1916/17 ließ der Generalgouverneur Österreich-Ungarns eine Reliefkarte vom besetzten Montenegro herstellen

josef

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GESCHICHTE ÖSTERREICHS
Montenegro im Relief: Terra incognita auf dem Balkan
Wie eine begehbare 250 Quadratmeter große Karte den Habsburgern Montenegro näherbrachte.
Montenegro, ein Land auf dem Westbalkan mit rund 650.000 Einwohnern und einer Fläche von rund 14.000 Quadratkilometern, ist seit 2006 ein eigenständiger Staat, der vor allem aufgrund seines Tourismusangebots und seiner imposanten Küste bekannt ist. Wer schon dort war, kann die Landesbezeichnung zweifellos nachvollziehen. Die "schwarzen Berge" ("montagna negra") wirkten bereits auf die Venezianer, die seit dem Mittelalter die adriatische Küste des Landes kontrollierten, ehrfurchtgebietend und einschüchternd. Die Gebirgszonen im Hinterland der Küste mit ihren montenegrinischen Großfamilien bewahrten hingegen sowohl gegenüber Venedig als auch dem Osmanischen Reich über lange Zeit ihre Unabhängigkeit.


Karte Montenegros, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Foto: Njegošev muzej Biljarda, Cetinje und Mihailo St. Popović

Hoch oben in den Bergen gelegen, birgt die alte Hauptstadt des Fürstentums und Königreichs Montenegro – Cetinje – ein imposantes Kulturgut einer gemeinsamen österreichisch-montenegrinischen Vergangenheit. Diese Kleinstadt nahm ihren Aufschwung seit dem 17. Jahrhundert mit der Herrscherdynastie Petrović Njegoš. Zunächst waren die Herrscher Montenegros Fürstbischöfe (bis 1851). Die politische Situation der Einheit von Staats- und Kirchenoberhaupt war daher mit dem Erzbistum Salzburg und seinen Fürsterzbischöfen zu vergleichen.

Nikola I. Petrović Njegoš, der letzte Herrscher Montenegros, erhob das Fürstentum zum Königreich und trat 1914 auf der Seite der Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) gegen die Mittelmächte (Österreich-Ungarn, Deutsches Kaiserreich) in den Ersten Weltkrieg ein.


König Nikola I. Petrović Njegoš (1841–1921) von Montenegro
Foto: Gemeinfrei

Anfang Jänner 1916 eröffnete die k. u. k. Armee den Feldzug gegen Montenegro, nachdem das Königreich Serbien Ende November 1915 besiegt worden war. Bereits Mitte Jänner 1916 kapitulierte Montenegro, König Nikola I. ging ins Exil und Österreich-Ungarn setzte im Land ein Militärgouvernement ein. Die neuen Machthaber investierten in den Ausbau der Straßen, Brücken, Wasserleitungen und in die Trockenlegung von Feuchtgebieten. Auch die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht wurde forciert, wie Archivalien beweisen. Gleichzeitig ging es auch darum, das besetzte Land besser kennenzulernen, das man nur anhand von eigenen und fremden Militärkarten kannte. Manche der besetzten Gebiete waren noch eine "terra incognita", ein unbekanntes Land.

Eine Reliefkarte entsteht
Der Generalgouverneur Österreich-Ungarns hatte seine Residenz im ehemaligen Palast der Fürstbischöfe zu Cetinje ("Biljarda" genannt) bezogen. Er befahl bereits 1916, eine Reliefkarte Montenegros und angrenzender Gebiete in Detailarbeit im Hof seiner Residenz herzustellen. Diese Reliefkarte wurde von österreichisch-ungarischen Kartografen und Künstlern sowie montenegrinischstämmigen Soldaten der k. u. k. Armee im Zeitraum 1916/17 gestaltet. Sie hat einen Maßstab von 1 : 10.000 und umfasst eine Fläche von 256 Quadratmetern(!). Hergestellt wurde sie aus Beton, der um Stahlstifte entsprechend geformt und danach mit viel Liebe zum Detail bemalt wurde. So weist die Reliefkarte Kirchen und Klöster, Häuser, Gutshöfe, Wehrtürme, Burgen, Straßen und Wege, Brücken, Eisenbahnlinien, Bäume, Felder, Flüsse, Seen und vieles mehr auf.

Die Reliefkarte Montenegros, im Vordergrund der Skutarisee.

Ursprünglich konnte sie auf einer kleinen Besucherbrücke überquert werden, um jedes Detail besser betrachten zu können. Wie der "Urzustand" der Reliefkarte aussah, präsentiert uns die folgende Fotografie aus der "Illustrierten Cetinjer Zeitung" sehr anschaulich.


Die Reliefkarte Montenegros im Jahr 1917, am linken Bildrand die kleine Besucherbrücke.
Foto: "Illustrierte Cetinjer Zeitung", Mai 1917 und Mihailo St. Popović


Detail der Reliefkarte Montenegros, die ehemalige Hauptstadt Cetinje.

Im November 1918 verließen die k. u. k. Streitkräfte das Land. Zurück blieb die Reliefkarte als stummes Zeugnis einer Episode der gemeinsamen bewegten Geschichte des 20. Jahrhunderts. Während die montenegrinische Gesellschaft einen lebhaften Bezug zu diesem imposanten Kulturgut hat – nicht zuletzt wird es regelmäßig von Schulklassen aufgesucht –, geriet die Reliefkarte in unseren Breiten zur Gänze in Vergessenheit.

Bewahrung für die Nachwelt
Weder wurden Archivalien in Österreich zu deren Entstehung erforscht, noch wurde sie für die Nachwelt digital dokumentiert. Ein zweieinhalbjähriges Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter meiner Leitung, in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Austauschdienst (OeAD) und der montenegrinischen Universität Donja Gorica, erweckt sie nunmehr auch in unserer Gesellschaft aus dem Dornröschenschlaf. In einer Forschungsreise Anfang März 2020 – unmittelbar vor dem weltumspannenden Lock-down – wurde der erste Projektschritt erfolgreich abgeschlossen. Das österreichische Projektteam hat auf der Basis einer lückenlosen fotografischen Aufnahme ein digitales 3D-Modell errechnet.


Screenshot des digitalen 3D-Modells der Reliefkarte.
Foto: Moisés Hernandez Cordero, März 2020

Die kartografische Genauigkeit des Originals wird in den nächsten Monaten mithilfe dieses Modells technisch überprüft werden. In Zukunft ist geplant, das Modell auch online zugänglich zu machen. In einem weiteren Schritt erforscht das österreichische Projektteam Archivalien in Wien, die Licht auf die bisher unbekannte Entstehung der Reliefkarte zu werfen vermögen. Damit wird dieses österreichisch-montenegrinische Kulturerbe aus der Vergessenheit geholt und in das Licht der Öffentlichkeit gerückt.
(Mihailo Popović, 18.5.2020)

Mihailo Popović ist Historiker am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und forscht zur historischen Geografie Südosteuropas in Mittelalter und Neuzeit. Er ist Autor und Herausgeber von 14 Büchern.

Montenegro im Relief: Terra incognita auf dem Balkan - derStandard.at
 
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