Am 26. April 1986, also vor ziemlich genau 39 Jahren,
explodierte der Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat rund 100 Kilometer entfernt von Kiew. Bei dem Unglück und unmittelbar danach kamen über 40 Personen ums Leben, durch die Folgen der radioaktiven Verstrahlung dürften mittlerweile mehrere Tausend Menschen gestorben sein.
Der damalige sowjetische Atommeiler wurde zunächst mit einem provisorischen "Sarkophag" ummantelt, der
später von einer haltbareren Lösung ersetzt wurde. Von den ursprünglich rund 190 Tonnen Reaktorkernmasse befinden sich Schätzungen zufolge immer noch rund 150 bis 180 Tonnen unter der Schutzhülle.
Die neue Schutzhülle über dem Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Rund 30 Kilometer jenseits dieser strikten Sperrzone leben dauerhaft Menschen, Landwirtschaft ist dort aber offiziell nicht gestattet. Eine nun vorgestellte Studie zeigt, dass dies in manchen Gegenden aber unbedenklich wäre.
Foto: AFP/DIMITAR DILKOFF
Sperrzonen um die Reaktorruine
Darüber hinaus wurde eine fast 3000 Quadratkilometer große Sperrzone eingerichtet, die sich in ein Naturparadies verwandelte, in dem das natürliche
Leben von Menschen unbeeinflusst gedeiht. Nach der Evakuierung der Einwohnerinnen und Einwohner wurden die Städte Prypjat und Tschernobyl in diesem gigantischen Naturreservat zu Geisterstädten. Der Zugang zu diesem Sperrgebiet wird von der Ukraine streng kontrolliert und ist nur mit Genehmigung gestattet. Bis zur russischen Invasion der Ukraine 2022 war mit einer solchen Genehmigung auch Touristen der Besuch der Zone möglich.
An die eigentliche Sperrzone von Tschernobyl schließt sich ein gut 2000 Quadratkilometer großes Gebiet, in dem zwar keine Evakuierungen stattfanden, aber auch keine neuen Gebäude entstehen dürfen. In dieser Zone, in der tausende Menschen leben, darf aufgrund der befürchteten Kontaminierung mit strahlendem Cäsium-137 und Strontium-90 des Bodens offiziell auch keine Landwirtschaft mehr betrieben werden. Doch das hat einige Bauern nicht davon abgehalten, hier weiterhin Gemüse und Getreide anzubauen.
Ausstehende Neubewertung
Ein Forschungsteam der Universität Portsmouth (Großbritannien) und des Ukrainischen Instituts für Agrarradiologie geben diesen Landwirten nun offenbar recht. Ihre im
Journal of Environmental Radioactivity präsentierte Studie kam zu dem Schluss, dass die Produktion von Lebensmitteln in den meisten Gebieten dieser Zone mittlerweile wieder sicher ist.
Die Gruppe um Jim Smith hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich das verseuchte Land neu bewerten lässt. Ziel der Forschenden war es, herauszufinden, wo in dieser Zone wieder Ackerbau ohne Gefahren für Menschen oder Umwelt möglich ist. Schon seit den 1990er-Jahren vertreten Fachleute aus der Ukraine und anderen Ländern die Ansicht, dass Teile dieser Flächen durchaus wieder sicher genutzt werden könnten. Die Belastung durch radioaktive Stoffe sei in vielen Bereichen niedrig genug, so die häufig geäußerte Ansicht. Politische Hürden und das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber der Strahlung sorgten allerdings dafür, dass es nie zu einer offiziellen Neubewertung kam.
Die verschiedenen Gefahrenzonen rund um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl. Die kräftig magentafarbene "exclusion zone" ist für Menschen weitgehend tabu. In der "compulsory relocation zone" jedoch wäre Landwirtschaft in einigen Bereichen wieder unbedenklich, ergab die aktuelle Studie.
Grafik: University of Portsmouth/Jim Smith et al.
Unter den Grenzwerten
Möglicherweise können die nun präsentierten Daten eine Änderung in der Haltung herbeiführen. In einem 100 Hektar großen Testgebiet in der Region Schytomyr erarbeiteten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter ein Verfahren, das auf Bodenanalysen und der Messung externer Gammastrahlung basiert. Damit lässt sich zuverlässig abschätzen, wie viel Strahlung landwirtschaftliche Arbeiter ausgesetzt sind und wie stark gängige Kulturpflanzen wie Kartoffeln, Mais, Getreide oder Sonnenblumen belastet werden könnten.
Die Resultate zeigten, dass die Strahlendosis, die Menschen beim Arbeiten auf den Feldern abbekommen, deutlich unter dem ukrainischen Grenzwert liegt. Sie ist sogar geringer als die natürliche Hintergrundstrahlung, die in vielen Regionen der Welt ganz normal auftritt. Mit regelmäßiger Kontrolle und der Einhaltung der ukrainischen Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit könnten also viele Feldfrüchte wieder angebaut werden. Zwar nicht überall in dieser Zone, aber dennoch in weiten Teilen der vormals gesperrten Flächen.
Viele Fehlinformationen
"Diese Forschung ist wichtig für die vom Tschernobyl-Unglück betroffenen Gemeinschaften", sagte der Umweltwissenschafter Smith von der Universität Portsmouth. "Seit 1986 gibt es eine Menge Fehlinformationen über Strahlenrisiken aus Tschernobyl, die sich negativ auf die Menschen ausgewirkt haben, die in diesen Gebieten weiterleben. Wir haben jetzt einen wissenschaftlich fundierten Ansatz, um wertvolles Ackerland wieder offiziell nutzbar zu machen – und das mit Nachweis der Sicherheit für Verbraucher und Arbeiter."
Die Forschenden hoffen, dass ihr Verfahren auch in anderen Regionen zum Einsatz kommen kann, die unter langfristiger radioaktiver Belastung leiden. Für die Ukraine sei es eine große Chance, schrittweise bis zu 20.000 Hektar Agrarland zurückzugewinnen. Auf den Anbau bestimmter Feldfrüchte allerdings, und dazu zählen vor allem Hülsenfrüchte wie Bohnen, Erbsen und Linsen, müsste man jedoch weiterhin verzichten werden, da diese dazu tendieren, bestimmte Radionuklide aus dem Boden in höheren Konzentrationen aufzunehmen und anzureichern.
Wichtige Nutzflächen zurückgewinnen
Insgesamt aber sei eine Reaktivierung der Feldflächen nach Meinung des Teams ein notwendiger Beitrag zur Ernährungssicherheit und zur Entwicklung ländlicher Räume in der Ukraine, was gerade in Zeiten, in denen landwirtschaftliche Nutzflächen weltweit unter Druck stehen, besonders wichtig wäre.
Der Atomik-Wodka sei ein Genuss und keineswegs schädlich, erklärten die Forschenden, die ihn aus Wasser und Getreide aus der Gegend rund um Tschernobyl gebrannt haben.
Foto: APA/AFP/University of Portsmouth
Dass landwirtschaftliche Produkte aus dieser Region durchaus genießbar sind, haben einige Forscher, die auch an der aktuellen Studie beteiligt waren, bereits vor sechs Jahren
mit einem Schnaps unter Beweis gestellt, dessen Zutaten aus dieser Gegend kamen. Das Team brannte aus Getreide, das innerhalb der Sperrzone angebaut worden war, und mit Wasser aus einem Brunnen in der Nähe von Tschernobyl einen Wodka mit dem launigen Namen "Atomik", der nach eigenen Angaben absolut unbedenklich sei und angeblich in einem Martini hervorragend schmeckte.
"Das ist nicht nur eine Geschichte über Tschernobyl. Es geht darum, Wissenschaft und Beweise anzuwenden, um Menschen zu schützen und gleichzeitig sicherzustellen, dass Land nicht unnötig brachliegt", sagte Smith. Allerdings sei die Studie auch kein Freibrief für die uneingeschränkte Rückkehr zur Normalität, betont das Team. Nicht jedes Stück Boden sei gleich gefährlich, nicht jedes Risiko gleich groß. Aber mit klaren Regeln und auf Grundlage verlässlicher Daten ließen sich vermeintlich verlorene Gegenden gleichsam wieder zum Leben erwecken, so die Forschenden. (Thomas Bergmayr, 7.5.2025)