräften in Sicherheit gebracht, verurteilte er Brandt kurzer Hand zum Tode. Brandt wurde sodann verhaftet, aber Himmler verhinderte in den letzten Kriegswochen die Vollstreckung des Urteils.

Bei Kriegsende versuchte Brandt sich über die sogenannte Rattenlinie Nord abzusetzen. Er wurde jedoch gefasst und von den Alliierten gefangen genommen. Brandt gelang es, in diversen Verhören von seiner Schuld abzulenken. Für das "Euthanasie"-Programm schien man sich zunächst noch kaum zu interessieren. Er wäre somit um ein Haar auf freien Fuß gesetzt worden.

Durchschaute Verschleierung
Erst nach und nach häuften sich die Verdachtsmomente, und man begann, Brandts Verschleierungstaktik zu durchschauen. Als sich die Beweise schließlich mehrten, sah sich Brandt gezwungen, seine Beteiligung am "Euthanasie"-Programm zumindest teilweise einzugestehen. Er betonte jedoch stets, dass er nur organisatorische Verantwortung gehabt habe und von hochethischen Beweggründen geleitet wurde.

Die Alliierten beschlossen schließlich, Brandt auf den ersten Platz der Liste der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess zu setzen. Am 9. Dezember 1946 wurde das Verfahren gegen die 23 Angeklagten eröffnet. Die Verteidigung beharrte darauf, dass Brandt stets ethisch gehandelt habe, nie direkt in das "Euthanasie"-Programm involviert gewesen sei, und immer nur die Anweisung Hitlers befolgt habe. Sie betonte ferner, dass in den USA ähnliche Programme gelaufen seien.

Im Kreuzverhör verlor Brandt dann immer mehr an Glaubwürdigkeit. Als am 7. Februar 1947 dem Gericht eine Fülle von Dokumenten vorgelegt wurde, aus denen hervorging, dass Brandt nicht nur über Menschenversuche in Konzentrationslagern informiert gewesen war, sondern sogar einige davon selbst veranlasst hatte, wurde Brandts Schuld offensichtlich.

An folgenden Menschenversuchen in Konzentrationslagern war Karl Brandt laut Anklage beteiligt:
  • Unterdruckversuche in Dachau, 1942: Dabei wurden Häftlinge einem Unterdruck ausgesetzt, um zu eruieren, wie bei abgeschossenen Piloten ein Tod durch solche Bedingungen zu vermeiden sei. Zahlreiche Gefangene verstarben.
  • Malariaversuche in Dachau, 1942–45: Über 1.000 Häftlinge wurden infiziert und diversen Behandlungen unterworfen, um eine wirksame Therapie zu identifizieren. Zahlreiche Gefangene verstarben.
  • Sulfonamidversuche in Ravensbrück, 1942: Häftlinge wurden mit diversen Erregern infiziert und mit Sulfonamiden und anderen Mitteln behandelt, um herauszufinden, welche Therapie wirksam sei. Einige Gefangene verstarben.
  • Transplantationsversuche in Ravensbrück, 1942–43: Knochen, Muskeln und Nerven wurden von einem Häftling auf einen anderen verpflanzt, um festzustellen, unter welchen Bedingungen solche Transplantationen erfolgreich sind. Die Gefangenen trugen bleibende Schäden davon.
  • Meerwasserversuche in Dachau, 1944: Häftlinge mussten in verschiedener Weise aufbereitetes Meerwasser trinken, um zu eruieren, wie Schiffbrüchige am ehesten überleben können. Die Gefangenen wurden schwer geschädigt.
  • Sterilisationsversuche in Auschwitz und Ravensbrück, 1941–45: Es wurden Strahlen und Medikamente ausprobiert, um eine Methode zu finden, mit der es möglich ist Millionen von Frauen unfruchtbar zu machen. Die Gefangenen wurden schwer geschädigt.
  • Fleckfieberversuche in Buchenwald und Netzweiler, 1941–45: Die Häftlinge wurden infiziert und mit diversen Medikamenten behandelt, um einen geeigneten Impfstoff zu entwickeln. Es kamen zahlreiche Gefangene ums Leben.
Am 20. August 1947 wurde Brandt der Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation für schuldig befunden und zum Tode durch den Strang verurteilt.


Karl Brandt bei der Urteilsverkündung. Seine Reaktion wurde wie folgt beschrieben: "In seinem Gesicht bewegt sich kein Muskel, kein Blinzeln, kein beschleunigter Atemzug. Völlig gefühllos scheint er sich ein Urteil anzuhören, das nicht ihn, sondern einen Fremden betrifft."
Gemeinfrei / Wikimedia

Reaktionen und Hinrichtung
Anfang September wurde Brandt in die Festung Landsberg überführt, wo auch Hitler einst einsaß und sein Buch "Mein Kampf" verfasste. Kurze Zeit später begann die Flut von Petitionen und Gnadengesuchen einflussreicher Ärzte, diverser Kirchenvertreter und anderer Prominenter. Sogar die von der "Euthanasie" betroffenen Betheler Anstalten beteiligten sich. Der oberste US-Militärbefehlshaber, General Lucius Clay, prüfte daraufhin die Beweislage erneut. Am 10. Mai stellte er fest: "Wenn ich gegenüber Menschen, denen Folter und Tod angetan wurde, Gerechtigkeit üben will, dann kann ich in diesem Fall keine Gnade walten lassen."

Am 2. Juni 1948 wurde Brandt trotz vieler weiterer Gnadengesuche gehängt. Auf dem Schafott hielt er eine letzte, erregte Ansprache: "Wie kann … die Nation, welche die Spitze in der Durchführung von Humanversuchen hält, wie kann es diese Nation wagen, andere, welche höchstens die vorgemachten Versuchsanordnungen nachmachen konnten, uns deswegen zu verurteilen? Und gar Euthanasie! Man schaue heute auf Deutschland und seine ausgeklügelt hingehaltene Not. Da ist es freilich nicht verwunderlich, wenn die Nation, welche vor der Geschichte der Menschheit ewig das Kainszeichen von Hiroshima und Nagasaki tragen wird, wenn diese Nation versucht, sich hinter moralischen Superlativen zu vernebeln. Sie braucht kein Recht zu beugen: Recht ist hier nie gewesen! Im Ganzen nicht wie im Einzelnen. Es diktiert die Macht. Und diese Macht will Opfer. Wir sind solche Opfer. Ich bin ein solches Opfer …"

Epilog
Im Januar 1951 fand in Landsberg eine Kundgebung mit rund 3.000 Teilnehmern gegen das am Stadtrand gelegene Lager für jüdische "displaced persons" statt. Der Bürgermeister erklärte damals vor der jubelnden Menge: "Juden sollen dorthin zurückgehen, woher sie gekommen sind." Die Menge antwortete daraufhin mit Rufen wie: "Juden raus!" Allmählich legte sich der Zorn, den viele über die Todesurteile und vermeintliche Rachejustiz der Alliierten hegten. Das Interesse an Brandt und den anderen Kriegsverbrechern des Dritten Reichs versiegte. Pastor Fritz deutete sogar die Geschichte um und erklärte gegenüber der BBC: "Brandt war kein schlechter Mensch, aber er war ein Idealist … Wenn man den Mut hatte, streng und fest mit ihm zu reden, dann wagte er nicht, etwas zu tun."

Brandt war weder ein Psychopath noch ein Antisemit. Einige Beobachter sehen in ihm den "anständigen Nazi", betonen aber gleichzeitig, dass dieser Typus für viele der Verbrechen des Regimes verantwortlich war. Er war wohl ein talentierter Arzt und ein intelligenter Mann, der sich vielleicht sogar selbst davon überzeugt hatte, dass er als Idealist ethisch handelte. Wir sollten uns ernsthaft fragen, wie sicher wir sein können, dass wir an seiner Stelle nicht ähnlich gehandelt hätten. Falsch verstandener Gehorsam, übertriebener Ehrgeiz, Rücksichtslosigkeit, Missachtung von Menschenleben und Menschenwürde, Mangel an Empathie mit schwer Leidenden sind Eigenschaften, die sicher nicht ausgestorben sind.

Brandts Geschichte sollte uns eine Lehre sein, die uns an die Gebote der medizinischen Ethik erinnert. Krasse Verletzungen dieser Gebote, die nach dem Nürnberger Ärzteprozess erstmals schriftlich fixiert wurden, gibt es leider auch heute noch. Wir schulden es den Opfern von Brandts Verbrechen, so meine ich, dass seine Geschichte nicht vergessen wird, sondern als eine wichtige Mahnung weiterlebt.
(Edzard Ernst, 10.2.2024)

Edzard Ernst ist deutsch-britischer Mediziner und Emeritus-Professor der University of Exeter. Er hatte dort die erste Professur für die Erforschung von Alternativmedizin in Großbritannien inne. Er ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem von "Gesund ohne Pillen – was kann die Alternativmedizin?" (mit Simon Singh), und hat sich im Laufe seiner Karriere immer wieder mit NS-Medizin und ihren Nachwirkungen (auch an der Uni Wien) beschäftigt.

Die grauenhaften Verbrechen des Doktor Karl Brandt
 
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