Russland: Sibirien als Ort der Verbannung - nicht erst seit Stalin...

josef

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Sibirien: Russlands riesiges Land ohne Wiederkehr


foto: picturedesk / ullstein bild / archiv gerstenberg
Ungewisse Reise in Russlands "Herz der Finsternis": politische Gefangene um 1860 auf dem Transport nach Sibirien.

Im Stalinismus hat sich Sibirien als Ort der Verbannung ins kollektive Bewusstsein eingebrannt. Dabei war er das schon lange vor den Gulags
"Ihr seid die Räuber und die Mörder, nicht jene, über die Ihr zu Gericht sitzt! (...) Ich möchte nicht länger leben, selbst wenn meine Todesstrafe durch Zwangsarbeit ersetzt wird." Mit seinem Suizid am 1. Juli 1910 entreißt der politische Häftling Sergej Wilkow dem Zaren die Macht über sein Leben. Die Obrigkeit kann nicht mehr, wie sie es häufig tat, "Gnade walten lassen".

"Um die Öffentlichkeit von der Humanität des Regimes zu überzeugen, wurden im Zarenreich immer wieder Todesurteile aufgehoben und in Verbannungsstrafen umgewandelt", berichtet der britische Historiker Daniel Beer, der für sein mit dem renommierten Cundill History Prize ausgezeichnetes Buch "Das Totenhaus" 15 Monate lang russische und sibirische Archive nach den Spuren des zaristischen Verbannungswesens durchforstet hat.
"Aus dem Archiv, in dem ich diesen Brief gefunden hatte, konnte ich direkt auf das Gefängnis sehen, wo er vor über 100 Jahren von einem verzweifelten Menschen unmittelbar vor seiner Selbsttötung geschrieben wurde", sagt der Historiker.

Jahrhundertealtes System
Was hätte den Häftling Wilkow erwartet, wenn er begnadigt und nach Sibirien verbannt worden wäre? Traurige Bekanntheit hat dieses entlegene und unwirtliche Gebiet vor allen durch die sowjetischen Gulags erlangt, in denen Millionen Menschen umkamen. Aber Stalin war nicht der Erfinder dieser barbarischen Straf- und Arbeitslager.

Schon zur Zeit der Zaren diente Sibirien als Ort der Verbannung politischer Gegner, "normaler" Straftäter und unerwünschter, weil unproduktiver Menschen. In jahrelanger Forschungsarbeit hat Beer dieses brutale und menschenverachtende System mit seiner mehr als 300 Jahre langen Geschichte aus der Vergessenheit hervorgeholt.

Zwei große Ziele wollte der zaristische Staat mit der Verbannung nach Sibirien unter einen Hut bringen: zum einen das Reich von unliebsamen Personen zu säubern, zum anderen dieses riesige Gebiet östlich des Uralgebirges zu kolonisieren. Denn um an die reichen Bodenschätze zu gelangen, musste die Besiedlung vorangetrieben werden. Aber der unausgesetzte Strom verzweifelter, mittelloser und kranker Menschen, die man meist zu Fuß in "Russlands Herz der Finsternis" schickte, wurde nie zu einer Antriebskraft der sibirischen Entwicklung, wie Daniel Beer betont.

Kritiker verbannt
Im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zarenreiches 1917 wurden mehr als eine Million Menschen nach Sibirien verbannt. Es waren Revolutionäre, polnische Aufständische, die sich für nationale Unabhängigkeit einsetzten, sozialistische Utopisten – kurz: alle Kritiker des zaristischen Staates. Einer davon war übrigens der Schriftsteller Dostojewski, der seine Erinnerungen an die Verbannung in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus verarbeitet hat.

Auf jeden dieser politischen Häftlinge meist adeliger Herkunft aber kamen tausende gewöhnliche Verbannte, die mit ihren Familien den Fußmarsch nach Sibirien antreten mussten: Mörder und Kleinkriminelle, Deserteure, entlaufene Leibeigene, religiöse Abweichler, sogar Landstreicher, Bettler, Trinker und Prostituierte wurden regelmäßig in den Städten zusammengetrieben und nach Sibirien geschickt. "Diese Menschen wurden in aller Stille verhaftet und ohne Berufungsrecht aus der russischen Gesellschaft entfernt", berichtet der Historiker.

Auf diese Weise konnten sich Städte und Dörfer bequem auch ihrer Behinderten und Geisteskranken entledigen. Nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatten, durften sich die Verbannten frei in Sibirien bewegen. Nur wenige erhielten die Erlaubnis, in ihre Heimat zurückzukehren. Und eine Flucht überlebten nicht viele.

Gescheiterte Kolonialisierung
Die meisten mussten also in Sibirien bleiben, konnten sich dort aber wegen der harten klimatischen Verhältnisse und ihrer völligen Verarmung nur selten eine Existenz aufbauen. "Die vom Staat angestrebte Kolonialisierung scheiterte aufgrund fehlender finanzieller und administrativer Mittel vollständig", sagt Beer. Das war den Zuständigen seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus bewusst. "Das Verbannungssystem wollte man aber trotzdem nicht abschaffen, weil man sonst teure Gefängnisse in Russland hätte bauen müssen."

Besonders tragisch ist das Schicksal der Frauen und Kinder, die ihren Ehemännern und Vätern in die Verbannung folgten. Viele hätten ohne den Familienernährer nicht überleben können, außerdem wurden sie vom Staat dazu gedrängt. Dahinter stand die Hoffnung, dass sich der Einfluss der Frauen positiv auf Moral und Kolonisationsambitionen der Männer auswirken würde.

Die Realität sah allerdings anders aus: Die meisten Familien überlebten nur, wenn sich die Frauen und Kinder prostituierten. "Oft wurden sie sogar von den eigenen Vätern in die Prostitution getrieben oder überhaupt verkauft", sagt Beer. "Ich habe in den Archiven von grauenhaften Fällen gelesen – von verkauften jungen Mädchen, die mit zwölf Jahren schwanger wurden, und von Kindern, die mit Geschlechtskrankheiten infiziert waren."

Sexuelle Ausbeutung
Wegen der Größe der nachziehenden Familien war im 19. Jahrhundert etwa ein Viertel der Verbannten Kinder. Nicht selten wurden die Frauen von ihren Ehemännern mit dreisten Lügen nach Sibirien gelockt: "Jeder Häftling erhält, sobald seine Frau eintrifft, alles Nötige, um kostenlos ein Gehöft aufzubauen: zwei Pferde, sechs Kühe (...)", hieß es etwa im Brief eines Häftlings an seine Ehefrau. Was diese Frau tatsächlich erwartete, waren Elend, Gewalt und sexuelle Ausbeutung.

Der geringe Frauenanteil von etwa zehn Prozent machte diese zu begehrten Handelsobjekten. In seiner 1893 veröffentlichten Reportage über die Insel Sachalin schrieb Anton Tschechow: "Wenn sie ihren Männern freiwillig in die Verbannung gefolgt sind, bleibt in wirtschaftlicher Notlage (...) nur die Prostitution als letzter Ausweg vor dem Verhungern." Auch über die verbreiteten Suizide der Verzweifelten berichtet der Autor.

Nachdem 1917 der letzte Zar abgedankt hatte, schaffte die provisorische Regierung Verbannungsstrafen offiziell ab. Aber die neue politische Macht stand vor ähnlichen Problemen wie die Zaren: Auf der einen Seite musste man die subversiven Elemente unter Kontrolle halten, auf der anderen wollte man die enormen Rohstoffreserven in Sibirien nutzen. Die Lösung des Sowjetstaats: die Gulags.
(Doris Griesser, 21.12.2018)
Sibirien: Russlands riesiges Land ohne Wiederkehr - derStandard.at
 
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