Syrien: 2017 konnte nach einem Angriff einer US-Sondereinheit auf einen Staudamm nur knapp eine Katastrophe mit tausenden Toten verhindert werden

josef

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ANGRIFF AUF DAMM
US-Einheit riskierte in Syrien Tausende Tote
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Die US-Armee hat bei Kämpfen gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien einen Damm bombardiert – und damit laut „New York Times“ den Tod Zehntausender Menschen riskiert. In einer umfangreichen Recherche zeichnet die Zeitung nach, wie es zu dem Angriff auf die Tabka-Talsperre kam. Die Katastrophe konnte damals nur knapp verhindert werden.
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Der Angriff auf den Damm am Euphrat in al-Thawra rund 35 Kilometer von der Stadt al-Rakka entfernt, im syrischen Bürgerkrieg eine Hochburg des IS, war am 26. März 2017 erfolgt. Hinter der rund 60 Meter hohen Talsperre liegt ein riesiger Stausee. Wäre die Sperre gebrochen, wäre das darunter liegende Tal, in dem Zehntausende Menschen leben, in kürzester Zeit überflutet worden.

Bei dem Angriff auf den damals vom IS kontrollieren, strategisch wichtigen Damm wurden Steuerungsanlagen schwer beschädigt, er wurde praktisch unkontrollierbar – wie auch in einem UNO-Bericht nachzulesen ist. Sowohl die syrische Regierung unter Machthaber Baschar al-Assad als auch Russland, das wie die USA in dem Bürgerkrieg mitmischte, und der IS machten die US-Luftwaffe dafür verantwortlich. Diese stritt aber jede Beteiligung ab.

Offiziell „kein Ziel der Koalition“
In einem Papier des Zentralkommandos der US-Streitkräfte (Centcom) vom 28. März 2017 – zwei Tage nach dem Angriff – kam Lieutenant General Stephen J. Townsend, seinerzeit Kommandierender der Offensive und der Anti-IS-Allianz Combined Joint Task Force-Operation Inherent Resolve (CJTF-OIR) zu Wort und sprach von „verrückter“ Berichterstattung in den Medien. Die Talsperre stehe auf einer „Nichtangriffsliste“, sie sei „kein Ziel der Koalition“ gegen den IS und auch nicht kritisch beschädigt worden.
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Der Bericht der „New York Times“ und auch einer des Koordinationsbüros der UNO für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) von Anfang April 2017 zur Situation um al-Rakka lesen sich anders. Die Wassermassen des Euphrat hätten plötzlich keinen Weg mehr flussabwärts gefunden – und sich aufgestaut, da der kontrollierte Durchfluss ausgefallen war. Der Pegel im Stausee habe zu steigen begonnen, flussabwärts seien die Menschen bereits mit Lautsprecherdurchsagen gewarnt worden, Panik sei ausgebrochen. Es habe Gerüchte über einen bevorstehenden Dammbruch gegeben.

Katastrophe knapp verhindert
Am 29. März sei es Technikern gelungen, mit improvisierten Mitteln den Überlauf zu öffnen, damit Wasser abfließen konnte und so der Druck auf die Talsperre verringert wurde. Flussaufwärts habe die Türkei mit ihren Dämmen am Euphrat, allem voran dem riesigen Atatürk-Staudamm in der Grenzprovinz Sanliurfa, den Durchfluss in Richtung Syrien verringert. Die große Katastrophe wurde nur durch dieses geistesgegenwärtige Handeln verhindert.

Trotzdem steht weiter die Frage im Raum: Wie kam es zu dem US-Angriff und warum wurde er bestritten? „Tatsächlich“, schrieb die „New York Times“ am Freitag, sei dafür eine „streng geheime“ Einheit für Spezialoperationen namens „Task Force 9“ verantwortlich gewesen. Bei dem Luftangriff sei eine der größten in der US-Armee verwendeten bunkerbrechenden Bomben, gebaut, um dicken Betonwände zu zerstören, zum Einsatz kommen.

Zur Versicherung Townsends, in der Nähe kritischer Infrastruktur, wie der Tabka-Damm eine ist, gehe man besonders vorsichtig vor, passt das nicht. Der Damm sei angegriffen worden, so die „New York Times“ weiter, obwohl es eine interne Warnung gegeben habe, das nicht zu tun, da Zehntausende Menschenleben gefährdet sein könnten.

Riesiger Stausee hinter dem Damm
Hinter der Talsperre liegt der Assad-Stausee, benannt nach Hafis al-Assad, dem Vater des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, mit einer Fläche von – nach unterschiedlichen Angaben – 600 bis über 800 Quadratkilometern. Damit ist er zumindest zweimal so groß wie der Neusiedler See. Das geschätzte Volumen des Stausees beträgt bis zu zwölf Milliarden Kubikmeter. Der Damm wurde ab 1968 mit Unterstützung der damaligen Sowjetunion gebaut.

AP/Aamaq News Agency/Uncredited
Der Assad-Stausee ist mehrere hundert Quadratkilometer groß

Aber wie kam es zu dem Angriff im März 2017? Angesichts des Schutzstatus des Damms hätte die Entscheidung, ihn zu bombardieren, „weit oben in der Befehlskette“ der US-Armee fallen müssen, schreibt die „New York Times“. Aber die Verantwortlichen hätten laut zwei namentlich nicht genannten hochrangigen Militärangehörigen damals eine Art Abkürzung genommen: die Begründung „Gefahr im Verzug“. In diesem Fall ist die Befehlskette kürzer.

US-Spezialeinheit mit Eigenleben
Die „Task Force 9“ werde innerhalb der Armee durchaus kritisch gesehen, berichtete die US-Zeitung, ihr Handeln mitunter als rücksichtslos. Die Einheit habe regelmäßig strenge Regeln für Luftangriffe umgangen und Ziele des IS so angegriffen, dass Zivilistinnen und Zivilisten in Gefahr geraten seien.

Einen Damm von diesem Ausmaß so anzugreifen wäre von hochrangigen Kommandierenden wahrscheinlich als zu gefährlich eingestuft worden, zitierte die „New York Times“ Scott F. Murray, früher Oberst der US-Air-Force und verantwortlich für die Planung von Luftangriffen im Irak, in Afghanistan und dem Kosovo.

Bomben, wie sie gegen den Damm eingesetzt wurden, hätten schwerste Schäden an der Talsperre verursachen können. Eine davon vom Typ BLU-109 hat ein Gewicht von knapp 900 Kilogramm, sie ist fähig, meterdicken Stahlbeton zu zerstören. Allerdings: Die Bombe blieb laut „New York Times“ als Blindgänger im Kontrollturm der Talsperre liegen. Die Folgen, wenn sie detoniert wäre, sind nicht abzuschätzen.

Berichte widersprechen offizieller Version der Armee
Das US-Streitkräftekommando habe auf Anfrage der „New York Times“ schließlich eingeräumt, drei dieser Bunkerbomben eingesetzt zu haben, allerdings sei nie der Tabka-Damm selbst ein Ziel gewesen. Es habe sich um Gebäude unmittelbar daneben gehandelt, und diese Angriffe seien im Vorfeld genehmigt worden. Man sei zum Schluss gekommen, dass diese keine kritischen Schäden an der Talsperre verursachen würden. Der Damm sei nicht gebrochen, die Annahmen seien daher richtig gewesen. Die „Mission“ habe verhindert, dass der IS die Anlage als „Waffe“ verwenden konnte.

Anders die Aussagen von Augenzeugen und den beiden genannten US-Militärs, beteiligt an der Offensive damals in Syrien: Die Lage sei „weitaus schlimmer“ gewesen als von der Armee offiziell eingeräumt. Weil kritische Infrastruktur „in Ruinen gelegen“ sei, habe die Talsperre praktisch nicht mehr funktioniert. Das Wasser sei rapide gestiegen.

IS nutzte zivile Anlagen für den Krieg
Als Beleg dafür, wie kritisch die Situation war, nannte die „New York Times“ etwa, dass nicht nur die Türkei, seit Jahren nicht mehr gut auf das Assad-Regime zu sprechen und selbst militärisch in den Konflikt im Nachbarland involviert, helfend eingegriffen und den Abfluss des Euphrat verringert habe. Sogar der IS, die syrische Regierung und andere Kriegsparteien hätten einen kurzen Waffenstillstand vereinbart, damit der Damm repariert werden konnte.

Reuters/Aboud Hamam
Die Stadt al-Rakka war lange eine Hochburg der Terrormiliz IS

Wäre er gebrochen, wäre „die Zerstörung unvorstellbar gewesen“, zitierte die US-Zeitung einen früheren Direktor der Anlage. Er bezifferte die Zahl der potenziellen Opfer mit möglicherweise mehreren hunderttausend. Ein Hintergrund für den Angriff dürfte gewesen sein, dass der IS im syrischen Bürgerkrieg zivile Anlagen, die auf der „Nichtangriffsliste“ der Allianz gegen die Terrormiliz standen, etwa als Waffendepots, Kommandozentralen und Stellungen nutzte – so auch den Tabka-Damm.

Mit Auftauchen der Spezialeinheit stieg Zahl ziviler Oper
Die US-Spezialeinheit habe allerdings „zu oft“ den Schutz ziviler Leben hintangestellt. Eine „erhebliche Mehrheit“ ihrer Aktionen sei mit Gefahr im Verzug bzw. als Akt der Selbstverteidigung begründet gewesen. So sei es zu Angriffen auf Ziele gekommen, die ansonsten tabu gewesen wären. „Reihenweise“ seien Zivilpersonen bei Angriffen auf Schulen, Moscheen und Märkte ums Leben gekommen, wie Aussagen Militärangehöriger und Berichte, die der Zeitung vorlägen, belegten.

Als die undurchsichtige „Task Force 9“ die Bühne des Krieges in Syrien betreten habe, sei die Zahl der zivilen Toten steil gestiegen, hieß es in einem anderen Artikel vom Dezember. Vielleicht, schrieb die „New York Times“ nun, gebe es gar kein besseres Beispiel für das In-Kauf-Nehmen möglicherweise verheerender Folgen als den Angriff auf den Tabka-Damm.
22.01.2022, red, ORF.at

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