VERSUNKENE WELT
Älteste Megastruktur Europas in der Ostsee entdeckt
Eine aktuelle Untersuchung kommt zu dem Schluss: Eiszeitjäger errichteten vor etwa 11.000 Jahren eine hunderte Meter lange Mauer für die Jagd auf Rentiere
Älteste Megastruktur Europas in der Ostsee entdeckt
Älteste Megastruktur Europas in der Ostsee entdeckt
Eine aktuelle Untersuchung kommt zu dem Schluss: Eiszeitjäger errichteten vor etwa 11.000 Jahren eine hunderte Meter lange Mauer für die Jagd auf Rentiere
Wo sich heute die Ostsee ausbreitet, lag am Ende der letzten Eiszeit vor 11.000 Jahren noch das Yoldiameer. Als sich Skandinavien in der Folge langsam vom Gewicht der schmelzenden Gletscher befreite, begann sich das Land zu heben, und die Verbindung zum Skagerrak wurde unterbrochen: Der Ancylussee entstand. Der Wasserspiegel des großen Süßwassersees lag lange Zeit deutlich unter dem Niveau der heutigen Ostsee – und seine Uferregionen waren von Menschen offenbar schon seit dem Zurückweichen der eiszeitlichen Gletscher bewohnt.
Das 3D-Modell zeigt einen kurzen Abschnitts der Steinmauer. Der Maßstab am unteren Bildrand beträgt 50 Zentimeter.
Illustr.: Philipp Hoy, Uni Rostock / Modell: Jens Auer, LAKD M-V
Überflutete Bauwerke
Ein außergewöhnlicher Fund in der Mecklenburger Bucht lässt erahnen, zu welchen Leistungen die damaligen Jäger und Sammler dieser Region fähig waren: Ein Forschungsteam entdeckte im Jahr 2021 am Meeresboden vor der Küstenstadt Rerik (Mecklenburg-Vorpommern) eine fast einen Kilometer lange Steinreihe, möglicherweise absichtsvoll errichtet aus regelmäßig aufgeschichteten Steinen.
Genaue Untersuchungen in den zurückliegenden drei Jahren untermauern nun die Vermutung, dass man hier eine steinzeitliche Megastruktur vor sich hatte, womöglich die älteste Europas. Auch zur Frage, welchem Zweck das Bauwerk gedient haben könnte, haben die Forschenden schon eine Idee.
Zufallsfund
Eigentlich hatte ein Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) Mangankrusten im Visier, die es etwa zehn Kilometer vor Rerik auf dem Grund der Mecklenburger Bucht untersuchen wollte. Doch dann kam den Wissenschaftern eine hunderte Meter lange, regelmäßige Steinstruktur in die Quere, die viel zu regelmäßig wirkte, um eine natürliche Ursache vermuten zu lassen.
Die Fundstelle liegt am südwestlichen Rand eines sogenannten Mergelrückens. Der Steinwall verläuft hier auf einer Strecke von 970 Metern parallel zu einer Niederung, die einmal ein kleiner See oder ein Moor gewesen sein könnte. Eine detaillierte Analyse zeigte, dass der Wall aus rund 1.673 tennis- bis fußballgroßen Steinen besteht, die einige große Findlinge zu einem bis zu einen Meter hohen Bauwerk verbinden. Die Struktur hat ein Volumen von fast 53 Kubikmetern und wiegt zusammen mehr als 142 Tonnen.
Ein interdisziplinäres Team hat anhand moderner geophysikalischer Methoden ein detailliertes 3D-Modell der Mauer erstellt und die Struktur des umgebenden Untergrunds rekonstruiert. Sedimentproben aus dem südlich angrenzenden Becken erlaubten eine Alterseingrenzung der linearen Struktur.
Ein autonomes Unterwasserfahrzeug hat auch hochaufgelöste bathymetrische Daten gesammelt, auf denen diese Darstellung basiert. Die Struktur verläuft von links unten quer durchs Bild. Auf der unteren Grafik ist einer der größeren Findlinge zu sehen, an denen sich die Ausrichtung des Walls ändert.
Grafik: Jacob Geersen, IOW
Natürliche Entstehung unwahrscheinlich
"Die Untersuchungen haben bestätigt, dass eine natürliche Entstehung (etwa durch einen Tsunami, sich zurückziehende Gletscher oder Strömungen unter Wasser, Anm.) ebenso unwahrscheinlich ist wie eine Errichtung in moderner Zeit, etwa durch Baumaßnahmen zur Verlegung von Seekabeln oder Steinfischerei. Dafür sind die Steine zu planvoll und regelmäßig angeordnet", sagte Jacob Geersen, Erstautor der im Fachjournal "Pnas" erschienenen Studie.
Die Ostsee ist an dieser Stelle 21 Meter tief, der Steinwall muss also errichtet worden sein, bevor der Wasserspiegel nach dem Ende der letzten Eiszeit endgültig anstieg. Dies geschah zuletzt vor etwa 8.500 Jahren. Schließt man eine natürliche oder moderne Entstehung aus, kommt nach Ansicht der Forschenden für die Errichtung der Steinmauer nur die Zeit nach Ende der letzten Eiszeit (vor etwa 12.000 Jahren) in Betracht.
Ausgeklügelte Jagdtechnik
"Es wird angenommen, dass in dieser Zeit nicht mehr als 5.000 Menschen in ganz Nordeuropa lebten. Ein Hauptnahrungsmittel dieser Gruppen waren Rentiere, die im jahreszeitlichen Rhythmus in Herden durch die vegetationsarme nacheiszeitliche Landschaft zogen", sagte Marcel Bradtmöller von der Universität Rostock. "Wahrscheinlich diente der Wall dazu, die Rentiere am Rande eines Sees in die Enge zu treiben, sodass sie von den steinzeitlichen Jägern mit Jagdwaffen erlegt werden konnten."
Solche Jagdtechniken sind in anderen Teilen der Welt bereits mehrfach nachgewiesen worden. So haben US-amerikanische Archäologinnen und Archäologen im Lake Huron (Michigan) in 30 Meter Tiefe Steinmauern gefunden, die nachweislich für die Treibjagd von Karibus, dem nordamerikanischen Pendant des Rentieres, errichtet wurden. Die Steinmauern im Lake Huron und in der Mecklenburger Bucht weisen große Ähnlichkeiten auf.
Grafische Rekonstruktion des Steinwalls in der ihn umgebenden späteiszeitlichen Landschaft. Mit solchen Bauwerken erleichterte man sich vor 11.000 Jahren die Treibjagd auf Rentierherden.
Illustr.: Michal Grabowski
Ältestes Bauwerk der Ostsee
Da vor etwa 11.000 Jahren, als das Klima wärmer wurde und sich Wälder ausbreiteten, mit den letzten Rentieren auch die letzten wandernden Herdentiere aus unseren Breiten verschwanden, dürfte die Steinmauer nicht nach diesem Zeitpunkt errichtet worden sein. Die Steinmauer wäre damit das älteste jemals in der Ostsee entdeckte menschliche Bauwerk und die älteste Megastruktur Europas, so die Forschenden. Mithilfe des Lumineszenzverfahrens soll aber noch versucht werden, die Steinmauer exakter zu datieren.
Zwar sind in der Wismarbucht und entlang der Küsten Mecklenburg-Vorpommerns zahlreiche gut erhaltene archäologische Fundstellen aus der Steinzeit bekannt, diese liegen aber in deutlich geringeren Wassertiefen und datieren meist in die Mittel- und Jungsteinzeit (vor etwa 9.000 bis 4.500 Jahren, Anm.). Mit der Fundstelle in der Mecklenburger Bucht sind die Wissenschafter freilich noch lange nicht fertig: Die Steinmauer und der umgebende Meeresboden sollen mithilfe von Seitensichtsonar, Sedimentecholot und Fächerecholot noch genauer untersucht werden. Außerdem liegen den Forschenden Hinweise auf die Existenz weiterer vergleichbarer Steinwälle an anderen Stellen in der Mecklenburger Bucht vor. Auch diese sollen unter anderem durch Tauchgänge erkundet werden.
(tberg, red, 13.2.2024)
Das 3D-Modell zeigt einen kurzen Abschnitts der Steinmauer. Der Maßstab am unteren Bildrand beträgt 50 Zentimeter.
Illustr.: Philipp Hoy, Uni Rostock / Modell: Jens Auer, LAKD M-V
Überflutete Bauwerke
Ein außergewöhnlicher Fund in der Mecklenburger Bucht lässt erahnen, zu welchen Leistungen die damaligen Jäger und Sammler dieser Region fähig waren: Ein Forschungsteam entdeckte im Jahr 2021 am Meeresboden vor der Küstenstadt Rerik (Mecklenburg-Vorpommern) eine fast einen Kilometer lange Steinreihe, möglicherweise absichtsvoll errichtet aus regelmäßig aufgeschichteten Steinen.
Genaue Untersuchungen in den zurückliegenden drei Jahren untermauern nun die Vermutung, dass man hier eine steinzeitliche Megastruktur vor sich hatte, womöglich die älteste Europas. Auch zur Frage, welchem Zweck das Bauwerk gedient haben könnte, haben die Forschenden schon eine Idee.
Zufallsfund
Eigentlich hatte ein Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) Mangankrusten im Visier, die es etwa zehn Kilometer vor Rerik auf dem Grund der Mecklenburger Bucht untersuchen wollte. Doch dann kam den Wissenschaftern eine hunderte Meter lange, regelmäßige Steinstruktur in die Quere, die viel zu regelmäßig wirkte, um eine natürliche Ursache vermuten zu lassen.
Die Fundstelle liegt am südwestlichen Rand eines sogenannten Mergelrückens. Der Steinwall verläuft hier auf einer Strecke von 970 Metern parallel zu einer Niederung, die einmal ein kleiner See oder ein Moor gewesen sein könnte. Eine detaillierte Analyse zeigte, dass der Wall aus rund 1.673 tennis- bis fußballgroßen Steinen besteht, die einige große Findlinge zu einem bis zu einen Meter hohen Bauwerk verbinden. Die Struktur hat ein Volumen von fast 53 Kubikmetern und wiegt zusammen mehr als 142 Tonnen.
Ein interdisziplinäres Team hat anhand moderner geophysikalischer Methoden ein detailliertes 3D-Modell der Mauer erstellt und die Struktur des umgebenden Untergrunds rekonstruiert. Sedimentproben aus dem südlich angrenzenden Becken erlaubten eine Alterseingrenzung der linearen Struktur.
Ein autonomes Unterwasserfahrzeug hat auch hochaufgelöste bathymetrische Daten gesammelt, auf denen diese Darstellung basiert. Die Struktur verläuft von links unten quer durchs Bild. Auf der unteren Grafik ist einer der größeren Findlinge zu sehen, an denen sich die Ausrichtung des Walls ändert.
Grafik: Jacob Geersen, IOW
Natürliche Entstehung unwahrscheinlich
"Die Untersuchungen haben bestätigt, dass eine natürliche Entstehung (etwa durch einen Tsunami, sich zurückziehende Gletscher oder Strömungen unter Wasser, Anm.) ebenso unwahrscheinlich ist wie eine Errichtung in moderner Zeit, etwa durch Baumaßnahmen zur Verlegung von Seekabeln oder Steinfischerei. Dafür sind die Steine zu planvoll und regelmäßig angeordnet", sagte Jacob Geersen, Erstautor der im Fachjournal "Pnas" erschienenen Studie.
Die Ostsee ist an dieser Stelle 21 Meter tief, der Steinwall muss also errichtet worden sein, bevor der Wasserspiegel nach dem Ende der letzten Eiszeit endgültig anstieg. Dies geschah zuletzt vor etwa 8.500 Jahren. Schließt man eine natürliche oder moderne Entstehung aus, kommt nach Ansicht der Forschenden für die Errichtung der Steinmauer nur die Zeit nach Ende der letzten Eiszeit (vor etwa 12.000 Jahren) in Betracht.
Ausgeklügelte Jagdtechnik
"Es wird angenommen, dass in dieser Zeit nicht mehr als 5.000 Menschen in ganz Nordeuropa lebten. Ein Hauptnahrungsmittel dieser Gruppen waren Rentiere, die im jahreszeitlichen Rhythmus in Herden durch die vegetationsarme nacheiszeitliche Landschaft zogen", sagte Marcel Bradtmöller von der Universität Rostock. "Wahrscheinlich diente der Wall dazu, die Rentiere am Rande eines Sees in die Enge zu treiben, sodass sie von den steinzeitlichen Jägern mit Jagdwaffen erlegt werden konnten."
Solche Jagdtechniken sind in anderen Teilen der Welt bereits mehrfach nachgewiesen worden. So haben US-amerikanische Archäologinnen und Archäologen im Lake Huron (Michigan) in 30 Meter Tiefe Steinmauern gefunden, die nachweislich für die Treibjagd von Karibus, dem nordamerikanischen Pendant des Rentieres, errichtet wurden. Die Steinmauern im Lake Huron und in der Mecklenburger Bucht weisen große Ähnlichkeiten auf.
Grafische Rekonstruktion des Steinwalls in der ihn umgebenden späteiszeitlichen Landschaft. Mit solchen Bauwerken erleichterte man sich vor 11.000 Jahren die Treibjagd auf Rentierherden.
Illustr.: Michal Grabowski
Ältestes Bauwerk der Ostsee
Da vor etwa 11.000 Jahren, als das Klima wärmer wurde und sich Wälder ausbreiteten, mit den letzten Rentieren auch die letzten wandernden Herdentiere aus unseren Breiten verschwanden, dürfte die Steinmauer nicht nach diesem Zeitpunkt errichtet worden sein. Die Steinmauer wäre damit das älteste jemals in der Ostsee entdeckte menschliche Bauwerk und die älteste Megastruktur Europas, so die Forschenden. Mithilfe des Lumineszenzverfahrens soll aber noch versucht werden, die Steinmauer exakter zu datieren.
Zwar sind in der Wismarbucht und entlang der Küsten Mecklenburg-Vorpommerns zahlreiche gut erhaltene archäologische Fundstellen aus der Steinzeit bekannt, diese liegen aber in deutlich geringeren Wassertiefen und datieren meist in die Mittel- und Jungsteinzeit (vor etwa 9.000 bis 4.500 Jahren, Anm.). Mit der Fundstelle in der Mecklenburger Bucht sind die Wissenschafter freilich noch lange nicht fertig: Die Steinmauer und der umgebende Meeresboden sollen mithilfe von Seitensichtsonar, Sedimentecholot und Fächerecholot noch genauer untersucht werden. Außerdem liegen den Forschenden Hinweise auf die Existenz weiterer vergleichbarer Steinwälle an anderen Stellen in der Mecklenburger Bucht vor. Auch diese sollen unter anderem durch Tauchgänge erkundet werden.
(tberg, red, 13.2.2024)