Die Nationalsozialisten versuchten im Zuge ihrer Rassenpolitik sogenannten „erbgesunden“ Nachwuchs zu fördern. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Entbindungsheime des SS-Vereins „Lebensborn“, dessen Ziel es war, die Geburtenziffer „arischer“ Kinder zu erhöhen. Das größte „Lebensborn“-Entbindungsheim stand im Wienerwald. Historiker suchen nun Zeitzeugen, die über die Geschichte des „Heim Wienerwald“ zwischen 1938 und 1945 Auskunft geben können, berichtet die Austria Presse Agentur am Mittwoch.
Nicht nur Vernichtung „unwerten“ Lebens stand im Zentrum der nationalsozialistischen Rassenpolitik, sondern auch eine Steigerung der Zahl der Geburten von Kindern „arischer“ Herkunft. Dazu unterhielt der 1935 gegründete SS-Verein „Lebensborn“ zwischen 1936 und 1945 neun Entbindungsheime auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, 15 weitere wurden in Österreich, Luxemburg, Belgien, Frankreich und Norwegen betrieben.
Privat: Helga S., Wien
Postkarte: „Lebensborn“-Heim „Wienerwald“
1.300 Kinder kamen im „Heim Wienerwald“ zur Welt
Es gab auch Gerüchte, dass in den Heimen SS-Männer und vorzugsweise blonde, blauäugige Frauen des Bundes Deutscher Mädel (BDM) zum Zweck der Zeugung „zusammengeführt“ wurden. Das sei aber historisch nicht haltbar, heißt es am Mittwoch in einer Aussendung des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz, das in einem Forschungsprojekt die Geschichte des „Heims Wienerwald“ aufarbeiten will.
Das 1904 als Lungenheilanstalt von den beiden Lungenspezialisten Hugo Kraus und Arthur Baer, zwei jüdischen Ärzten, errichtete „Sanatorium Wienerwald“ wurde damals von Patienten aus der ganzen Welt besucht. Der Andrang war so groß, dass sich die beiden Ärzte entschlossen, das ursprünglich für etwa 90 Patienten ausgelegte Haus entscheidend zu vergrößern. Persönlichkeiten wie etwa Ignaz Seipel, der am 2. August 1932 dort verstarb, Theodor Innitzer oder Franz Kafka im Jahr 1924 zählten zu den Patienten der auf etwa 530 Metern Seehöhe gelegenen Höhenklinik.
Rund 1.300 Kinder kamen in dem von den Nazis 1938 „arisierten“ Gebäude zur Welt. Über die Mütter und Kinder ist bis heute relativ wenig bekannt. Die Forscher gehen davon aus, dass viele nicht nur aus dem Gebiet des heutigen Österreichs stammten, sondern auch aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Norwegen und wieder dorthin zurückkehrten.
Heinz H., Wien
Heinz H. wurde im Jahr 1939 im „Heim Wienerwald“ geboren. Die Mutter war 16 Jahre alt, als sie schwanger wurde und die Möglichkeit erhielt, im Entbindungsheim ihren Sohn zur Welt zu bringen. Seine Eltern heirateten wenige Wochen nach seiner Geburt.
Biografische Hintergründe beschäftigen Forscherteam
Projektleiterin Barbara Stelzl-Marx und ihr Kollege Lukas Schretter wollen neben der Geschichte des Ortes und dem Umgang damit nach dem Krieg mehr über die Sozialstruktur der Mütter, die biografischen Hintergründe der Väter, das Personal, den Alltag im Heim und vor allem über die Kinder und ihre weiteren Lebensläufe herausfinden. Dafür suchen die Historiker nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Männer und Frauen, die im „Heim Wienerwald“ geboren wurden und ihre Lebensgeschichten erzählen wollen. Die Wissenschafter sind zudem an Fotografien, Objekten und Dokumenten interessiert, die mit der Geschichte des Heims in Verbindung stehen.
Suche nach Zeitzeugen
Die Forscher bitten Zeitzeugen um Kontaktaufnahme unter der Telefonnummer 0316/380-8272 oder per
E-Mail
Schätzungen zufolge kamen in den rund zwei Dutzend „Lebensborn“-Entbindungsheimen Tausende Kinder zur Welt. Dort wurden anonyme Entbindungen unverheirateter Frauen, die nach den Kriterien der NS-Rassenideologie als „erbbiologisch wertvoll“ galten, ermöglicht, aber auch Adoptionen abgewickelt. Zudem wurden auch Kinder verheirateter Paare in den Heimen geboren. Der Verein war ab 1943 auch in die „Eindeutschungsaktion“ Hunderter Kinder, insbesondere aus dem heutigen Polen, eingebunden.
Nach 1945 waren den Angaben der Historiker zufolge viele „Lebensborn“-Kinder mit den Folgen ihrer Herkunft konfrontiert und bemühten sich, mehr über die Umstände ihrer Zeugung, Geburt und ihre ersten Lebensjahre zu erfahren.
Privat: Helga S., Wien
Ein Gruppenfoto mit Angestellten des Heimes „Wienerwald“ mit Müttern und „Lebensborn“-Kindern, Ostern 1944
„Heim Wienerwald“ ist heute eine Ruine
Das „Heim Wienerwald“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert und unter anderem als Kindererholungsheim des Wiener Jugendhilfswerks, Urlauberheim des Gewerkschaftsbundes und Rehabilitationszentrum der Wiener Gebietskrankenkasse genutzt, heute ist es eine Ruine. In den vergangenen Jahren sorgten immer wieder illegale Partys für Aufregung und Lärmbelästigung unter Anrainern.
28.10.2020, red, noe.ORF.at/
Agenturen
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