1919 - 2019: 100 Jahre Südtirol

josef

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#1
100 Jahre Südtirol: Spielball der Geschichte

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Am 10. September 1919 kam die Hiobsbotschaft: Südtirol kommt zu Italien, der Brenner wird zur Grenze mitten in Tirol. 100 Jahre danach hat Europa die Brennergrenze verwischt und aus dem lange in der Opferrolle verharrenden Südtirol ist ein selbstbewusstes Land geworden – mit einer komplexen Identität.
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Vor 100 Jahren kam es – um mit den Worten Franz Werfels zu sprechen – zum „Schädelgrundbruch Europas“. Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges wurde der alte Kontinent auf der Friedenskonferenz in Paris neu geordnet. Am 10. September 1919 wurde jenes Papier unterzeichnet, mit dem der Brenner zum Grenzort zwischen Italien und Österreich wurde. Der Vertrag von St. Germain ist auch die schriftliche Gründung des heutigen Südtirol. Damit wurde klar, dass Südtirol ab diesem Zeitpunkt zu Italien gehörte.

Kollateralschaden des Ersten Weltkrieges
Südtirol als Provinz Italiens sei ein Kollateralschaden des 1. Weltkrieges, sagt der Bozner Historiker Hannes Obermair. Nur drei Jahre nach dem Vertrag von St. Germain manifestierte sich in übelster Weise, wie fatal das für die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung war.
1922 kamen Mussolinis Faschisten in Italien an die Macht. Aus Südtirolern sollten gewaltsam Italiener werden. Historische Ortsnamen wurden abgeschafft – auch der Name Tirol. Familiennamen wurden „italianisiert“, die deutschen Schulen verboten. „Die Hauptschuld des faschistischen Regimes bestand gewiss darin, die ohnedies heikle Südtirol-Frage verschärft zu haben – durch eine radikale und rücksichtslose Politik der Italianisierung. Diese Schuld ist nicht nur auf die 20-jährige Herrschaft des Faschismus begrenzbar. Das Erbe der faschistischen Gewalt wirkte in Südtirol noch jahrzehntelang nach, ja vielleicht wiegt diese Last noch heute schwer“, sagt Andrea Di Michele, Historiker an der Freien Universität Bozen.


ORF
Die „Option“ der Diktatoren spaltete die Südtiroler

Hitlers und Mussolinis teuflischer Plan
1939 beschlossen Adolf Hitler und Benito Mussolini die Umsiedlung der Südtiroler. Die sogenannte „Option“ spaltete die Bevölkerung. 86 Prozent entschieden sich für die Auswanderung ins Deutsche Reich. 75.000 Menschen verließen bis 1943 tatsächlich die Südtiroler Heimat. Die Hoffnung auf ein besseres Leben im Deutschen Reich wurde allerdings radikal enttäuscht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Südtirol bei Italien. Österreichs Außenminister Karl Gruber und Italiens Regierungschef Alcide Degasperi unterschrieben 1946 in Paris einen Vertrag. Er bildet das Fundament des Ersten Südtiroler Autonomiestatuts 1948. Allerdings musste sich Südtirol die Autonomie mit dem italienischsprachigen Trentino teilen. Der Missmut im Lande wuchs und gipfelte 1957 in einer Großkundgebung auf Schloss Sigmundskron bei Bozen. Silvius Magnago, der Obmann der Südtiroler Volkspartei, verlangte das „Los von Trient“, nicht das „Los von Rom“. Das enttäuschte die ethnischen Hardliner. Bald lag Dynamitgeruch in der Luft.


ORF
In der Feuernacht 1961 werden Dutzende Masten gesprengt

Zwischen Diplomatie und Terror
Südtirol schwankte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen Diplomatie und Terror. 1961 wurden in der sogenannten „Feuernacht“ Hochspannungsmasten in die Luft gesprengt. Die Weltöffentlichkeit sollte erfahren, dass Italien den Südtirolern nur eine kümmerliche Autonomie gewähre. Dank Österreichs Engagement wurde an internationalen Verhandlungstischen um eine echte Autonomie gerungen. Das Ergebnis war ein Maßnahmen-Paket. „Die Attentate mögen einen Anteil daran haben, viel wichtger aber waren die Friedfertigkeit und zähe Verhandlungen“, so die Einschätzung des Brixner Historikers Hans Heiss.


ORF
Landeshauptmann Silvius Magnago verhandelt Südtirols Autonomie

Südtirols Landeshauptmann Silvius Magnago sprach sich für die „Paket“-Annahme aus. Im November 1969 segnete die Südtiroler Volkspartei das Paket ab. Das machten später auch die Parlamente Italiens und Österreichs. 1972 trat das Zweite Autonomiestatut in Kraft. Es gewährte Südtirol mehr Selbstverwaltung.

Italienisches Unbehagen
Die neue Autonomie stieß aber auch auf Ablehnung. In der italienischen Sprachgruppe wuchs ab den 70er Jahren der „disagio“, das Unbehagen. Viele Italiener fühlten sich abgehängt, von Rom verraten. Nationalistische und postfaschistische Parteien wurden in der mehrheitlich italienischsprachigen Landeshauptstadt Bozen deutlich stärker gewählt als etwa im restlichen Staatsgebiet.
„Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns“ – das war das Dogma der Volkstumspolitik nach 1969. Ein wahres Miteinander der Sprachgruppen blieb aus. Ab den 1990er-Jahren kam es immerhin zum pragmatischen Zusammenleben in einem wohlstandsverwöhnten Land. Aus dem in der Opfer-Rolle verharrenden Land wurde ein selbstbewusstes Südtirol. Die europäische Integration verwischte zudem die Grenze.


ORF
Am Brenner fielen im April 1998 die Grenzbalken

Mit dem Schengener Abkommen wurden am 1. April 1998 die Grenzbalken am Brenner abmontiert. Die Europaregion Tirol mit dem Zusammenrücken des österreichischen Bundeslandes Tirol und der Provinzen Südtirol und Trentino südlich des Brenners ist Gegenwartsversuch und Zukunftshorizont zugleich. 50 Jahre nach dem „Paket“ und 100 Jahre nach dem Vertrag von St. Germain beginnt nach Ansicht vieler Beobachter erst richtig die Selbstfindung einer Region mit komplizierter Identität.
10.09.2019, Patrick Rina/Ute Niederfriniger; tirol.ORF.at
Zeitgeschichte: 100 Jahre Südtirol: Spielball der Geschichte
 

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#2
Eine Uni und Österreichs Italien-Frage

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Universitäten können Seismografen für gesellschaftliche Entwicklungen und Spannungen einer Zeit sein. Wenn die westlichste Universität des Landes am Freitag ihr 350-Jahr-Jubiläum begeht, wird deutlich, dass diese Institution im Zentrum großer historischer Umwälzungen stand. Der Streit zwischen Italien und Österreich vor dem Ersten Weltkrieg entzündete sich immer wieder an der Universität Innsbruck – und auch den Verlust Südtirols 1919 wollte man hier wissenschaftlich verhindern.
Wenn die Habsburgermonarchie zu Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts so manche Frage des geeinten, mehrsprachigen Europas vorweggenommen (und vielleicht auch vorhergesehen) hat, dann ist die Universität Innsbruck mit ihrer Geschichte ein Seismograf für Umgang und Debatten eines Vielvölker- und damit Mehrsprachenstaats. Braucht es eine starke, gerade die Administration verbindende Einheitssprache? Oder muss man möglichst vielen unterschiedlichen Kulturen auf jeder Ebene eine Chance zur Repräsentation geben?

Als man mit 1859 und 1866 die Lombardei und Venetien verloren hatte, kam der Universität Innsbruck eine Rolle in verstärktem Maße zu: Sie sollte die Funktion einer italienischen Universität für die italienischsprachigen Bürger Cisleithaniens übernehmen. Womit sich die Frage stellte, ob Italienisch auf Tiroler Boden offizielle Unterrichts- und vor allem Prüfungssprache sein sollte. Das immerhin in Zeiten des erstarkenden italienischen Nationalbewusstseins (Risorgimento) auf der einen Seite und des erstarktem Deutschnationalismus nach 1848 gerade im Bereich akademischer Verbände auf der anderen.


Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Deutsch als einende Klammer?
Der Versuch, italienischsprachige Akademiker in ihrer Landessprache zu habilitieren und damit mit einer Lehrbefugnis an der Universität auszustatten, hatte im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts an der Uni Innsbruck zu zahlreichen Verwerfungen geführt. Die Administration in Wien, etwa in Gestalt der Reformen von Unterrichtsminister Leo Graf von Thun-Hohenstein, wollte Deutsch als einende Klammer im Reich in Verwaltungsfragen und damit auch im akademischen Bereich durchsetzen.

Dem hätten, wie etwa der Historiker Christoph Aichner erinnert, das Recht der Uni auf Gestaltungsautonomie ebenso entgegengestanden wie eine pragmatische Überlegung: „Die Universität argumentierte, dass nur bei italienischen Prüfungen garantiert sei, dass italienische Studenten die Prüfung bestehen konnten.“ Im damaligen Kronland Tirol meinte der Begriff Südtirol ja tatsächlich den italienischsprachigen Teil Tirols, also die Gebiete südlich der Salurner Klause.

Für die italienischen Studenten um 1900 sei, wie die Expertin an der Uni Innsbruck für diese Frage, Gunda Barth-Scalmani, erinnert, „eine italienische Universität in Österreich“ das Maximalziel gewesen, gipfelnd auch in der Forderung einer Anstalt auf italienischsprachigem Boden: „Trieste o nulla“ („Triest oder nichts“). In Innsbruck hatte man sich seit 1864 für einen gewissen Pragmatismus entschieden; so konnten künftige Beamte an der Juridischen Fakultät Kurse in Italienisch ablegen. Der Versuch, den Trentiner Juristen Francesco Minestrina auf Italienisch zu habilitieren, hatte zu einem ersten Kulturkampf zwischen neuerdings selbstbewussten Italienern und Deutschtreuen geführt.

Eine kakanische Lösung
Wien suchte damals einen pragmatischen Ausgleich und schuf in Innsbruck die „selbständige rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit italienischer Vortrags- und Geschäftssprache“, für die man außerhalb der Universität in Wilten eine Wohnung adaptierte. Die geplante Lösung, erinnert Barth-Scalmani, habe niemanden zufriedengestellt: „Die Italiener erhielten nur eine Fakultät und keine Universität, und noch dazu in Innsbruck und nicht in Triest oder Trient, die Deutschen aller politischen Couleurs wollten keine italienische Einrichtung in Innsbruck.“

Die Eröffnung der Fakultät am 3. November 1904 war im aufgeheizten Klima der Zeit zwar erstaunlich ruhig verlaufen; eine Feier am Abend im Gasthof Weißes Kreuz sollte aber zum Pulverfass werden und in den „Fatti d’Innsbruck“ münden. Am Ende der Feierlichkeiten im Weißen Kreuz waren italienische und deutsche Studenten unterschiedlicher Couleurs aufeinandergestoßen – und gaben einen Vorgeschmack auf die aufgeheizte Stimmung, die das Habsburgerreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs durchzog.

Sammlung Barth-Scalmani
Der Innsbrucker Gasthof Zum Weißen Kreuz zur Jahrhundertwende

Ein Ladiner wird zum deutschen Märtyrer
Bei den Straßenkämpfen, die in der Nacht erst durch Beiziehung des Militärs beendet werden konnten, starb der Kunstmaler August Pezzey, ein Ladiner, den man sofort zum deutschen Märtyrer hochstilisierte. Sein Begräbnis mit 3.000 Teilnehmern wurde zum patriotischen Korso gegen die italienischen Umtriebe in Innsbruck umgedeutet. Auf italienischer Seite waren mit Cesare Battisti und Alcide De Gasperi (später bekannt durch das Gruber-De-Gasperi-Abkommen) zwei prominente Proponenten des italienischen Irredentismus beteiligt. Der Sozialist Battisti, der ja noch Abgeordneter des Reichsrats und Tiroler Landtags gewesen war, 1915 aber aufseiten Italiens im Krieg gegen Österreich eintrat, hatte ja bis zu seiner Hinrichtung 1916 in Trient die Meinung vertreten, dass die Salurner Klause die kulturelle Grenze zwischen Österreich und Italien sei. Damit stand er im Widerspruch zum Dichter und Aktivisten Gabriele D’Annunzio, der wie später der Faschist Ettore Tolomei die Grenze zwischen Italien und Österreich am Brenner gezogen sehen wollte.


OeNB/ANNO
Die Rezeption der Vorgänge in Innsbruck in den „Wiener Bildern“ am 9. November 1904

Die Wissenschaft für die Einheit Tirols
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bemühte sich die Uni Innsbruck vor allem, dem drohenden Verlust Südtirols wissenschaftliche Argumente entgegenzuhalten. In verschiedensten Publikationen versuchten die unterschiedlichen Fachbereiche, wie Ina Friedmann und Dirk Rupnow erinnern, „die Einheit Gesamttirols zu untermauern“. Historiker, Ethnografen, Sprachforscher und Rechtsexperten hätten versucht, „durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse die politische Zielsetzung zu unterstützen“. Alleine die Bemühungen der Universität blieben vergebens. Gegen die Ergebnisse des Vertrags von St. Germain gab die Universität im Frühjahr 1920 eine Erklärung heraus, um als „einer der ältesten Kulturträger in österreichischen Landen die Stimme zu erheben, um die Verzweiflung und Not eines Volkes, wie sie die Welt noch nie erlebt, der gesitteten Menschheit ins Bewusstsein zu hämmern“. In einer außerordentlichen Sitzung hielt der Akademische Senat schließlich am 10. Oktober 1920 eine „Trauerfeier“ ab und beendete so das Südtirol-Kapitel.

Universitätsarchiv Innsbruck
Eine Uni in einer am Anfang ungeliebten jungen Republik. Noch im April 1921 stimmten 98,8 Prozent der Tiroler für einen Anschluss an Deutschland. Der Blick auf das Hauptgebäude am Innrain mit dem Ehrenmal für die Kriegsgefallenen aus dem Jahr 1926.

Die politisierte Hinwendung zur Südtirol-Frage
Als Resultat dieser intensiven Beschäftigung mit Südtirol während der Jahre 1918 bis 1920 könne „die deutschnational geprägte und politisierte Hinwendung zu dieser Region an der Universität Innsbruck“ angesehen werden. Für den Zeithistoriker und Dekan an der Uni Innsbruck Dirk Rupnow ist die Auseinandersetzung mit den Etappen der eigenen Geschichte jedenfalls zentraler Auftrag für das jetzige Jubiläum, bei dem man auch genauer auf die Zeit des Nationalsozialismus an der Uni hinsieht.

„Es ist ein wichtiges Statement der Universität Innsbruck, sich im Jubiläumsjahr gewissermaßen selbst eine neue Geschichte zu schenken – und in dieser einen deutlich sichtbaren Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert mit seinen Brüchen und Verwerfungen, zwei Diktaturen und ihren Nachfolgen zu legen“, so Rupnow, der das Innsbrucker Institut für Zeitgeschichte leitet. Es gehe ja nicht darum, die 350 Jahre einfach abzufeiern, sondern einen vorbehaltlosen, durchaus selbstkritischen Blick auf die Innsbrucker Unigeschichte zu werfen, was viel zu lange unterblieben sei.

Abzuwarten ist, wie man in Tirol mit der Umgestaltung des Heldenadlers vor der Universität durch den Künstler Wolfgang Flatz reagiert. Für Freitag ist eine „Intervention“ im „Heiligen Land“ und an seinen Monumenten angesetzt.

350 Jahre Uni Innsbruck

Universitätsarchiv Innsbruck

Auf der Grundlage eines Jesuitengymnasiums und finanziert mit einer Sondersteuer auf das Salz aus Hall wurde am 15. Oktober 1669 durch Kaiser Leopold I. eine Volluniversität mit vier Fakultäten in Innsbruck gegründet.
Die Uni begeht ihre Geschichte mit einer Reihe an Sonderveranstaltungen, darunter einer Diskussion von Altbundespräsident Heinz Fischer mit der Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch am 17. Oktober 2019 im Kaiser-Leopold-Saal um 18.00 Uhr


Buchhinweis
Zur Geschichte der Universität erscheint bei der Innsbruck University Presse eine große dreibändige Forschungsgeschichte, herausgegeben von Margret Friedrich und Dirk Rupnow.

11.10.2019, Gerald Heidegger, ORF.at
 

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#3
Vor 100 Jahren Auszug der Südtiroler Abgeordneten
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Am 16. November 1920 hat die letzte Sitzung des Tiroler Landtags mit Abgeordneten aus allen drei Landesteilen stattgefunden. Durch den Friedensvertrag von Saint Germain wurde Tirol geteilt. Am Donnerstag gedachte der Landtag an den Auszug der Südtiroler Abgeordneten vor 100 Jahren.

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Der Friedensvertrag von St. Germain besiegelte am 10. September 1919 die Annexion Süd- und Welschtirols – das heutige Trentino – durch Italien. Am 10. Oktober 1920 wurde per Gesetz der Anschluss Süd- und Welschtirols an den italienischen Staat vollzogen. Damit mussten die Südtiroler Mandatare Abschied nehmen vom Hohen Haus in Innsbruck.

Trauersitzung des Tiroler Landtags am 16.11.1920
Die Südtiroler Abgeordneten zum Parlament der österreichischen Republik – wie zum Beispiel der Rechtswissenschaftler Eduard Reut-Nicolussi – mussten bereits Ende 1919 ihr Amt niederlegen. Im Tiroler Landtag blieben die Abgeordneten aus Südtirol noch ein Jahr länger.

Die letzte gemeinsame Sitzung der Tiroler Abgeordneten nördlich und südlich des Brenners fand am 16. November 1920 statt. Diese Sitzung wurde als Trauersitzung begangen, der Landtag wurde in schwarz gehüllt, die Plätze der Südtiroler Abgeordneten blieben frei.

Landtagsdirektion Tirol/Oswald
Im Rahmen des Gedenkakts wurde den Abgordneten ein Film präsentiert, der Zeitdokumente – etwa das Foto der Trauersitzung – der vergangenen 100 Jahre beinhaltet.

„Diese Sitzung markierte das vorläufige Ende einer jahrhundertealten, gemeinsamen Geschichte. Zugleich wurde aber auch das Ziel für kommende Generationen formuliert: Dass der Zustand dieser Zerreißung eines Tages überwunden werden wird“, führte die Präsidentin des Tiroler Landtags, Sonja Ledl-Rossmann, aus.

Erster Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
„Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Der Krieg und die Nachkriegsordnung brachten unvorstellbares Leid über Millionen von Menschen. Durch den Frontverlauf und die willkürliche Teilung Tirols war unsere Heimat besonders betroffen“, erinnert Euregio-Präsident LH Günther Platter mit den Landeshauptleuten Arno Kompatscher (Südtirol) sowie Maurizio Fugatti (Trentino) an die damalige Zeit.

100 Jahre später würden sich Nord-, Ost- und Südtirol zwar nicht in einem gemeinsamen Nationalstaat aber in einer eng vernetzten, in allen Lebensbereichen zusammenarbeitenden Europaregion wiederfinden, erklärte Ledl-Rossmann: „Und auch die Abgeordneten tagen wieder zusammen – im gemeinsamen Dreier-Landtag.“

1945 erstand die Demokratie in Tiroler wieder auf
Auch dem Schicksalsjahr 1945 wurde bei der Landtagssitzung am Donnerstag gedacht. In den ersten Maitagen gelang es dem Tiroler Widerstand in Verbindung mit dem US-Geheimdienst, Innsbruck weitgehend friedlich an die heranrückenden amerikanischen Truppen zu übergeben.
Bei einem Schusswechsel mit der SS am Landhaus wurde der Widerstandkämpfer Franz Mair verwundet. Er starb am 6. Mai an seinen Verletzungen. An diese Geschehnisse erinnert eine vorige Woche neu angebrachte Bronzetafel am Alten Landhaus.

Land Tirol/Kurzthaler
Am 25. November 1945 fanden in Tirol wieder freie Wahlen statt. Damit war die Demokratie wieder auferstanden.

20.11.2020, red, tirol.ORF.at
Vor 100 Jahren Auszug der Südtiroler Abgeordneten
 

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#4
Nicht italienisch, nicht deutsch: Südtirol und seine Geschichte
Italianisierungspolitik, Autonomiebestrebungen und das Nebeneinander und Miteinander von romanischem Süden und germanischem Norden
Vor hundert Jahren – am 10. Oktober 1920 – wurde das heute Südtirol genannte Gebiet des vormals österreichischen Kronlandes Tirol vom Königreich Italien annektiert. Diesem von den damaligen Zeitgenossen als tiefes Unrecht empfundenen Akt war der von den Siegermächten den Besiegten "diktierte" (wie es damals hieß) Friedensschluss von St. Germain (10. September 1919) vorausgegangen.

Von diesem Zeitpunkt an gab es ein Südtirolproblem
Die mehrheitlich deutsch- oder ladinischsprachige Bevölkerung des südlichen Tirol, zu dem in der Zeit der Habsburgermonarchie auch die mehrheitlich italienischsprachige Bevölkerung der Provinz Trient gezählt hatte, fand sich als italienische Region in einem Staat wieder, der angesichts seiner (relativen) nationalen Homogenität über wenig Erfahrung im Umgang mit Minderheiten verfügte. Zudem kam in diesem Italien im Oktober 1922 mit Benito Mussolini der Faschismus an die Macht, womit alle Ansätze zu einer Toleranzpolitik im Keim erstickt wurden.

Dadurch verhärteten sich die Fronten noch mehr: Einer radikalen Italianisierungspolitik – Verbot deutschsprachiger Namen, Schulen, Presseorgane, italienische Amts- und Gerichtssprache, Ansiedlung von Italienern aus dem Süden der Halbinsel als Arbeitskräfte für die rasante Industrialisierung – stand der kompromisslose Kampf für das "Deutschtum" Südtirols und die Aufhebung des "Unrechtsfriedens" gegenüber. Auch die Hoffnungen auf das nationalsozialistische Deutschland (insbesondere nach dem österreichischen "Anschluss" 1938) erfüllten sich nicht. Stattdessen einigten sich die beiden Diktatoren Hitler und Mussolini im September 1939 darauf, die Südtiroler vor die Wahl zu stellen: Sie hatten entweder nach Deutschland auszuwandern oder loyale italienische Staatsbürger zu werden.

Eine Marginalie der Weltgeschichte
Diese unmenschliche Entscheidung ("Option" genannt), bei der sich die überwiegende Mehrheit für Deutschland aussprach, auch wenn nur ein Bruchteil davon wirklich emigrierte, grub in Südtirol noch tiefere Gräben – diesmal auch noch zwischen die verschiedenen Gruppen der betroffenen Bevölkerung: die "Geher" und die "Dableiber". Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kein "Zurück nach Österreich" mehr. Südtirol war auch jetzt – wie 1919 – nur eine Marginalie der Weltgeschichte.


Erster-Weltkrieg-Denkmal am Tre Cime in den Südtiroler Dolomiten.
Foto: APA/AFP/MARK RALSTON

Nun allerdings, nach den traumatischen Kriegsjahren, konnten zwischen dem – mittlerweile republikanischen – Italien und der "Schutzmacht" Österreich die Grundlagen für eine moderne Minderheitenpolitik geschaffen werden: Ein Erstes Autonomiestatut wurde 1948 verabschiedet. Ein schwieriger, zum Teil auch mit Gewalt erstrittener Weg um weiterreichende Autonomieregelungen folgte. Mit den "Paket" genannten Autonomiebestimmungen wurde 1969 ein weiterer Maßnahmenkatalog von Minderheitsrechten für die Bevölkerung Südtirols beschlossen, der 1972 in ein Zweites Autonomiestatut mündete. Damals erhielt Südtirol auch seinen alten Namen zurück. Es hatte in der Zwischenzeit Alto Adige-Tiroler Etschland geheißen. Aber es bedurfte weiterer 20 Jahre, ehe Italien und Österreich mit der sogenannten Streitbeilegungserklärung 1992 die Südtirolfrage vor der Uno für beendet erklärten.

Der Grenzraum ist in Wirklichkeit ein Begegnungsraum
Seither gilt Südtirol als Musterbeispiel für das gedeihliche Miteinander zweier (beziehungsweise einschließlich der Ladiner dreier) Volksgruppen. Doch wirklich bewältigt ist diese Vergangenheit – angesichts von immer wieder aufflammenden Streitigkeiten, etwa um die Doppelstaatsbürgerschaft – bis heute nicht. Mangelnde historische Kenntnisse verhindern häufig auf beiden Seiten einen verständnisvollen Blick auf den jeweils anderen.

Mein vor kurzem erschienenes Buch "Geschichte Südtirols" will diesem Mangel abhelfen, indem es die Geschichte dieses Raumes als die Geschichte jenes Grenzraums erzählt, der er von allem Anfang an gewesen ist: Räter, Römer, Bajuwaren, Slawen – es war immer ein buntes Völkergemisch, das diesen Raum besiedelte. Mit der nationalistischen Brille des 19. Jahrhunderts vor dem Kopf wurde viel Energie von den Historikern auf beiden Seiten darauf ver(sch)wendet, aufzuzeigen, dass Südtirol immer schon "deutsch" beziehungsweise "italienisch" gewesen und wo genau "die" Grenze zwischen der einen und der anderen Sprache und Kultur verlaufen sei.

Tatsächlich ist dieser historische Grenzraum aber seit jeher ein Begegnungsraum zwischen Nord und Süd gewesen, der Norden "Italiens" und der Süden "Deutschlands", so wie ihn unzählige Reisende erlebt haben. Gerade auch die gemischtsprachigen Dialekte, die bezeichnenderweise ebenso im West-Ost- wie im Nord-Süd-Verlauf erkennbar sind, können als Indiz dafür gelten, dass das Mit- und Nebeneinander jahrhundertelang möglich war, ehe die verderbliche Leitidee des 19. Jahrhunderts – der ein- und ausschließende Nationalismus – die Fronten zwischen Italienern und "Deutschen" so verhärtet hat, dass sie im Ersten Weltkrieg gewaltbereit aufeinandertrafen und dann (als dessen Ergebnis) zwangsweise wieder vereint worden sind.
(Brigitte Mazohl, 27.11.2020)

Brigitte Mazohl ist Historikerin, em. o. Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck – bis 2017 war sie Präsidentin der Philosophisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie ist Obfrau der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs und leitet an der ÖAW die Arbeitsgruppe "Akademiegeschichte (1847–2022)". Es liegen von ihr zahlreiche Publikationen zur österreichischen Geschichte, zur Geschichte Tirols und zur Frauengeschichte vor. Ihr Buch "Geschichte Südtirols" – in gemeinsamer Autorschaft mit dem Zeithistoriker Rolf Steininger – erschien beim Beck-Verlag (München) im Jahr 2020.

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Nicht italienisch, nicht deutsch: Südtirol und seine Geschichte - derStandard.at
 

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#5
Euregio erforscht gemeinsam Geschichte
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Seit fünf Jahren betreiben die Universitäten Innsbruck, Bozen und Trient gemeinsame Geschichtsforschung. Die Forschungsergebnisse zu den drei Landesteilen Tirol, Südtirol und Trentino werden auf einer eigenen Internetseite publiziert.
Online seit gestern, 17.30 Uhr
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Seit 2018 arbeiten die drei Universitäten Innsbruck, Bozen und Trient am Projekt „Historegio“. Dabei handelt es sich um ein grenzüberschreitendes Forschungsvorhaben, das sich mit der Geschichte der drei Landesteile Tirol, Südtirol und Trentino beschäftigt. Damit werde vor allem die gemeinsame Geschichtsforschung über die Landesgrenzen hinweg intensiviert und die Vernetzung zwischen den Universitäten vorangetrieben, so das Land in einer Aussendung.

Die Historikerinnen und Historiker befassen sich mit drei Schwerpunktthemen: die Nationalisierung Tirols vor dem Ersten Weltkrieg, die Südtirolfrage aus italienischer Sicht und der technologische Fortschritt im Alpenraum.

Drei Länder, drei Themen
Geleitet wird das Projekt „Historegio“ von Brigitte Mazohl und Gunda Barth-Scalmani von der Universität Innsbruck, Oswald Überegger von der Universität Bozen und Andrea Leonardi von der Universität Trient. Drei gemeinsame Forschungsprojekte hätten Wissenschafterinnen und Wissenschafter dieser Universitäten in den vergangenen fünf Jahren bereits umgesetzt, hieß es vonseiten des Landes.

Universität Innsbruck/Birgit Pichler
An der Universität Innsbruck wird an nationalen Gegensätzen im Kronland Tirol vor dem Ersten Weltkrieg geforscht

Am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck beschäftigt sich Alexander Piff mit der Frage des regionalen „Nationbuilding“ im Kronland Tirol und damit mit nationalen Gegensätzen in Tirol vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Universität Bozen setzt sich unter anderem mit der Annexion Südtirols aus italienischer Sicht auseinander.

Den dritten Themenschwerpunkt bildet die Geschichte des technologischen Fortschritts in den vergangenen 200 Jahren im alpinen Raum, die an der Universität Trient erforscht wird. Dabei geht es beispielsweise um den Ausbau der Verkehrswege und Änderungen in der Landwirtschaft und im Energiesektor.

Geschichtsvermittlung im Mittelpunkt
Das Projekt richte sich an ein historisch interessiertes Publikum. Die Historikerinnen und Historiker geben online anhand von Quellen Einblicke in ihre Forschungsthemen. In der Rubrik „Diese Woche vor 100 Jahren“ werden wöchentlich geschichtliche Ereignisse in den drei Regionen aufgearbeitet.

„Die Initiativen ‚Quelle des Monats‘ und ‚Diese Woche vor 100 Jahren‘ lädt Interessierte dazu ein, in das Tirol vor und nach dem Ersten Weltkrieg einzutauchen. Geschehnisse, Zeitungsartikel sowie historische Bilder werden aufgearbeitet und online zur Verfügung gestellt“, wird Christoph Haidacher, Direktor des Tiroler Landesarchivs in der Aussendung zitiert.

Im Rahmen des Projekts würden auch einige bedeutende regionalgeschichtliche Publikationen in die jeweils anderen Landessprachen übersetzt. So könne der Wissensaustausch zwischen den drei Ländern und den zwei sprachlich unterschiedlichen Wissenschaftskulturen gefördert werden, heißt es vonseiten des Landes. Das Forschungsprojekt läuft noch bis Ende 2023.

Forschungsergebnisse
Die Forschungsergebnisse der Historikerinnen und Historiker sind online unter historegio.euregio.info abrufbar.

03.09.2023, red, tirol.ORF.at

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