"Laster der Selbstbefleckung" - Kampagne von Klerus und Pädagogen gegen "unzüchtige" Verhaltensweisen von Schülern in der Habsburgermonarchie

josef

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GESCHICHTE ÖSTERREICHS
"Laster der Selbstbefleckung": Anti-Masturbations-Kampagnen in der Habsburgermonarchie
Anfang des 19. Jahrhunderts fand der Kampf gegen die Selbstbefriedigung Eingang in die österreichische Pädagogik. Lehrkräfte wurden dafür sensibilisiert, "unzüchtige" Verhaltensweisen zu erkennen und zu unterbinden
"Man gewöhne die Kinder, anständig zu sitzen; lasse sie ohne Mäntel kommen und habe eine ununterbrochene Aufsicht auf alles, was vorgeht. […] So wird es nie geschehen können, daß im Beiseyn des Lehrers ein Knabe den andern das Laster lehre, oder an ihm treibe, wie der Volkslehrer erzählt."
Diese Warnung des Privatlehrers Johann Friedrich Oest (1755–1815) findet sich in seinem preisgekrönten Aufsatz "Wie man Kinder und junge Leute vor dem Laster der Unzucht verwahren könne" (1787).

Plötzlich im Fokus: Die kindliche Sexualität
Ab dem 17. Jahrhundert produzierten Experten aus Medizin und Pädagogik sowie Vertreter des Klerus, zuerst in England, umfangreiche Literaturen zum "Laster der Selbstbefleckung". Diese enthielten detaillierte Schilderungen von Krankheitssymptomen und körperliche und geistige Folgen, die damit in Verbindung gebracht wurden. Dabei stützte man sich auf Konsultations- und Brieftexte von vermeintlichen Onanistinnen und Onanisten im medizinischen Kontext. In diesen Berichten, die oft im Stil von Beichten verfasst waren, wurde drastisch beschrieben, welche Konsequenzen das Masturbieren hätte. So galt zum Beispiel eine gelbliche Verfärbung der Haut als sichtbares Zeichen, dass jemand diesem "Laster" frönte.

Der Onanie vorzubeugen, wurde zum zentralen Anliegen von Anti-Masturbations-Kampagnen, die im deutschsprachigen Raum ihren Höhepunkt in den 1780er- und 1790er-Jahren erreichten. Ende des 18. Jahrhunderts waren vor allem Pädagogen die Wortführer der Debatte. In ihren Werken kann man nachvollziehen, welche Auswirkungen dieser Diskurs um Masturbation auf Lehrwerke und gesetzliche Bestimmungen der Zeit hatte. Bemerkenswert ist, dass die Kampagnen überhaupt erst ein breiteres Bewusstsein für sexuelles Verhalten im Kindes- und Erwachsenenalter schufen. Die Historikerin Isabel Hull bringt diese diskursive Veränderung auf den Punkt: "some people suddenly discovered they had been having sex all their lives (and that it was dangerous)."

Die Schule als Ort der Gefahr
Zurück zur Warnung des Privatlehrers Oest: Sie enthält das wichtige Element der möglichen "Ansteckung" mit dem "Laster" durch gleichaltrige Jungen. Der Fokus der Debatte lag zwar auf männlichen Schülern, die, wie man schrieb, einander ins Verderben reißen würden, doch es gab durchaus auch Besorgnis um Mädchen. In der Vorstellung der Aktivisten würden Mädchen alleine und zufällig zu masturbieren beginnen. Das führte dazu, dass man monotone Bewegungen der Hände mit Argwohn betrachtete, obwohl die emsige Arbeitsamkeit grundsätzlich als besonders wichtig galt. So wurde die Haltung, in der Mädchen Handarbeiten ausführten, genau beobachtet. Die Berührung mit "erregbaren Körperteilen" sollte dabei vermieden werden. Oest berichtete über Näh- oder Strickschulen für Mädchen:

"Eben dieses gilt von Näh- und Strickschulen, wo noch dazu jedes Mädchen so leicht sein eigener Verführer wird. Kennt man nicht die Person, die hier Aufseherin ist, und ist man nicht von ihrer Aufmerksamkeit gerade auf dies unselige Laster überzeugt, so behalte man seine Kinder zurück […]."

Pädagogische Fragen zur Masturbation – beantwortet.
Foto: Gemeinfrei

Gefahr für die göttliche Ordnung
In der Habsburgermonarchie war die katholische Kirche ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die Masturbation, da der Klerus als Schnittstelle zwischen staatlichen Behörden und dem Lehrpersonal bis zum Reichsvolksschulgesetz 1869 die Schulaufsicht innehatte. Lehrkräfte wurde geraten, das Sitzen auf Stuhlecken oder das Übereinanderschlagen der Beine zu verbieten. Und auch auf die ständige Sichtbarkeit der Hände sollte geachtet werden. Diese heute kuriosen Ratschläge fanden sogar Eingang in die politische Verfassung der deutschen Schulen von 1805: "[Der Lehrer] dulde nicht […] das öftere Hinausgehen, das unanständige Sitzen und Verbergen der Hände."

Weitere Handlungsanleitungen folgten auf 14 Seiten des 1813 veröffentlichten zweiten Teils des "Allgemeinen Lehrbuch der Erziehungskunde". Dieses wurde vom späteren Wiener Erzbischof Vinzenz Eduard Milde für die Schulung des Lehrpersonals verfasst. Milde bekleidete von 1806 bis 1810 den ersten Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften an der Universität Wien. Mit seiner Publikation hielt der Anti-Masturbations-Diskurs Einzug in die österreichische Pädagogik. Der Geistliche warnte eindringlich: "Der Geschlechtstrieb ist ein mächtiger, gefährlicher, und, wenn er ausartet, schädlicher Trieb. […] Dieser Trieb bedarf daher der Aufmerksamkeit und Leitung des Erziehers."

Freundschaft und Zuneigung wurden zwar als frei von "unmoralischen" Gedanken angesehen, trotzdem könne es dabei zu einer starken Anziehung kommen: "In Erziehungshäusern und Schulen verdienen die heftigen Freundschaften, unter denen die Geschlechtsliebe sich verbirgt, eine besondere Aufmerksamkeit, weil nicht alle Zöglinge eines reinen Herzens sind." Milde führte aus, dass das Ausüben der "Selbstschwächung" – eine weitere Bezeichnung für Masturbation – für eine mentale Veränderung verantwortlich wäre. Diese Veränderung äußerte sich laut Milde in einer Verlagerung der Objektwahl, oder anders ausgedrückt: "[…] plötzlichen Gleichgültigkeit gegen das andere Geschlecht, und dagegen leidenschaftlichen Hang zu Personen desselben Geschlechtes, […]."

Vorstellung der "Ansteckung" durch Fabrikskinder
In Berichten über die Lage der sogenannten Fabrikskinder findet sich die Vorstellung der "Ansteckung" besonders häufig. Deren Unterricht wurde vom Klerus daher ganz besonders in den Fokus gerückt. Bereits in der ersten Gesetzgebung zu Kinderarbeit in Fabriken in der Habsburgermonarchie 1786, forderte Joseph II. vor allem aus hygienischen Überlegungen Einzelbetten. Dreißig Jahre später konzentrierten sich die Bedenken Geistlicher exklusiv auf mögliches unmoralisches Verhalten. 1816 dazu aufgefordert, über die Lage der arbeitenden Kinder in den Fabriken im sogenannten Industrieviertel südlich von Wien zu berichten, waren "zwei Knaben in einem Bette" ein dominierendes Thema der katholischen Schulaufseher. Im Gegensatz zur mangelnden Umsetzung des eigentlich obligatorischen Unterrichts, führte die Tatsache, dass sich zwei Buben ein Bett teilten, dazu, dass prompt rechtliche Schritte gegen die Fabriksinhaber eingeleitet wurden.


Selbstbefriedigung galt als Laster, Selbstbefleckung, unmoralisch – und sollte unterbunden werden.
Foto: Gemeinfrei

Auffällig ist die enge Verbindung dieser Debatten mit Vorstellungen devianten Verhaltens sozial benachteiligter Bevölkerungsschichten, auf deren Disziplinierung die Behörden ein besonderes Augenmerk legten. Die Anti-Masturbations-Kampagnen bewirkten, dass Sexualität, die nicht zum Zweck der Fortpflanzung diente, als gefährlich eingestuft wurde. Besonders Kinder, die in religiöser Auffassung als unschuldige Wesen galten, sollten "geschützt" werden. Erziehende wurden ermahnt, jegliche sexuelle Regung von Kindern zu unterdrücken und sie von Wissen über den Körper und seine Funktionen fernzuhalten. Im größeren Diskurs um Sexualität wurde weibliches Begehren im 19. Jahrhundert schlichtweg geleugnet. Wie wirkmächtig die in diesem Beitrag beschriebenen Diskurse sind, zeigt die Gegenwart. Selbstbefriedigung gilt zwar nicht mehr als Krankheit, doch ist in vielen sozialen Kontexten nach wie vor mit Scham besetzt.
(Waltraud Schütz, 29.10.2021)

Waltraud Schütz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Geschlechtergeschichte am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Ihre 2018 abgeschlossene Dissertation handelt von Privatschulinhaberinnen und -inhabern im Kontext der Entstehung des österreichischen Bildungswesens.
"Laster der Selbstbefleckung": Anti-Masturbations-Kampagnen in der Habsburgermonarchie
 
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