Regionale- und weltwirtschaftliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

josef

Administrator
Mitarbeiter
#21
Getreideernte in Kriegszeiten
1659724009543.png

Nach der Wiederaufnahme des Getreideexports über das Schwarze Meer hat die Regierung in Kiew ihre Ernteprognose für dieses Jahr um rund zehn Prozent angehoben. Trotz des Krieges werden 65 bis 67 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten erwartet. Zwölf Millionen Tonnen seien bereits eingefahren – unter äußerst gefährlichen Bedingungen.
Online seit heute, 19.51 Uhr
Teilen
Die Ukraine war bis Kriegsbeginn Ende Februar einer der weltweit wichtigsten Weizenproduzenten. Viele Länder, etwa in Nordafrika, sind von der Ernte im Osten des Landes abhängig. Wegen des russischen Angriffskriegs waren die Agrarexporte über die Schwarzmeer-Häfen monatelange blockiert. Erst Anfang August konnte das erste mit Getreide beladene Schiff den Hafen von Odessa verlassen. Es wurde durch die Minen, die den Hafen schützen, und vorbei an russischen Kriegsschiffen eskortiert. Am Freitag folgten die nächsten drei Schiffe.

Mit den Lieferungen sollen zig Millionen Tonnen Getreide für den Weltmarkt wieder verfügbar werden. Deshalb wurde die Öffnung der Schiffswege als Hoffnungsschimmer bezeichnet. Einerseits soll die drohende Hungerkrise verhindert werden, andererseits helfen die Exporte auch der Ukraine. Denn die Agrarindustrie ist ein wichtiger Eckpfeiler der dortigen Wirtschaft.

Reuters/State Emergency Service Of Ukraine
Die Gefahr, während der Ernte auf Raketenteile oder Minen zu stoßen, ist hoch

Mit einer raschen Ernte versuchen Landwirte nun so viel zu verdienen, damit auch die nächste Aussaat sichergestellt werden kann. Alles, was wegen des Krieges in den vergangenen Monaten verpasst wurde, muss aufgeholt werden. Doch das gestaltet sich alles andere als einfach. Denn das wichtige Exportabkommen hat zwar das Problem der Lieferung über den Seeweg gelöst. Allerdings steht die Arbeit am Feld wegen der Kriegshandlungen vor vielen Risiken und Gefahren.

Landwirte ernten ums Überleben
So liegen heute viele Felder in von russischen Truppen eroberten Gebieten. Andere Äcker sind in den letzten Monaten von nicht explodierter Kriegsmunition übersät worden. Auf Bildern und Videos, die auch in sozialen Netzwerken kursieren, ist zu sehen, wie Raketenteile aus dem Feld gehoben werden und wie Feuer das Getreide zerstört. Zudem sind viele Arbeitsmaschinen unbenutzbar. Die Schäden im Agrarsektor gehen in die Milliardenhöhe, rechnen mehrere Institute vor.

Hinzukommt die Teuerung, die auch die ukrainischen Landwirte trifft. Nach Angaben der „Financial Times“ haben die wiederholten Angriffe Russlands auf die wichtigste ukrainische Ölraffinerie in Krementschuk den Dieselpreis verdoppeln lassen. Diesel gilt als wichtiger Treibstoff für die Landwirte und Landwirtinnen. Auch die Kosten für Düngemittel sind um 40 Prozent gestiegen. Russland ist einer der wichtigsten Exporteure von Kalium- und Phosphordünger – was natürlich auch die Ukraine betrifft. Diese Kosten belasten die Landwirte zusätzlich.

Reuters/State Emergency Service Of Ukraine
Wegen des Krieges brennen auch Teile der Getreidefelder nieder

Die Ernte an sich ist gefährlich. Viele wissen nicht, wie sie das anstellen sollen. „Ich habe 1.000 Hektar Weizen und Gerste, von denen ich nicht weiß, wie ich sie ernten soll“, sagte ein ukrainischer Landwirt im Juli gegenüber dem National Public Radio (NPR). „Wenn ich Mähdrescher und Traktoren arbeiten lasse, könnten die Fahrer in die Luft fliegen, denn es gibt noch einige Granaten in den Feldern.“

Keine andere Wahl
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer gehen das Risiko allerdings ein, weil sie keine andere Wahl haben. Die Ernte wird im Frühherbst gesät und muss rechtzeitig im Sommer geerntet werden. Trotz Frontnähe und Beschuss sitzen Landwirte auf ihren Traktoren bzw. Mähdreschern und verfrachten das Getreide in provisorische Lagerstätten. Über die Häfen im Süden des Landes werden die Lebensmittel dann verschifft. Der Transport über den Landweg ist teurer und dauert länger. Außerdem mangelt es an der Infrastruktur und an Transportmitteln.

Reuters
Die Ernte muss eingebracht werden, um Platz und Geld für die neue Saat zu haben

Schon vor der Öffnung der Schiffsrouten über das Schwarze Meer hatten Landwirte und ukrainische Soldaten von einer Form der Wirtschaftssabotage durch die russische Armee gesprochen. Landwirtschaftliche Fahrzeuge würden vermehrt ins Visier genommen, hieß es aus dem ukrainischen Militär. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums sind Weizen, Gerste und Sonnenblumen am stärksten betroffen, da sie in der Nähe der Kampfhandlungen angebaut werden.

In der „New York Times“ zog ein Militärangehöriger einen Vergleich mit der Hungerkatastrophe Holodomor in den 1930er Jahren mit Millionen von Todesopfern. „Früher beschlagnahmten sie das Getreide, heute verbrennen sie es“, wird der Soldat zitiert. Allerdings komme es auch zu zufälligen Zerstörungen, wenn etwa russische Raketen auf militärische Ziele gerichtet sind, aber dadurch Felder in Brand geraten. Viele Landwirte hatten ihre Familien vor der Ernte bereits in Sicherheit gebracht.
05.08.2022, jkla, ORF.at

Links:
Minen, Feuer, Raketen: Getreideernte in Kriegszeiten
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#22
CO2-EMISSIONEN
Kriege – die vergessenen Klima- und Umweltsünder
Unter den Kämpfen in der Ukraine leiden nicht nur die Menschen, sondern auch Umwelt und Klima. Mit den Daten zu Umweltschäden will die Ukraine eines Tages Russland verklagen

Panzer haben einen enormen Treibstoffverbrauch.
Foto: REUTERS/Alexander Ermochenko

Ein Fahrzeug, das mit rund 41 Tonnen auf Ketten über Straßen, Schlamm oder Schnee fährt, ist ein ziemlicher Energiefresser. 250 Liter Treibstoff benötigt ein russischer T-72-Panzer pro hundert Kilometer allein auf befestigten Straßen – und noch deutlich mehr, wenn das Gelände unwegsam ist. Das erschwert nicht nur die Logistik, sondern treibt auch den Klimawandel voran. Noch mehr Treibstoff frisst etwa ein B-52-Bomber: Mit rund 15.000 Liter verbraucht er in der Stunde so viel wie ein durchschnittlicher Autofahrer in Österreich in 18 Jahren.

Gleichzeitig machen selbst Panzer und Bomber nur einen Bruchteil jener Emissionen aus, die durch Kriege wie jenen in der Ukraine verursacht werden. Schon allein die Fertigung von Waffen und Munition verbraucht enorme Mengen CO2. Kriege kosten Geld, das für die Abwendung des Klimawandels benötigt würde, und sie führen neben menschlichem Leid und CO2-Belastung zu Umweltschäden, die noch Jahrzehnte nach Kriegsende bestehen können. Durch neue Satellitenbilder und Internetdaten sollen einige dieser Schäden künftig besser dokumentiert und die Verursacher stärker zur Verantwortung gezogen werden. Aber können Kriege damit künftig weniger klima- und umweltschädlich sein?

Knapp an Katastrophe vorbei
In der Ukraine hätte der Krieg laut Experten schon beinahe zu einigen verheerenden Umweltkatastrophen geführt. Etwa als russische Streitkräfte vor einigen Monaten tagelang das Asow-Stahlwerk im Osten der Hafenstadt Mariupol bombardierten. Würden die tausenden Tonnen darin enthaltener giftiger Schwefelwasserstofflösung in das Asowsche Meer ausfließen, würde das die gesamte Flora und Fauna des Meeres töten, hieß es von der Stadtregierung Mariupol im Mai. Letztlich konnte ein Austreten der Flüssigkeit wahrscheinlich gerade noch verhindert werden.

Denn es sind nicht nur Atommeiler, die ein Risiko in Kriegsgebieten darstellen, sondern auch die vielen Stahl- und Chemiefabriken und Bergwerke im Land. Stehen diese unter Beschuss, können giftige Dämpfe und Substanzen freigesetzt werden, die die Luft verschmutzen, die Böden verunreinigen und das Grundwasser kontaminieren. Laut einer Studie der OSZE aus dem Jahr 2017 gibt es allein im Donbass 4.500 potenziell umweltgefährdende Unternehmen. Schon bei den Kämpfen 2014, die im Vergleich zu jenen von heute weniger schwer waren, sei es zu erheblichen Schäden an Flüssen und Wäldern gekommen. Größere Mengen an Stickstoff, Phosphor, Eisen, Chlorid und Sulfat seien in Flüsse und das Grundwasser eingedrungen.


Eine Zerstörung von Industrien wie dem Asow-Stahlwerk könnte fatale Folgen für Menschen und Umwelt haben.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS

Daten durch "Online-Krieg"
Dass Kriege dem Klima und der Umwelt schaden, ist nichts Neues. Im Irakkrieg 1990 etwa wurden hunderte Ölquellen in Kuwait in Brand gesetzt, von denen viele über Monate brannten. Rund 240 Milliarden Liter Erdöl verbrannten dabei unkontrolliert und verursachten in diesem Jahr zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Zudem liefen 1,7 Milliarden Liter Rohöl in den Persischen Golf aus.

Der Unterschied zu den Kriegen von damals ist jedoch, dass noch nie so viele Daten geteilt und gesammelt wurden wie heute in der Ukraine, sagt Eoghan Darbyshire. Man könne den Ukraine-Krieg deshalb auch als einen "Online-Krieg" bezeichnen. Darbyshire ist Wissenschafter der britischen NGO Ceobs und sammelt seit Jahren Daten zu Kriegen und Konflikten überall auf der Welt und auch zu jenem in der Ukraine, um so dessen Schäden an Umwelt und Menschen aufzuzeigen.

Viele Gefahren
Dafür greift er auf Fotos, Videos und persönliche Berichte von Augenzeugen auf Social Media zurück, vergleicht diese mit Satellitenbildern und erstellt anschließend einen Risikowert für das Ereignis. 500 bis 600 verschiedene Umweltschäden haben er und sein Team seit Beginn des Ukraine-Kriegs registriert: Angriffe auf Tankstellen, Gasleitungen, Ölraffinerien, Kohleminen, Glasfabriken, Wasseraufbereitungsanlagen und Mülldeponien, Waldbrände nach Granatbeschuss, zerstörte Teile von Naturschutzgebieten, verminte oder zerbombte Felder.

Viele der Angriffe bergen potenziell gefährliche und langfristige Schäden an der Gesundheit der Menschen und der Umwelt. Weil in der Ukraine ein großer Teil des Weizens und andere Lebensmittel für Europa angebaut werden, droht die Gefahr von Lebensmittelengpässen und weiteren Konflikten. Auf rund einem Drittel der Fläche von Naturschutzgebieten haben bereits Kämpfe stattgefunden.

Einige Datenlücken
Auch einfache Gebäude stellen eine Gefahr dar. Denn in der Ukraine wurde in vielen Wohnhäusern Asbest als Baustoff eingesetzt. Werden die Gebäude von Bomben zerstört, kann der krebserregende Stoff in die Luft und von dort in die Lunge, Gewebe und Organe gelangen und Jahre später Tumore verursachen. Zudem kann Wind den Stoff auch in umliegende Regionen befördern und damit die Gesundheit von Menschen und Umwelt großflächig gefährden.

Lückenlos ist die Datensammlung jedoch nicht. Gerade in abgelegeneren ländlichen Gebieten, in denen Menschen weniger Zugang zu Internet haben, fehle es an Daten, sagt Darbyshire. Was es deshalb brauche, seien Teams an Wissenschaftern, die Bodenproben, Luftqualitätsmessungen und Wasseranalysen vor Ort durchführen. Gerade in Kriegsgebieten sei das jedoch häufig schwierig.

Schlechte CO2-Bilanz
Noch schwieriger sei es, Daten über die CO2-Emissionen zu bekommen, die so ein Krieg verursacht: durch die Herstellung von Waffen, Munition, Kampfflugzeugen, Panzern und Schiffen und deren Treibstoffverbrauch, durch die Brände, die Zerstörung von Infrastruktur, die Reaktivierung von Kohlekraftwerken und die Auswirkungen auf die wirtschaftliche und technologische Entwicklung eines Landes. Besonders Rüstungsunternehmen, aber auch Staaten halten sich bei Auskünften bezüglich CO2-Emissionen tendenziell zurück – offiziell zum Schutz der nationalen Sicherheit.
Fest steht: Weltweit fließen rund 1,8 Billionen US-Dollar ins Militär. Hauptinvestor ist jedoch nicht Russland, sondern sind nach wie vor die USA. Laut einer Studie der Brown University hat das US-Verteidigungsministerium zwischen 2001 und 2017 1,2 Milliarden Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Wäre das Pentagon ein Staat, wäre es laut Studie auf Platz 55 der weltweit größten Emittenten.

Klagen nach Umweltschäden
Zumindest die Daten über die Umweltschäden von Kriegen sollen künftig dabei helfen, das Thema stärker in den Fokus der Diskussion zu rücken und die Schäden nach dem Krieg schneller und besser zu reparieren, hofft Darbyshire. Die ukrainische Regierung hat indes bereits andere Pläne: Sie will die Umweltdaten nutzen, um Russland eines Tages auf Schadenersatz für die Verursachung von Umweltschäden zu verklagen. Eine Taskforce stellt jede Woche einen Bericht über die Umweltschäden zusammen, der sich auch aus den Daten speist, die Wissenschafter wie Darbyshire zusammengetragen haben. Nach dem Krieg will die Regierung die Schadenersatzforderungen vor dem Internationalen Gerichtshof durchsetzen.

Geringe Erfolgsaussichten
Grundsätzlich sind kriegsbedingte Schäden an der Umwelt bereits im Völkerrecht verankert. Im Zusatzprotokoll der Genfer Konvention sind Kriegsformen, die der Umwelt "langanhaltende, verbreitete und schwere Schäden" zufügen, verboten. Sowohl die Ukraine als auch Russland haben das Abkommen unterzeichnet.

Um wirklich ein Land oder einzelne Personen zur Verantwortung zu ziehen, fehlt es dem Abkommen jedoch an Durchsetzungskraft, sagen Experten. Einzig der Irak musste nach dem Überfall auf Kuwait 1990 dem Land 52,4 Milliarden Dollar als Entschädigung für Umweltschäden zahlen. Damals jedoch hatte auch Russland im UN-Sicherheitsrat für die Strafzahlungen gestimmt. Beim aktuellen Ukraine-Krieg ist die Situation freilich eine andere. Die Aussichten für die Ukraine, mit ihren Klagen durchzukommen, sehen wohl eher düster aus, vermuten Experten – selbst wenn die Beweislage gut ist.
(Jakob Pallinger, 6.8.2022)
Kriege – die vergessenen Klima- und Umweltsünder
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#23
GEZIELTE ANSCHLÄGE?
Lecks in beiden „Nord Stream“-Pipelines
1664272931722.png

Innerhalb von 24 Stunden sind aus den beiden – derzeit ohnehin nicht für den Gastransport genutzten – „Nord Stream“-Pipelines Druckverluste gemeldet worden. Bereits zu Wochenbeginn sackte der Gasdruck in „Nord Stream 2“ ab. Das Gleiche passierte dann in der Nacht auf Dienstag in der bis vor Kurzem noch aktiven Pipeline „Nord Stream 1“. Noch läuft die Ursachenforschung. Im Raum stehen auch gezielte Anschläge.
Online seit heute, 9.42 Uhr (Update: 11.44 Uhr)
Teilen
An einen Zufall zu glauben erscheint schwierig: Innerhalb eines Tages dürften beide deutsch-russischen Gasleitungen durch die Ostsee leckgeschlagen sein. In beiden Röhren der „Nord Stream 1“-Pipeline habe das Kontrollzentrum einen Druckabfall festgestellt, teilte der Leitungsbetreiber in der Nacht auf Dienstag mit. Die Kapazität der Pipeline sei ungeplant auf null gesunken.

Vom deutschen Wirtschaftsministerium und der Bundesnetzagentur hatte es daraufhin geheißen, man stehe miteinander und mit den betroffenen Behörden im Austausch, um den Sachverhalt aufzuklären. „Aktuell kennen wir die Ursachen für den Druckabfall nicht“, hieß es zu den Problemen an „Nord Stream 1“. Das dürfte sich inzwischen aber geändert haben. Dienstagfrüh gaben die schwedischen Behörden eine Warnung wegen zweier Lecks in schwedischen und dänischen Gewässern aus – jeweils die Pipeline „Nord Stream 1“ betreffend. Auch die dänische Schifffahrtsbehörde warnte vor einem Leck in der Pipeline nordöstlich der Insel Bornholm.

Ganz ähnlich hatte sich die Situation bereits am Montag rund um „Nord Stream 2“ entwickelt. In der Nacht auf Montag hatte der Betreiber wegen Druckproblemen an einer der Röhren alle Marinebehörden der Ostsee-Anrainer informiert. Im Verlauf des Tages wurde dann die wahrscheinliche Ursache für den Druckabfall ausfindig gemacht: Südöstlich der Insel Bornholm sei ein Gasleck beobachtet worden, hieß es in einem Hinweis der zuständigen dänischen Behörde. Das Leck sei gefährlich für die Schifffahrt und das Fahren innerhalb eines Bereichs von fünf Seemeilen von der besagten Position verboten.

Suche nach Ursachen
Die Ursachen hinter den Lecks sollen nun – aufgrund der Lage am Meeresgrund durchaus erschwerte – Untersuchungen zu Tage bringen. Wie der deutsche „Tagesspiegel“ berichtete, dürften die deutschen Behörden dabei aber die Möglichkeit eines Anschlags nicht ausschließen – beziehungsweise würden einen solchen sogar als wahrscheinlich annehmen. „Unsere Fantasie gibt kein Szenario mehr her, das kein gezielter Anschlag ist.“ Alles spreche „gegen einen Zufall“, zitierte die Zeitung eine in die Untersuchung eingebundene Person.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ENTSOG

Wer hinter einem solchen Sabotageakt stecken könnte, scheint derzeit allerdings nur Gegenstand von Vermutungen zu sein. Laut dem „Tagesspiegel“ könnten sowohl proukrainische Kräfte dafür verantwortlich sein wie auch eine russische Operation. Für die ukrainische Seite könnte es darum gehen, die russisch-deutschen Ostsee-Pipelines als russisches Druckmittel gegenüber dem Westen zu eliminieren. Zugleich würden damit die über Polen laufende Verbindung „Jamal“ und das ukrainische Pipeline-Netz noch wichtiger. Eine russische „False-Flag-Operation“ könnte hingegen zum Ziel haben, im Westen zusätzliche Verunsicherung zu schüren.

Ministerium: Betiligen uns nicht an Spekulationen
Sollte es sich um einen Anschlag handeln, würde angesichts des technischen Aufwands eigentlich nur ein staatlicher Akteur infrage kommen, erfuhr die dpa aus deutschen Sicherheitskreisen. Aus dem deutschen Wirtschaftsministerium hieß es am Dienstag freilich nur knapp: „An Spekulationen beteiligen wir uns nicht.“ Das dänische Klima- und Energieministerium forderte ein „höheres Maß an Wachsamkeit im Strom- und Gassektor“.
Dienstagvormittag äußerte sich auch der Kreml zu den Vorfällen rund um die beiden Pipelines. Derzeit könne keine Option ausgeschlossen werden, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in einer Telefonkonferenz mit Reportern. Der Kreml sei sehr besorgt und fordere eine „sofortige Untersuchung“, da es sich um eine Frage der Energiesicherheit für den „gesamten Kontinent“ handle.

Keine kurzfristigen Folgen für Gasversorgung
Fakt ist: Bereits vor den Druckproblemen floss zuletzt weder durch „Nord Stream 1“ noch durch „Nord Stream 2“ Gas von Russland Richtung Deutschland. „Nord Stream 2“ war infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nie in Betrieb genommen worden. Durch „Nord Stream 1“ hatte der russische Gaskonzern Gasprom die bereits zuvor reduzierten Lieferungen Anfang September ganz gestoppt – mit Verweis auf einen Ölaustritt in einer Kompressorstation. Die EU-Staaten sehen darin nur einen Vorwand.

Die unmittelbaren Folgen der Lecks für die europäische Gasversorgung dürften sich also vorerst in Grenzen halten. So hieß es auch vom deutschen Wirtschaftsministerium und der Netzagentur, die Speicherstände würden weiter „kontinuierlich“ ansteigen.

Zig Millionen Kubikmeter Gas in Pipelines
Eine andere Frage ist, welche Gefahren für Schifffahrt und Klima von den Lecks ausgehen. Denn auch wenn kein Gas durch die Pipelines fließt, waren sie bisher trotzdem damit gefüllt. Erdgas besteht zu überwiegenden Teilen aus Methan. Dieses ist hochentzündlich. Sollte es zu einer Explosion kommen, könnte das für Schiffe in der Nähe eine Gefahr darstellen – darum auch die nun erlassenen Warnungen der dänischen und schwedischen Behörden.

Zugleich ist Methan aber auch ein Treibhausgas, das in der Atmosphäre 25-mal stärker wirkt als etwa CO2. Sollten die beiden Pipelines in den kommenden Tagen tatsächlich leerlaufen, dann würden zig Millionen Kubikmeter Gas entweichen. Allein „Nord Stream 2“ war bisher mit 177 Millionen Kubikmetern Gas gefüllt. Das entspricht etwas mehr als zwei Prozent des jährlichen Gasverbrauchs in Österreich.

„Nord Stream 2“-Sprecher Ulrich Lissek stellte ein Leerlaufen der Pipeline bereits in den Raum. Zugleich bezeichnete der Pipeline-Betreiber die eigenen Möglichkeiten zur Ursachenforschung als eingeschränkt. Man verfüge kaum noch über Personal, und Gelder seien aufgrund der Sanktionen eingefroren, sagte der Sprecher. In Lubmin, dem Ort, in dem die Pipeline in Deutschland anlandet, ist nach Wissen Lisseks kein Personal der Nord Stream 2 AG. Man könne auch keine Aufträge erteilen, da man diese nicht bezahlen könne, und müsse schauen, woher man nun Informationen erhalte, hieß es weiter.
27.09.2022, red, ORF.at/Agenturen

Links:
Gezielte Anschläge?: Lecks in beiden „Nord Stream“-Pipelines
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#24
DAS SCHLIMMSTE KOMMT NOCH“
Düstere IWF-Prognose für Weltwirtschaft
1665511618952.png

Hohe Inflation, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die Folgen der Coronavirus-Pandemie lasten schwer auf der Weltwirtschaft. Der Internationale Währungsfonds (IWF) senkte am Dienstag seine globale Wachstumsvorhersage für 2023 auf 2,7 Prozent. Ein Drittel der Weltwirtschaft dürfte bis dahin in eine Rezession rutschen. „Das Schlimmste kommt erst noch, und für viele Menschen wird sich 2023 auch wie eine Rezession anfühlen“, sagte IWF-Ökonom Pierre-Olivier Gourinchas.
Online seit heute, 16.51 Uhr
Teilen
Die Weltwirtschaft stehe vor riesigen Herausforderungen, weil die Inflation hartnäckiger sei als gedacht und auch China an Zugkraft verliere. Die Prognose sei die schwächste seit rund 20 Jahren – mit Ausnahme der Vorhersagen während der Pandemie und der Weltfinanzkrise. Entscheidend sei nun, ob mit strenger Geldpolitik die Inflation zurückgehe, hieß es. Allerdings könnten die hohen Zinsen eine Schuldenkrise in einkommensschwachen Ländern auslösen.

In seiner neuen Prognose rechnet der IWF in diesem Jahr mit einem globalen Wachstum von 3,2 Prozent – das ist keine Veränderung zu der Vorhersage im Juli. Das prognostizierte Wachstum im Jahr 2023 ist mit 2,7 Prozent aber um 0,2 Prozentpunkte geringer als noch im Sommer angenommen. Im Euro-Raum solle das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im kommenden Jahr nur noch um 0,5 Prozent wachsen – eine deutliche Herabstufung im Vergleich zur vorigen Prognose.

Stagnation in USA, EU und China
Mehr als ein Drittel der Weltwirtschaft werde 2023 schrumpfen, warnte der IWF. In den drei größten Volkswirtschaften – den USA, der Europäischen Union und China – werde das Wachstum stagnieren. „Während sich Gewitterwolken zusammenbrauen, müssen die politischen Entscheidungsträger eine ruhige Hand bewahren“, so Chefvolkswirt Gourinchas.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: IWF

„Für die Jahre 2023 und 2024 wird eine Abkühlung der Inflation erwartet“, heißt es weiter in dem Bericht. In diesem Jahr rechnet der IWF in den Industriestaaten mit einer Teuerungsrate von 7,2 Prozent, also 0,6 Prozentpunkte mehr als noch im Sommer angenommen. Für das kommende Jahr prognostiziert der IWF dann eine Inflationsrate von im Schnitt 4,4 Prozent – das ist ebenfalls deutlich höher als bisher vorhergesagt.
In Schwellen- und Entwicklungsländern soll die Inflationsrate in diesem Jahr im Durchschnitt 9,9 Prozent betragen, ein Plus von 0,4 Prozentpunkten. Auch im kommenden Jahr wird dort eine hohe Teuerungsrate von 8,1 Prozent erwartet.

„Anfällige“ Energiepreise
Der IWF warnt, dass mehrere Faktoren eine Abschwächung der Inflation verlangsamen könnten. Sollte es noch weitere Schocks bei den Energie- und Lebensmittelpreisen geben, könnten die Verbraucherpreise längerfristig hoch bleiben. „Die Energiepreise sind und bleiben besonders anfällig mit Blick auf den Verlauf des Krieges in der Ukraine und das mögliche Aufflammen anderer geopolitischer Konflikte“, schreiben die Autorinnen und Autoren des Berichts. Wichtig sei bei der Inflation auch die Rolle der Zentralbanken. Diese müssten sich auf die Eindämmung der Inflation konzentrieren.

Notenbanken vor schwierigen Entscheidungen
Die US-Notenbank Fed hatte sich zuletzt mit mehreren kräftigen Zinserhöhungen gegen die extrem hohe Teuerungsrate gestemmt. Fed-Chef Jerome Powell hatte deutlich gemacht, dass weitere Erhöhungen des Leitzinses zu erwarten sind. Die EZB hatte nach langem Zögern im Juli die Wende hin zu höheren Zinsen eingeleitet.

Hier besteht laut IWF sowohl das Risiko, zu wenig zu machen, als auch jenes, zu viel zu tun. Zu kräftige Zinserhöhungen könnten das Wachstum über die Maßen abwürgen, ein zu langes Zögern die Inflation nicht bändigen. Es gehe dabei auch um die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken. Die Finanzpolitik sollte in der Energiekrise vor allem den Schwächsten der Gesellschaft zeitlich befristet helfen.

Doch eine weitere Straffung der Geldpolitik in den Industriestaaten erhöhe den Druck auf Kreditkosten in einkommensschwächeren Staaten, so der IWF. Das wäre für die von der Pandemie sowieso schon schwer getroffenen Länder fatal – und hätte auch weltweite Folgen. „Eine sich ausweitende Schuldenkrise in diesen Volkswirtschaften würde das globale Wachstum stark belasten und könnte eine weltweite Rezession auslösen.“

Rezession für Deutschland?
In Europa spürt Deutschland die Auswirkungen des Krieges und der starken Energieabhängigkeit von Russland besonders deutlich. Anders als etwa Frankreich, Spanien und Großbritannien rechnet der IWF für Deutschland 2023 mit einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung – konkret von minus 0,3 Prozent. Damit wurde die Schätzung aus dem Juli um 1,1 Prozentpunkte reduziert. Auch Italien dürfte nächstes Jahr ins Minus rutschen.
Die USA werden 2022 und 2023 um 1,6 und 1,0 Prozent wachsen. Dabei wurde die Schätzung für dieses Jahr deutlich zurückgenommen. Für China sind die IWF-Experten ein Tick pessimistischer und rechnen 2022 und 2023 nun mit Wachstumsraten von 3,2 und 4,4 Prozent – wenig für chinesische Verhältnisse.

Viele Unsicherheitsfaktoren
Der IWF betont, dass die Prognosen außerordentlich unsicher seien. Die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft hänge entscheidend von der Geldpolitik, dem Verlauf des Krieges in der Ukraine und möglichen weiteren pandemiebedingten Störungen – etwa in China – ab. Die weitere Aufwertung des US-Dollars dürfte außerdem zu weiteren Spannungen führen. Die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges könnten Europa weiter belasten. Ein Wiederaufflammen der Coronavirus-Pandemie oder neue globale Gesundheitsängste könnten das Wachstum weiter bremsen.
11.10.2022, red, ORF.at/Agenturen

Links:
„Das Schlimmste kommt noch“: Düstere IWF-Prognose für Weltwirtschaft
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#25
VON RUSSLAND ABHÄNGIG
Moldawien „droht harter Winter“
Moldawien macht zurzeit die schlimmste Energieversorgungskrise seit Jahrzehnten durch. In puncto Erdgasversorgung hängt das Land weitgehend vom russischen Energiekonzern Gasprom ab, der erst Anfang Oktober gedroht hatte, den Gashahn völlig zuzudrehen. Staatspräsidentin Maia Sandu warnt vor einem beispiellos harten Winter – auch, da der Ukraine-Krieg die Armut in der Bevölkerung drastisch verschärft.
Online seit heute, 7.12 Uhr
Teilen
Im Oktober hatte Gasprom die Lieferungen an Moldawien bereits erheblich gedrosselt. Fast zeitgleich kündigten die prorussischen Behörden der abtrünnigen Region Transnistrien an, die Stromlieferungen des Kraftwerks Ciugurdan an Moldawien auf 23 Prozent zu drosseln. Das in der selbsternannten prorussischen Republik Transnistrien gelegene Kraftwerk sicherte bisher rund 70 Prozent des Stromverbrauchs der Hauptstadt Chisinau.

Die moldawischen Behörden hatten daraufhin zunächst Strom aus der kriegsgebeutelten Ukraine bezogen – diese sah sich jedoch infolge der russischen Angriffe auf ihre Energieinfrastruktur schon bald gezwungen, ihre Stromlieferungen ins Ausland einzustellen. Denn auch der Ukraine steht ein äußerst harter Winter bevor, Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen mit erheblichen Einschränkungen bei der Versorgung mit Strom und Wasser, die Heizungen müssen vielerorts kalt bleiben.

Wäsche waschen nach 23 Uhr
Mittlerweile übertreffe die Nachfrage auch in Moldawien zu Spitzenzeiten die Kapazität, erklärte das moldawische Infrastrukturministerium Mitte Oktober. Großgeräte wie Waschmaschinen und Geschirrspüler sollten daher erst nach 23.00 Uhr angestellt werden. Auch solle das Aufladen von tragbaren elektronischen Geräten wie Handys erst dann erfolgen.

Ungeheizte Räume in Büros oder Schulen sowie spärliche Beleuchtung zu Hause und im öffentlichen Raum sind für viele bereits Alltag, berichtete die deutsche Tagesschau. In den letzten Monaten seien die Preise für Energie auch für Unternehmen konstant gestiegen, seit Beginn des Monats müssten die Menschen um ein Drittel mehr zahlen. Grund dafür seien ausstehende Schulden, heißt es aus Russland – was die proeuropäische moldawische Führung allerdings bestreitet.

AP/Aurel Obreja
In Chisinau muss sich die Bevölkerung auf einen Winter ohne Gas einstellen

Armut im Land verschärft
Aktuell halten sich laut der moldawischen Innenministerin Ana Revenco 80.000 Vertriebene aus dem Nachbarland in Moldawien auf, wobei es sich zu 50 Prozent um Kinder handle. Für neue Flüchtlingswellen aus der Ukraine sieht Revenco ihr Land gut gerüstet, die Migrationswelle habe jedoch die Armut im Land verschärft, und viele Menschen hätten nun Angst, ob sie ihre Häuser im Winter noch werden heizen können, so Revenco kürzlich in einem Mediengespräch am Rande der Vienna Migration Conference in Wien. Moldawien gilt nach dem Kosovo als zweitärmstes Land in Europa.
Die Ministerin verwies diesbezüglich auf den sich abzeichnenden Stopp von russischen Gaslieferungen, von denen das Land fast ausschließlich abhängig sei. „Meine Kollegen in der Regierung suchen nach Lösungen, aber die Aussichten sind nicht gut“, sagte die Ministerin. Sollte es zu einem Lieferstopp kommen, „würde das definitiv große Probleme für das Funktionieren unseres Staates verursachen“ und die aktuelle politische Krise vertiefen. Der Energieselbstversorgungsgrad Moldawiens gehört zu den niedrigsten der Welt.

1668243068783.png

Quelle: Energy-Charts


EU unterstützt mit 250 Mio. Euro
Die Europäische Union kündigte am Donnerstag an, die Republik Moldawien mit Finanzhilfen in Höhe von 250 Millionen Euro unterstützen zu wollen. „Die europäische Solidarität mit Moldawien ist unerschütterlich“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen heute bei einem Besuch in Chisinau.

Im Rahmen des „Energieunterstützungspakets“ erhält Moldawien ab Jänner 100 Millionen Euro in Form von Zuschüssen und 100 Millionen Euro in Form von Darlehen zur „Deckung seines Gasbedarfs“. Weitere 50 Millionen Euro werden von der Leyen zufolge als „Budgethilfe“ bereitgestellt.
Zuvor hatte die moldawische Innenministerin die Europäische Union aufgerufen, ihr Land auch finanziell zu unterstützen. Schließlich betreffe die Gaskrise auch die ukrainischen Geflüchteten, die in großem Maße bei moldawischen Familien untergebracht sind. Wenn diese nicht mehr heizen könnten, treffe es damit auch die Geflüchteten. Seit Ende Juni hat Moldawien den Status eines EU-Beitrittskandidaten, die Vorbereitungen dürften allerdings noch Jahren dauern.

Reformregierung „von Anfang an untergraben“
Russland habe die moldawische Reformregierung von Anfang an mit hohen Energiepreise untergraben, sagte Sergiu Tofilat, Energieexperte der Organisation Watchdog in Chisinau, gegenüber der Tagesschau. Man müsse nun einen Kompromiss suchen: „Beide Seiten – Chisinau und die selbsternannte Republik Transnistrien – hängen nun einmal voneinander ab, was die Infrastruktur der Energie angeht.“ Um die EU-Integration zu beschleunigen, brauche Moldawien die Unterstützung des Westens.

Moldawien seit Beginn des Krieges nervös
Nicht nur in Hinblick auf die Versorgungssicherheit im Winter, sondern auch auf die eigene Involvierung in den Krieg im Nachbarland Ukraine ist die Anspannung in Moldawien groß. „Die Menschen vergessen oft, dass zwischen der Ukraine und Westeuropa der souveräne Staat Moldawien liegt, über den niemand spricht“, verwies der Politologe Ivan Astrov im Gespräch mit ORF.at bereits im März auf die schwierige Lage Moldawiens im Krieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin vor allem geopolitisch gerechtfertigt hatte.

1668243358742.png

Hinzu kommen die eigenen prorussischen Strömungen im Land, konkret in der selbsternannten Republik Transnistrien, in der Schätzungen zufolge neben 10.000 bis 15.000 moskautreuen Paramilitärs bis zu 1.500 Soldaten der russischen Streitkräfte stationiert sind. Die gesamte moldawische Gesellschaft sei „schon wieder“ stark polarisiert, sagte die moldawische Innenministerin vor Journalistinnen und Journalisten in Wien.
Scharfe Kritik übte sie am Oligarchen Ilan Shor, der die Proteste vom Ausland aus steuere. Die Protestteilnehmenden „sagen ganz offen, dass sie bezahlt werden“, berichtete Revenco. „Aufgrund der riesigen Propaganda und von ‚Fake News‘ glauben Sie immer noch, dass Moskau zu ihrem Schutz kommen wird, und dafür nur eines braucht: einen Machtwechsel“, sagte die Mitstreiterin der proeuropäischen Präsidentin Maia Sandu.

APA/AFP/Daniel Mihailescu
Ein Soldat kontrolliert Autos, die auf die Ausreise aus Transnistrien warten

Strom aus Rumänien soll helfen
Gegenwärtig erhält Moldawien Strom aus Rumänien – erst kürzlich hatte das Land 50 MW von der rumänischen OMV-Tochter Petrom bezogen, davor weitere 100 MW vom staatlichen Stromerzeuger Hidroelectrica. Vor diesem Hintergrund traf Staatspräsidentin Sandu Anfang des Monats in Rumänien ein, wo ihr Staatspräsident Klaus Johannis und Regierungschef Nicola Ciuca weitere Hilfe zusagten.
Ihr Land durchlebe gegenwärtig „dramatische Zeiten“, Moldawien drohe ein beispiellos schwerer Winter, doch lasse man sich „nicht erpressen“ und sei „bereit, den Preis für die Freiheit“ zu bezahlen, sagte Sandu in Bukarest. Sie danke den rumänischen Behörden dabei ausdrücklich für die bisherige Hilfe.
Reuters/David W Cerny
Die europäische Haltung der moldawischen Staatspräsidentin ist Russland ein Dorn im Auge

Stromrationierungen als Zwischenlösung
Der moldawische Vizepremier Andrej Spinu teilte seinerseits in Chisinau mit, dass der staatliche Energielieferer Energocom mit drei rumänischen Energieunternehmen Verträge über Stromlieferungen abgeschlossen habe. Wirtschaftsanalysten zufolge wird Rumänien dem Nachbarland allerdings bestenfalls 30 Prozent seines Gesamtbedarfs an Strom liefern können.

Aktuell setzen die moldawischen Behörden auf Stromrationierungen – jüngst war in Chisinau sogar eine Regierungssitzung im Finsteren abgehalten worden. Laut moldawischer Presse sind auch Kerzen und Öllampen in dem Land infolge der explosionsartig gestiegenen Nachfrage mittlerweile Mangelware.
12.11.2022, moha (Text), scho (Grafik), beide ORF.at/Agenturen

Links:
Von Russland abhängig: Moldawien „droht harter Winter“
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#26
REAKTION AUF ÖLPREISDECKEL
Kreml lässt konkrete Schritte offen
1670092758080.png

Nach Reaktionen russischer Diplomaten auf den von EU, den G-7-Staaten und Australien vereinbarten Ölpreisdeckel hält sich die russische Regierung in ihrer ersten Stellungnahme konkrete Schritte offen. „Wir werden diese Deckelung nicht akzeptieren“, erklärte der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, der Agentur TASS zufolge. Die Ukraine hingegen bezeichnete die Preisobergrenze als zu hoch.
Online seit heute, 18.08 Uhr
Teilen
Um die Wirtschaft des russischen Feindes schneller zu „zerstören“, sei es notwendig, den Preis auf 30 Dollar zu reduzieren, teilte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, am Samstag mit. Zugleich begrüßte er aber den Schritt. Russland sieht in der Maßnahme unterdessen einen Verstoß gegen die Gesetze des freien Marktes. Aus dem Kreml hieß es, man sei vorbereitet – man werde die Situation rasch analysieren und sich dann zu konkreten Schritten äußern.

Die EU-Staaten hatten sich zuvor nach langen und schwierigen Verhandlungen auf die Höhe eines Preisdeckels für russisches Öl geeinigt, die G-7 (also USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan) sowie Australien schlossen sich an. Die Staaten wollen Russland dazu zwingen, Erdöl künftig unter dem Marktpreis an Abnehmer in anderen Staaten zu verkaufen.

Soll ab Montag gelten
Ziel ist es, die Kriegskasse des Kreml auszutrocknen. Die am Freitag erzielte Absprache sieht vor, zunächst eine Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel festzulegen. Der Preis von umgerechnet etwa 57 Euro pro 159 Liter würde dann um bis zu neun Euro unter dem jüngsten Marktpreis für russisches Rohöl der Sorte Urals liegen. Der Preisdeckel soll den Plänen zufolge ab Montag gelten.

Ökonomin: „Russland wird es empfindlich treffen“
Nach Einschätzung der Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) würde der Ölpreisdeckel Russlands Kriegskasse durchaus stark treffen. „Russland wird es empfindlich treffen, die Einnahmen werden nicht mehr so üppig sein“, sagte sie am Samstag im Deutschlandfunk.

An wichtige Dienstleistungen gekoppelt
Um die Preisobergrenze durchzusetzen, soll geregelt werden, dass für russische Ölexporte wichtige Dienstleistungen künftig nur noch dann ungestraft geleistet werden dürfen, wenn der Preis des exportierten Öls die Preisobergrenze nicht überschreitet. Westliche Reedereien könnten mit ihren Schiffen damit weiterhin russisches Öl in Drittstaaten wie Indien transportieren. Auch soll die Regelung für andere wichtige Dienstleistungen wie Versicherungen, technische Hilfe sowie Finanzierungs- und Vermittlungsdienste gelten.

US-Finanzministerin preist Maßnahme
US-Finanzministerin Janet Yellen pries die Preisobergrenze als Ergebnis monatelanger Anstrengungen der beteiligten Staaten. „Gemeinsam haben die G-7, die Europäische Union und Australien nun einen Preisdeckel auf russisches Öl gesetzt, der uns beim Erreichen unseres Ziels helfen wird, Putins primäre Einnahmequelle für seinen illegalen Krieg in der Ukraine zu begrenzen und zugleich die Stabilität der globalen Energieversorgung zu erhalten“, sagte sie mit Blick auf den russischen Präsidenten Putin.

Soll Ölembargo ergänzen
Die Preisobergrenze soll das bereits im Juni von der EU beschlossene Ölembargo gegen Russland ergänzen. Dieses sieht unter anderem vor, den Erwerb, die Einfuhr und die Weiterleitung von Rohöl und bestimmten Erdölerzeugnissen aus Russland in die EU zu verbieten. Die Beschränkungen gelten ab dem 5. Dezember für Rohöl und ab dem 5. Februar 2023 für andere Erdölerzeugnisse. Es gibt allerdings einige Ausnahmeregelungen zum Beispiel für Ungarn.
Den Grundsatzbeschluss zur Einführung der Preisobergrenze für russisches Öl hatten die Mitgliedsstaaten im Oktober getroffen – nachdem zuvor die G-7 eine entsprechende Initiative gestartet hatte.
03.12.2022, red, ORF.at/Agenturen

Links:

Reaktion auf Ölpreisdeckel: Kreml lässt konkrete Schritte offen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#27
KRIEGSKASSE LEIDET
Große Abschläge für russisches Öl
1671220406049.png

Die westlichen Sanktionen wie der kürzlich umgesetzte Preisdeckel auf russisches Öl scheinen sich niederzuschlagen. Russland hat gegen die Preisgrenze protestiert, doch viele gangbare Optionen bleiben nicht. Daher dürfte Russland sein Urals-Öl Indien mit deutlichen Abschlägen feilbieten – schlecht für die Kriegskasse des Kreml.
Online seit heute, 20.16 Uhr
Teilen
Seit fast zwei Wochen ist die Preisobergrenze nun in Kraft, nach langen und zähen Verhandlungen hatten sich zunächst die EU-Mitgliedsländer darauf geeinigt, die G-7, Australien und Norwegen zogen nach. Seither darf Russland nur noch in Ausnahmefällen Öl in die EU exportieren. Zudem soll Russland sein Öl künftig für höchstens 60 Dollar (57 Euro) pro Barrel an Abnehmer in anderen Staaten verkaufen. Umgesetzt wird das via internationales Versicherungsrecht: Es werden nur Versicherungen ausgestellt, wenn der limitierte Kaufpreis eingehalten wird.

Das Ziel ist, eine Entspannung auf den Energiemärkten herbeizuführen und Russlands Kriegsbudget auszutrocknen, der Kreml sollte nicht mehr von Preisanstiegen für Öl profitieren. Bisher machten die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf bis zu 45 Prozent des russischen Staatshaushaltes aus.

Teils unter Produktionskosten
Moskau protestierte freilich gegen die westliche Maßnahme, sie verzerre den Wettbewerb, und man werde sich nicht daran halten. Kreml-Chef Wladimir Putin sagte auch, man werde den Ländern, die die Preisfestlegung unterstützen, kein Öl mehr verkaufen. Ohnehin werde der Deckel keine Verluste für Russland zur Folge haben.

Die G-7
Die Gruppe der sieben (G-7) ist ein informeller Zusammenschluss von großen westlichen Industriestaaten. Ihr gehören die USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan an.

Nun aber stellt sich die Lage bereits anders dar: Reuters berichtete unter Berufung auf vier Marktinsider, dass Indien russisches Urals-Öl, Russlands wichtigste Rohölsorte, mit derart großen Abschlägen kaufte, dass die Exporte teils weniger als die Produktionskosten ausmachten.
Bei einigen der Transaktionen sei der Preis – einschließlich Versicherung und Lieferung per Schiff – um etwa zwölf bis 15 Dollar pro Barrel gefallen (derzeit liegt der Preis für ein Barrel Urals-Öl bei 57 Dollar nach 71 Dollar noch im vorigen Monat).

Indien profitiert von westlicher Abkehr
Indien avancierte in den vergangenen Monaten zum Hauptabnehmer für Urals-Öl via Seefracht. Früher kaufte Indien in Relation wegen der kostspieligen Logistik wenig Öl aus Russland, seit der Invasion in der Ukraine ist das anders. Laut Reuters zeigten Handelsdaten, dass russisches Öl im November fast ein Viertel des gesamten indischen Imports ausmachte, die Importe seien den fünften Monat in Folge gestiegen.
Schon vor dem europäischen Einfuhrverbot begann Moskau damit, sich nach alternativen Märkten für mehr als eine Million Barrel am Tag umzusehen, vor allem in Asien. „Der Markt ist voll mit Urals-Öl, es gibt reichlich“, wurde eine anonyme Quelle aus einem indischen Raffinerieunternehmen zitiert.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: bruegel.org

Dass Russlands Öl komplett an andere Abnehmer verkauft werden kann, gilt als ausgeschlossen. Nach EU-Angaben könnten Moskau längerfristig Erlöse in Höhe von etwa 200 Millionen Euro pro Tag entgehen.

Druck auf Lieferanten
Zusätzlich wird der Export derzeit durch das russische Winterwetter und einen Mangel an geeigneten Schiffen erschwert und verteuert. Daher versuchen Lieferanten vermehrt, den Transport mit eigenen Schiffen und Partnern abzuwickeln, um die Kosten zu senken.
Viele Ölproduzenten verlassen sich aber noch auf altbekannte Handelsfirmen. Die Gewinne aber müssen sie entsprechend teilen, zudem unterliegen diese Firmen oft den inzwischen zahlreichen Sanktionen des Westens. Sie dürfen eben nur noch dann russisches Öl in Länder wie Indien liefern, wenn der Preisdeckel nicht überschritten wird.
16.12.2022, red, ORF.at/Agenturen

Links:
Regionale- und weltwirtschaftliche Auswirkungen des Krieges in der Ukraine
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#28
RUSSISCHER ANGRIFF
Wirtschaftshistoriker Tooze: "Ohne westliche Hilfe wäre die Ukraine nicht lebensfähig"
Allein über Panzerlieferungen zu diskutieren reicht nicht. Wer will, dass die Ukraine weiterkämpft, müsse das Land wirtschaftlich und sozial stabilisieren, sagt Adam Tooze. Dabei scheut der Westen den ukrainischen Staat
Interview

Ein von Bomben zerstörtes Gebäude in Borodjanka in der Umgebung von Kiew
Foto: AP

Mit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine steht auch ein Teil der Wirtschaftswelt Kopf. Europa ordnet seinen Energiemarkt neu, Russland muss mit beispiellosen Sanktionen umgehen. Die Ukraine beklagt nicht nur viele Opfer, sondern auch eine beispiellose Zerstörung der Wirtschaft des Landes.

STANDARD: Sie haben zu Beginn des Krieges gesagt, der wirtschaftliche Ablösungsprozess Europas von Russland werde für beide Seiten schmerzlich. Fast ein Jahr später ist die Ablösung weit vorangeschritten. Gibt es für Sie dabei große Überraschungen?

Tooze: Der Erfolg, mit dem Europa auf dem Markt für flüssiges Erdgas (LNG) vorgeprescht ist. Europa hatte natürlich ein Riesenglück, weil China als großer LNG-Importeur durch die Zero-Covid-Politik 2022 ausgefallen ist und das Wetter mild war. Aber in einer sehr kurzen Zeit ist es insbesondere Deutschland gelungen, den Gaskonsum zu drosseln und neue Importquellen zu finden. Das ist in gewisser Weise eine Bestätigung der Grundthese, dass Preisänderungen etwas bewirken können. Die Krise ist aber nicht vorbei. Das zu denken wäre sehr gefährlich.

STANDARD: Warum?

Tooze: Die Turbulenzen an den Energiemärkten haben nicht mit dem Krieg angefangen. Die Energiepreise sind inzwischen wieder auf das Niveau von 2021 gesunken, aber schon damals lagen sie zwei- bis dreifach über dem Niveau der vergangenen zehn Jahre. Das heißt, wir sind immer noch in einer Ausnahmesituation. Dass die Preise schon 2021 hochgeschossen sind, hatte primär nichts mit irgendeiner russischen Strategie zu tun.

STANDARD: Sondern?

Tooze: Es lag am Gasmarkt. Die Nachfrage war hoch, China hat viel aufgekauft, während die Mengen am LNG-Markt gering waren. 2022 hat Europa vor allem die Schwellenländer Asiens vom Markt vertrieben, die gar nicht mehr zu ihren LNG-Lieferungen kamen. Wenn aber in den kommenden Monaten nicht Bangladesch, Pakistan und Indien mit Europa um das vorhandene LNG konkurrieren, also Länder, die finanziell nicht mithalten können, sondern China, Japan und Südkorea, dann kann es mit der Entspannung schnell vorbei sein. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen: Der LNG-Markt ist ein asiatischer Markt, für ostasiatische Kunden geschaffen.

STANDARD: Ist neben Europa nicht auch Russland überraschend gut durch die Krise gekommen? Obwohl der Westen gewaltige russische Vermögenswerte eingefroren und umfassende Sanktionen beschlossen hat.

Tooze: Dass der Westen zu diesen scharfen Sanktionen gegriffen hat, war die größere Überraschung. Dass Russland weiterhin funktionieren kann, solange es Öl in großen Mengen und sogar zu höheren Preisen als vor der Krise ins Ausland verkauft, ist nicht weiter erstaunlich. Ziel der Finanzsanktionen war es, eine Krise auszulösen. Das ist auch gelungen, die Finanzmärkte in Russland waren zunächst stark unter Druck. Aber bei kompetentem Management – und die Russen sind da äußerst kompetent – waren diese Probleme bewältigbar. Russlands Finanzsystem musste von jenem des Westens abgekoppelt werden. Und das haben sie hinbekommen.

STANDARD: Sie argumentieren in Ihrem Buch* über den Zweiten Weltkrieg, dass das NS-Regime deshalb unterlegen war, weil Deutschland ökonomisch nicht mit den Alliierten mithalten konnte. Spielt dieser Faktor auch eine Rolle im aktuellen Konflikt? Russlands Wirtschaft ist winzig im Vergleich zu jener des Westens.

Tooze: Vergleiche der Kapazitäten einzelner Länder machen dann Sinn, wenn die Staaten einen totalen Krieg gegeneinander führen. Dann hängt tatsächlich alles davon ab, wer die größeren Kapazitäten hat. Das einzige Land, das aktuell eine totale Kriegswirtschaft betreibt, weil es gar keine Alternative hat, ist die Ukraine. Sie leidet unter der Situation, die Lage ist wirtschaftlich und gesellschaftlich bedrängend. Ohne westliche Hilfe wäre das Land nicht lebensfähig. Die übrigen Staaten unternehmen keine totalen Kriegsanstrengungen, selbst Russland nicht.

STANDARD:Was bereitet Ihnen bezüglich der Ukraine die meisten Sorgen?

Tooze: Die Inflationsrate ist beängstigend, die Finanzierung des Krieges ist nicht stabil gesichert. Die Europäer und Amerikaner haben sich zwar zur finanziellen Unterstützung verpflichtet. Die Ukrainer müssen aber von Monat zu Monat bangen, was sie bekommen. Wenn man wirklich an der Fortführung dieses Krieges von der ukrainischen Seite her interessiert ist, dann sollte man sich über die Frage "Panzer liefern: ja oder nein?" hinaus intensiver damit beschäftigen, wie sich die ukrainische Heimatfront stabilisieren lässt. Das beginnt bei Stromlieferungen, geht aber weiter. Das Problem dabei ist, dass hier die Schwachstelle der Ukraine liegt. Wenn es um die langfristige Finanzierung des Staates geht, stellen sich schnell Fragen nach der Rolle der Oligarchen in Kiew und nach der Korruption dort.


Ein Hauch Normalität: ein Kebab-Stand in der ukrainischen Stadt Lwiw. Ein Generator sorgt für Strom. Russland greift die Energieinfrastruktur der Ukraine laufend an.
Foto: AP

STANDARD: Aktuell wird das nicht diskutiert.

Tooze: All das ist ja durch den heroischen Widerstand der Ukrainer verdrängt worden. Aber noch vor zwölf Monaten war die weitläufige Ansicht in den Hauptstädten Europas und in Amerika, dass die Ukraine im Grunde ein gescheitertes politisches Projekt ist, jedenfalls von wirtschaftlicher Seite. Wenn man sich Medienberichte Ende 2021 zum Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Washington beim Internationalen Währungsfonds ansieht, wirkt der kritische Ton von damals heute fast anstößig.

STANDARD: Gibt es dazu in der Ukraine selbst eine kritische Debatte?

Tooze: Ja. Es gibt eine ukrainische Linke, die wenig beachtet wird im Westen. Sie warnt vor der Richtung, in der sich die aktuelle Wirtschafts- und die Gesellschaftspolitik in der Ukraine entwickeln.

STANDARD: Was wird befürchtet?

Tooze: Die Befürchtung ist, dass die Armut in der Bevölkerung bedrohlich wird. Dass die Zustände der ukrainischen Familien unerträglich werden und dass in dieser Situation der Saat entgegensteuert und im Versuch, die Wirtschaft zu retten, wesentliche Teile des Wohlfahrtsstaates opfert und den Arbeitsmarkt komplett dereguliert, im Namen der Flexibilität. Und unter anderem wird diese Politik auch von westlichen Experten befürwortet, die viele Berührungsängste haben mit dem ukrainischen Staat.

STANDARD: Die USA engagieren sich stark für die Ukraine. Sind die Ziele Europas und der USA ident?

Tooze: Die USA engagieren sich nicht deshalb so stark, um Demokratie gegen Autokratie zu verteidigen. Das ist nicht das Thema hier. Ich sage das nicht aus Zynismus heraus, sondern weil es einfach unrealistisch ist, sich vorzustellen, dass es darum geht. Das Ziel Washingtons ist eine strategische Schwächung Russlands als möglicher Partner Chinas. Das war nicht die beabsichtigte Politik von Präsident Joe Biden. Die Absicht im Weißen Haus war eigentlich, Russland abzuspalten von China. Biden wollte eine Wiederherstellung der Beziehungen mit Moskau versuchen. Dann hat Putin seine wahnsinnige Fehlentscheidung getroffen und den Krieg begonnen. Als sich herausgestellt hat, dass der ukrainische Widerstand funktioniert und die Russen nicht ohne weiteres siegen können, haben die Entscheidungsträger in Washington die Möglichkeit ergriffen und nützen seither den Krieg, um Russland strategisch zu schwächen.


"2022 hat Europa vor allem die Schwellenländer Asiens vom Markt vertrieben", sagt Adam Tooze.
Foto: Imago

STANDARD: Welche Konsequenzen hat das für die EU?

Tooze: Das Problem ist, dass die EU extrem gespalten ist zwischen der klassischen Achse Paris–Berlin und den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa. Dass Berlin und Paris möglichst schnell auf einen Verhandlungsfrieden drängen, war schon immer klar. Niemand wird es richtig aussprechen, weil es peinlich ist angesichts des tapferen Widerstands der Ukrainer und der kriminellen Aggressivität Russlands. Aber es dient den eigenen Interessen Deutschlands und Frankreichs, zumal aus ihrer Sicht der wichtige Punkt schon erreicht ist: Russland hat nicht gewonnen. Das Problem ist nur, dass Amerikas Interesse ein anderes ist. Aber vor allem sieht man es in Polen und im Baltikum anders, wo mit Nachdruck darauf gedrängt wird, dass Russland nicht nur nicht siegt, sondern eine echte Niederlage erleidet. Auch die skandinavischen EU-Länder haben mittlerweile eine harte Position bezogen.
(András Szigetvari, 12.1.2023)

Adam Tooze ist britischer Wirtschaftshistoriker und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Er ist Autor vieler Bücher, darunter "Ökonomie der Zerstörung" (*) über die Wirtschaft im Nationalsozialismus.

Wirtschaftshistoriker Tooze: "Ohne westliche Hilfe wäre die Ukraine nicht lebensfähig"
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#29
ENERGIEKRIEG
Putin auf der Verliererstraße
1674290985298.png

Die Gaskeule des russischen Präsidenten Wladimir Putin hat sich offensichtlich abgenutzt. Die USA könnten in diesem Jahr Russland als wichtigsten Energielieferanten der EU ablösen, wie die Website Quartz jetzt schreibt. Die Trennung von Russland sei recht zügig gegangen, so Quartz weiter. Nachdem Putin Angst und Chaos verursacht habe, indem er Gaslieferungen gegen Länder, die die Ukraine unterstützen, gekürzt habe, befinde er sich nun im Energiekrieg auf dem Rückzug, schreibt die „Financial Times“ („FT“).
Online seit heute, 7.30 Uhr
Teilen
Die russische Energiewaffe habe ihren Schrecken verloren, so auch die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“). Die Preise sind laut „FT“ zwar immer noch auf einem historischen Höchststand, und das sei zwar schmerzhaft, allerdings sei der Gaspreis auf einem Niveau, das für die meisten westeuropäischen Volkswirtschaften gerade noch zu bewältigen sei. Weit verbreitete Engpässe, die einst berechtigterweise befürchtet wurden, seien nicht eingetreten, so die „FT“ weiter.

Die Gaspreise in Europa sind nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen allerdings schneller gefallen als erwartet. Im Vergleich zu ihrem Höchststand im August von 350 Euro pro Megawattstunde seien die europäischen Erdgaspreise diesen Monat um 80 Prozent gesunken, sagte von der Leyen beim Weltwirtschaftsforum in Davos diese Woche. „Das ist niedriger als vor dem Krieg in der Ukraine.“

Reuters/Sputnik
Der russische Präsident Wladimir Putin

Von Russland zu den USA
Als Grund für die Entwicklung nannte von der Leyen die gemeinsamen Anstrengungen der EU. Europa habe die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland überwunden und rund 80 Prozent des russischen Pipeline-Gases ersetzt. Zudem habe man die Gasspeicher gefüllt und die Nachfrage verringert – zwischen August und November um mehr als ein Fünftel.

Das fehlende russische Gas wurde in Europa laut Quartz unter anderem auch durch verstärkte Importe aus den USA ausgeglichen. Diese Verschiebung könnte die USA in diesem Jahr zu Europas führendem Energielieferanten machen, heißt es weiter.

Kältewelle könnte Preise wieder steigen lassen
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des drastischen Rückgangs russischer Gaslieferungen an Europa war der Gaspreis 2022 rasant gestiegen und hatte im August einen Höhepunkt erreicht. Bei Ausbruch des Ukraine-Krieges im Februar vorigen Jahres kostete Gas um die 120 Euro pro Megawattstunde. Zuletzt lag der Preis durchschnittlich zwischen 50 und 60 Euro pro Megawattstunde.

Grund dafür ist unter anderem auch der durch die Klimakrise ausgelöste, bisher milde Winter. Bei einer Kältewelle könnten die Energiepreise allerdings wieder steigen, mutmaßt die „Financial Times“. Doch auch wenn Russland seine Lieferungen weiter verknappen würde, würde das keine Panik auslösen, die Speicher seien ausreichend gefüllt, schreibt auch die „FT“ weiter.

Reuters/Fabian Bimmer
Der LNG-Frachter „Hoegh Gannet“ im Hafen von Brunsbüttel

Budget des Kreml getroffen
Es wäre allerdings töricht, weitere Preisschwankungen auszuschließen, so die „FT“. Aber das Ende von Russlands Energiekrieg sei nur eine Frage der Zeit, so die „FT“ weiter. Im vergangenen Jahr haben höhere Gaspreise für Moskau den Verlust an verkauften Mengen mehr als ausgeglichen. Das scheine aber nun unwahrscheinlich zu sein. Die Sanktionen des Westens haben den Preis, den Moskau für sein Öl erzielen könne, effektiv halbiert und das Budget des Kreml getroffen, heißt es in der „FT“.

Bis 2024/25 werde auch mehr Flüssigerdgas (LNG) auf den Weltmarkt kommen. Das würde die Versorgungslage weiter entspannen und extreme Preisspitzen unwahrscheinlicher machen. Ein kleines Riskio gebe es, wenn die Gasnachfrage in der Industrie nämlich steigen würde, könnte das auch den Gaspreis wieder erhöhen. Der Ausbau von erneuerbarer Energie müsse allerdings beschleunigt werden, um die von Putin ausgenutzte strategische Schwäche zu beseitigen, so die „FT“ weiter.

Reuters/Michael Sohn
Das LNG-Terminal im deutschen Wilhelmshaven

Bereits drei LNG-Terminals in Deutschland
Deutschland hat unterdessen mit dem neuen LNG-Flüssiggasterminal in Brunsbüttel in etwa ein Viertel der weggefallenen Liefermenge aus Russland perspektivisch ersetzt. Mit dem dritten LNG-Terminal im Norden seien jetzt Kapazitäten im Umfang von 14 Milliarden Kubikmetern Gas gebaut worden, sagte der deutsche Wirtschaftsminister Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Freitag im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel. Im Zuge des Krieges in der Ukraine sind für Deutschland 55 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland weggefallen, die ersetzt werden müssen.
In den vergangenen Wochen wurden nach ungewöhnlich kurzer Planungs- und Genehmigungszeit bereits drei LNG-Projekte an den Start gebracht – in Wilhelmshaven, Lubmin und nun in Brunsbüttel. „Da müssen weitere dazu.“ Vorerst sei Gas noch nötig für die Energieversorgung. Auch die weiteren LNG-Projekte müssten schnell umgesetzt werden. Das schwimmende Terminal in Brunsbüttel wird laut dem deutschen Wirtschaftsministerium Flüssiggas von LNG-Tankern annehmen und ins deutsche Gasnetz einleiten. Die jährliche Regasifizierungskapazität wird auf 7,5 Milliarden Kubikmeter beziffert, die voraussichtlich ab Ende 2023 vollständig ausgeschöpft werden kann.

IEA: Ölexporte im Dezember auf niedrigstem Niveau 2022
Auch die Internationale Energieagentur (IEA) geht nach dem Ölembargo der Europäischen Union von einem Rückgang der russischen Ölexporte aus. Diese dürften im Dezember auf das niedrigste Niveau des Jahres 2022 gefallen sein, wie es im Bericht der IEA heißt.

Reuters/Maxim Shemetov
Eine russische Raffinerie in Konstantinowo nahe Moskau

Nach Einschätzung des Verbandes erzielte Russland aus dem Verkauf von Rohöl und Treibstoffen im Dezember einen Erlös von 12,6 Milliarden US-Dollar, und damit deutlich weniger als im November. Im Verlauf des vergangenen Jahres konnte Russland aber durch die höheren Preise insgesamt einen deutlichen Anstieg der Erlöse erzielen.

Russland leitet auch immer weniger Gas durch die Ukraine nach Europa. Es werde noch eine Tagesmenge von 25,1 Millionen Kubikmeter durch das Land gepumpt, 28 Prozent weniger als in den vergangenen Tagen, teilte der russische Energieriese Gasprom der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge am Donnerstag mit. Trotz des Krieges pumpte Russland auch danach über Monate noch rund 40 Millionen Kubikmeter täglich durch die Ukraine. Zu Beginn dieses Jahres sank die Menge allerdings.

Gasversorgung in Österreich gesichert
Die Gasversorgung im laufenden Winter ist in Österreich trotz der Energiekrise gesichert. Die Speicher sind aktuell zu 87 Prozent gefüllt. Das entspricht 83 Terawattstunden (TWh) Gas. Die Versorgungslage gesichert haben etwa der hohe Speicherstand zu Beginn des Winters und für die Jahreszeit hohe Temperaturen, hieß es bei einem Hintergrundgespräch der Austria Gas Grid Management (AGGM) am Rande des Austrian Gas Infrastructure Day am Donnerstag in Wien.

Ein hoher Speicherstand nach dem Winter ist im Sinne der Versorgungssicherheit aber trotzdem „fundamental“, hieß es weiter. Das russische Gas zu ersetzen sei eine „Riesenherausforderung“, insbesondere wenn die Speicherstände niedrig sind. Fachleute rechnen aus derzeitiger Sicht damit, dass die Speicher nach dem Winter im April in etwa noch über einen Füllstand zwischen 40 und 60 Prozent verfügen werden. Nach dem vorigen Winter waren es nur rund 20 Prozent gewesen.

IEA: Unwägbarkeiten auf Radar
Die IEA hält es indes für möglich, dass die Energiemärkte 2023 angespannter sein könnten. IEA-Chef Fatih Birol sagte auf dem Reuters Global Markets Forum in Davos, er hoffe, dass die Preise nicht weiter steigen würden. Das könnte dann den Druck auf energieimportierende Entwicklungsländer verringern. „Ich wäre nicht zu entspannt, was die Märkte angeht“, erklärte Birol weiter. „2023 könnte durchaus ein Jahr werden, in dem die Märkte enger sind, als einige Kollegen glauben.“

Derzeit gebe es zwar keine Engpässe auf dem Markt. Aber man müsse Unwägbarkeiten auf dem Radar haben – vor allem chinesische Nachfrage und russisches Angebot. „Wenn sich die chinesische Wirtschaft in diesem Jahr erholt, wovon viele Finanzinstitute ausgehen, könnte die Nachfrage sehr stark sein und Druck auf die Märkte ausüben.“ Bei Russland gebe es viele Fragezeichen zur Exportfähigkeit des Landes aufgrund der Sanktionen des Westens, aber auch langfristig aufgrund eigener Herausforderungen, mit denen Russland zu tun habe.
21.01.2023, Peter Bauer, ORF.at/Agenturen

Links:
Energiekrieg: Putin auf der Verliererstraße
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#30
IWF-PROGNOSE
„Positive Überraschung“ für Weltwirtschaft
1675174382006.png

Die Weltwirtschaft wird die Folgen des Krieges in der Ukraine und die weiterhin hohe Inflation etwas besser verkraften als zunächst befürchtet. Das liege nicht zuletzt an den Entwicklungen in China, hieß es am Dienstag in der aktualisierten Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Weltwirtschaft. Insgesamt gebe es „positive Überraschungen“ und eine „unerwartet hohe Widerstandsfähigkeit“ in zahlreichen Volkswirtschaften. Es könnte sich um einen „Wendepunkt“ handeln.
Online seit heute, 11.15 Uhr
Teilen
Die Weltwirtschaft dürfte heuer um 2,9 Prozent wachsen, also um 0,2 Prozentpunkte mehr als noch im Oktober angenommen. Deutlich sinken sollte heuer die Inflation. Dass die Weltwirtschaft doch stärker wachsen dürfte, liegt dem Bericht zufolge auch daran, dass Europa die Energiekrise durch den Krieg in der Ukraine besser verkraftet hat als erwartet. Generell sei trotz heftigen Gegenwindes das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal 2022 in zahlreichen Volkswirtschaften überraschend stark gewesen – darunter in den Vereinigten Staaten und im Euro-Raum.

Der IWF erwartet heuer kein Abrutschen der Weltwirtschaft in eine Rezession – eine Option, welche die Ökonomen im Herbst nicht ausgeschlossen hatten. IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas zufolge könnte die aktuelle Prognose einen „Wendepunkt“ darstellen und das Wachstum seinen Tiefpunkt erreichen, während die Inflation zurückgehe. Chinas Abkehr von der Null-Covid-Strategie könnte den Weg zu einer Erholung der weltweiten wirtschaftlichen Lage ebnen, heißt es in dem Bericht.

WIFO-Schnellschätzung: Rückgang im vierten Quartal
Die heimische Wirtschaftsleistung sank indes laut Schnellschätzung des WIFO vom Dienstag im vierten Quartal 2022. Gegenüber dem Vorquartal ging sie um 0,7 Prozentpunkte zurück. Damit war die Wirtschaftsleistung nach drei Quartalen positiven Wachstums erstmals rückläufig. Im Jahresabstand stieg sie um 2,7 Prozent. „Dieses hohe Wachstum ergibt sich aufgrund des niedrigeren Niveaus im Vorjahr, wo Maßnahmen des vierten Lockdown im Rahmen der Covid-19-Pandemie die wirtschaftliche Aktivität in Österreich belasteten“, so das WIFO.


Während Dienstleistungsbereiche und der Konsum der privaten Haushalte die Konjunktur belasteten, verlief die Entwicklung in Industrie und Außenhandel den Wirtschaftsforschern zufolge noch stabil. In der Bauwirtschaft wurde ein Rückgang von 0,9 Prozent verzeichnet. Im Bereich Handel, Verkehr, Beherbergung und Gastronomie lag die Wertschöpfung um 2,7 Prozent unter dem Vorquartal.

Spiegelbildlich ging die Konsumnachfrage der privaten Haushalte zurück. „Die hohen Verbraucherpreise belasteten hier die Entwicklung deutlich“, so das WIFO in seiner Schnellschätzung. Stabilisierend habe die Wertschöpfung in den Bereichen Information und Kommunikation, Finanz- und Versicherungsleistungen, Grundstücks- und Wohnungswesen gewirkt.

Welche Risiken bestehen
Der weltweite Ausblick für das laufende Jahr hat sich laut IWF-Prognose nicht weiter eingetrübt. „Das sind gute Nachrichten, aber noch nicht genug“, so Gourinchas. Schließlich liege das für heuer prognostizierte Wirtschaftswachstum im Vergleich mit den vergangenen zwei Jahrzehnten unter dem „historischen Durchschnitt“. Das gilt auch für die im Jahr 2024 erwarteten 3,1 Prozent Wachstum. 2022 lag das Wachstum bei 3,4 Prozent, 2021 bei 6,2 Prozent.

Risiken für die Weltwirtschaft bestehen allerdings weiter – unter anderem durch eine mögliche Eskalation im Krieg Russlands gegen die Ukraine und durch eine höhere Inflation. Auch weitere CoV-Infektionswellen in China könnten die Lage verschlechtern, ebenso eine starke Abkühlung auf dem dortigen Immobilienmarkt. Des Weiteren sei eine Schuldenkrise aufgrund der strengen Geldpolitik der Zentralbanken nicht auszuschließen.

Teuerung sollte weiter sinken
„Der Kampf gegen die Inflation zahlt sich allmählich aus“, sagte der IWF-Chefökonom. Die Notenbanken, die zuletzt rund um den Globus die Zinsen ungewöhnlich schnell angehoben hatten, müssten ihre Anstrengungen fortsetzen. Der Gegenwind sei aber weniger stark als noch im Oktober. Die Teuerungsrate soll heuer auf 6,6 Prozent sinken und nächstes Jahr auf 4,3 Prozent. Sie lag 2022 bei 8,8 Prozent.

Regional zeigt die Prognose deutliche Unterschiede. Innerhalb Europas dürfte Deutschland verglichen mit anderen EU-Staaten 2023 schwach abschneiden – mit einem Plus von 0,1 Prozent. Allerdings wurde im Oktober noch von einem kleinen Minus ausgegangen. Frankreich, Italien und Spanien werden laut IWF mehr wachsen. Im kommenden Jahr sollte die deutsche Wirtschaft dann um 1,4 Prozent zulegen.

Alle Augen auf Indien und China gerichtet
„Indien bleibt ein Lichtblick“, sagte Gourinchas. Die Hälfte des erwarteten weltweiten Wachstums dürfte allein auf die beiden großen Schwellenländer Indien und China entfallen. Die USA und die Euro-Zone kämen nur auf ein Zehntel des gesamten Wachstums.
Die Wirtschaft in China wird laut IWF 2023 um 5,2 Prozent wachsen, 2024 um 4,5 Prozent. Für Indien werden 6,1 und dann 6,8 Prozent erwartet. Auffällig ist auch, dass die Prognosen für Russland deutlich verbessert wurden. Nach einer 2022 um 2,2 Prozent schrumpfenden Wirtschaft wird nun mit Plus-Raten von 0,3 und dann 2,1 Prozent gerechnet.

Für Großbritannien wird mit einer deutlich negativeren Entwicklung gerechnet als zuletzt gedacht – 2023 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,6 Prozent. 2024 sollte es dann wieder ein Wachstum geben. Die USA als größte Volkswirtschaft der Welt dürften 2023 und 2024 um 1,4 und 1,0 Prozent zulegen.
31.01.2023, red, ORF.at/Agenturen

Links:
IWF-Prognose: „Positive Überraschung“ für Weltwirtschaft
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#31
RUSSISCHE KLUNKER
Belgien hadert mit Diamantengeschäft
1675597684155.png

Russlands lukratives Diamantengeschäft ist lange Zeit von EU-Sanktionen verschont geblieben. Und das, obwohl vermutet wird, dass die Erlöse aus dem Edelsteinhandel in die russische Kriegskasse fließen. Nun deutet sich ein Umdenken in der Europäischen Union an: Belgien, das in der Frage bisher auf der Bremse stand, scheint einzulenken. Seine Industrie, die nach wie vor russische Rohdiamanten importiert, will das EU-Land aber weiterhin schützen.
Online seit heute, 7.26 Uhr
Teilen
„Russische Diamanten sind Blutdiamanten“, sagte der belgische Premierminister Alexander De Croo gegenüber Politico zuletzt. Seine Botschaft: Belgien will gegen den Handel mit russischen Rohdiamanten vorgehen. Anders als Güter wie Kaviar, Gold und Wodka blieben die Edelsteine den bisherigen EU-Sanktionspaketen fern. Bereits mehrmals sollen russische Diamanten in der letzten Minute von der Sanktionsliste gestrichen worden sein, berichtete der „Guardian“. Dabei ist der Edelsteinhandel in der EU einzig in Belgien – konkret im belgischen Diamanten-Hub Antwerpen – von Relevanz.

Dass das nächste Sanktionspaket, das die EU bis zum 24. Februar beschließen will, ein komplettes Importverbot russischer Diamanten enthalten wird, ist zwar weiterhin unwahrscheinlich, Belgien feilt alternativ aber an einem System, das die Herkunft von Rohdiamanten transparent und den Handel russischer Diamanten somit weniger lukrativ machen soll. Man befinde sich diesbezüglich auch in Abstimmung mit der EU und den G-7-Staaten, heißt es.

Reuters/Arnd Wiegmann
Belgiens Premier Alexander De Croo gibt sich gesprächsbereit

Antwerpen als Knotenpunkt des Diamantenhandels
In Belgien hat das Thema große Sprengkraft. Innerhalb der Regierung, die sich aus sieben Parteien zusammensetzt, suchte man zuletzt vergebens nach einer gemeinsamen Linie. Es geht um viel Geld und Arbeitsplätze: Nach Angaben des Antwerp World Diamond Center (AWDC) könnten EU-Sanktionen zum Verlust von 10.000 Arbeitsplätzen in Antwerpen führen, wie die belgische Wirtschaftszeitung „L’Echo“ schreibt. Die Hafenstadt ist bereits seit dem 15. Jahrhundert Knotenpunkt für den internationalen Diamantenhandel.

Edelsteine aus aller Welt werden hier poliert, zu Schmuckstücken verarbeitet und verkauft – konkret landen 86 Prozent der weltweiten Diamanten mindestens einmal in Antwerpen. Russische Rohdiamanten machten 2021 allein ein Viertel der Importe in die belgische Hafenstadt aus, berichtete die Zeitung „Brussels Times“. Der Ukraine-Krieg und damit einhergehende US-Sanktionen auf russische Edelsteine trafen den belgischen Handel zwar hart, zum Erliegen kam das Milliardengeschäft aber nicht.

„Frieden mehr wert als alle Diamanten“
Der Druck auf Belgien ist deshalb weiterhin groß. Die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine werden nicht müde, das Heimatland der EU-Kommission zu einem Umdenken aufzurufen. Frieden sei mehr wert „als alle Diamanten“, hatte etwa der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Ansprache an das belgische Parlament im vergangenen März gesagt.

Belgien finanziere die russische Kriegskasse mit dem Diamantenhandel, so der Vorwurf. Konkret geht es Kritikerinnen und Kritikern um den Diamantenriesen Alrosa, der einen beträchtlichen Teil seines Einkommens in Antwerpen erwirtschaftet und der teilweise dem russischen Staat gehört.

Auf 33 bis 66 Prozent schätzen Fachleute die staatlichen Anteile an dem Konzern, der 95 Prozent der russischen Diamantenförderung ausmacht. Der CEO des Konzerns, Sergei Sergejewitsch Iwanow, ist zugleich Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers und Vertrauten von Präsident Wladimir Putin, Sergei Borissowitsch Iwanow. Der Alrosa-CEO zählt überhaupt zu den ersten Oligarchen, die mit Kriegsbeginn von den USA mit Sanktionen belegt worden waren.

Industrie stemmt sich gegen Sanktionen
Die belgische Industrie steht Sanktionen – anders als einem Tracing-System – dennoch skeptisch gegenüber. Tom Neys vom Antwerp World Diamond Centre lehnt diese ab. Sanktionen müssten „ökonomisch und ethisch“ sinnvoll sein, hält er in einem Statement gegenüber ORF.at fest. Sanktionen würden dazu führen, dass russische Diamanten in anderen Handelszentren landen würden. „Man würde Tausende Jobs verlieren und riskieren, dass die gesamte Industrie, die 40 Milliarden US-Dollar schwer ist, die EU verlässt.“

Antwerpen sei darüber hinaus das weltweit einzige Handelszentrum „mit sehr strengen Vorschriften zu Compliance, Geldwäschebekämpfung und Maßnahmen gegen Terrorfinanzierung“, so Neys. Ein internationales Rahmenabkommen zur Rückverfolgung von Rohdiamanten hält er dagegen für sinnvoll. „Es wird den Antwerpener Händlern helfen zu überleben und die Verluste mit der weltweiten Branche zu teilen.“ Überdies könnte damit sichergestellt werden, dass es weiterhin strenge Kontrollen gibt.

Laut „L’Echo“ sei so ein System vergleichbar mit dem Kimberley-Prozess. Der Kimberley-Prozess bezeichnet ein komplexes System, das über staatliche Herkunftszertifikate den Handel mit Blutdiamanten unterbinden soll. Blutdiamanten sind Diamanten, mit deren Erlös gewalttätige Konflikte finanziert werden. Bisher sei aber noch kein Unternehmen in der Lage gewesen, ein wasserdichtes Rückverfolgungssystem zu entwickeln, räumt Neys ein.

US-Sanktionen mit Schlupfloch
Aus ökonomischer Sicht würde sich Europa mit Sanktionen selber schaden, hatte der Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Antwerpen, Koen Vandenbempt, der dpa diesbezüglich bereits im November gesagt.

Auch Hans Merket, der für die NGO International Peace Information Service (IPIS) forscht, hält einen internationalen Pakt für vielversprechend und effektiver als Sanktionen, die umgangen werden könnten. Das zeigt sich etwa am Beispiel der USA: Wird ein russischer Diamant etwa erst nach Mumbai oder Dubai gebracht und dort stark verändert, dann darf er in der Folge auch in die USA importiert werden.

Anders die Einschätzung der Rohstoffexpertin Larisa Stanciu. Sie ist der Ansicht, dass durch ein Verbot der Einfuhr russischer Rohdiamanten weniger Geld über Alrosa in die russische Staatskasse fließen würde. Ob russische Diamanten schon bald auf der Sanktionsliste landen oder ob ein internationales System für mehr Transparenz eingeführt wird, bleibt indes nach wie vor unklar. Hinter verschlossenen Türen wird weiter verhandelt.
05.02.2023, Katja Lehner, ORF.at aus Brüssel

Links:
Russische Klunker: Belgien hadert mit Diamantengeschäft
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#32
VON UKRAINE BIS NAHOST
So will China weiter „erstarken“
1678781331197.png

Im Konkurrenzkampf mit den USA will Chinas Präsident und Parteichef Xi Jinping die Volksrepublik durch eine Modernisierung des Militärs und mehr Eigenständigkeit zu neuer Stärke bringen. Auch in Sachen diplomatisches Geschick läuft China derzeit in Nahost den USA den Rang ab, wie die Vermittlung der überraschenden Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran zeigt. Unterdessen wird laut Insidern Xi nächste Woche nach Moskau zum russischen Präsidenten Wladimir Putin reisen.
Online seit gestern, 21.54 Uhr (Update: heute, 8.45 Uhr)
Teilen
Wegen des sensiblen Themas wollten die mit der Sache vertrauten Personen allerdings namentlich nicht genannt werden. Vom chinesischen Außenministerium gab es zunächst keine Stellungnahme, das Außenministerium in Moskau lehnte einen Kommentar ab.

Laut dem „Wall Street Journal“ („WSJ“) plant Xi, auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu sprechen, wie die Zeitung am Montag berichtete. Es wäre das erste Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass Xi mit Selenskyj spricht, hieß es weiter. Die Zeitung zitierte mit der Sache vertraute Personen, dass ein Telefonat nach Xis Moskau-Besuch stattfinden soll.

Reuters/Sputnik
Der russische Präsident Wladimir Putin wird laut Insidern von seinem chinesischen Pendant Xi besucht werden

Chinas Glaubwürdigkeit als globale Führungsmacht
Die geplanten Gespräche spiegeln auch Pekings Bemühungen wider, eine aktivere Rolle bei der Vermittlung eines Endes des Ukraine-Krieges zu spielen, verwies das „WSJ“ auf Experten und Expertinnen. Offenbar will Xi nach Russland noch andere europäische Länder besuchen, so die Zeitung. Seine vollständige Reiseroute sei aber noch nicht bekannt, hieß es weiter.

Ein direktes Gespräch von Xi mit Selenskyj, falls es dazu komme, wäre ein bedeutender Schritt in Pekings Bemühungen, in der Ukraine Friedensstifter zu spielen. Es würde auch Pekings Glaubwürdigkeit als globale Führungsmacht stärken, nachdem es erst letzte Woche einen überraschenden diplomatischen Durchbruch zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ermöglicht hatte, so das „WSJ“ weiter.

Ukraine-Krieg mit keinem Wort erwähnt
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine wurde allerdings am letzten Tag des Volkskongresses mit keinem Wort erwähnt. Da die Fragen bei der Pressekonferenz abgesprochen waren, konnte auch niemand danach fragen. In dem Konflikt gibt China Putin Rückendeckung. China und Russland hatten kurz vor Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine vor über einem Jahr eine umfassende Partnerschaft verabredet.

Die Annäherung der beiden Großmächte wird im Westen ebenso mit Sorge und auch Skepsis beobachtet wie ein kürzlich von China in Aussicht gestellter „Friedensplan“ für die Ukraine. Chinas Außenministerium hatte zum Jahrestag des Kriegsbeginns in einem Zwölfpunkteplan eine Waffenruhe und Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gefordert. Dialog sei der einzige Weg zur Lösung der Krise, hieß es in dem Papier. Es müsse verhindert werden, dass der Konflikt außer Kontrolle gerate und Atomwaffen zum Einsatz kämen. Die USA erklärten darauf, Russland werde jede Feuerpause nutzen, seine Kontrolle über ukrainische Gebiete zu festigen und seine Streitkräfte zu stärken.

Experte: Wie allgemeine Leitlinien
Die EU und die NATO wiesen darauf hin, dass China wenige Tage vor der Invasion eine Vereinbarung mit Russland unterzeichnet habe. „China ist nicht sonderlich glaubwürdig“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. In dem Papier stehe nichts Neues, sagte der China-Experte Manoj Kewalramani von der US-Denkfabrik Center for Strategic International Studies (CSIS). Die zwölf Punkte seien Teil bekannter chinesischer Positionen. Das Papier wirkt auch eher wie allgemeine Leitlinien und Grundsätze als ein direkt auf die Ukraine und den Aggressor Russland zugeschnittener Vorschlag.
AP/Xinhua/Yan Yan
Der iranische Präsident Ibrahim Raisi reiste noch im Februar nach Peking. Da dürfte der Deal mit Riad wohl Thema gewesen sein.

Nahost-Vermittlung schwerer Schlag für USA
Einen großen diplomatischen Erfolg, der auch einen Verlust des US-Einflusses in Nahost zeigt, konnte China mit der Vermittlung der Annäherung der beiden großen Rivalen der Region erzielen: des Iran und Saudi-Arabiens. Zeigen muss sich allerdings noch, ob die nun angekündigte Aufnahme der diplomatischen Beziehungen auch tatsächlich so wie geplant auch funktionieren und es nicht zu einem Aufflammen der Konflikte der beiden Staaten kommt.

Doch alleine, dass die beiden Länder wieder miteinander geredet haben, kommt einem Erdrutsch für die US-Rolle in Nahost gleich. Die chinesische Rolle und die Abwesenheit der USA als bisheriger Ordnungsmacht in der Region gelten nach Ansicht von Fachleuten bereits jetzt als die wichtigsten Aspekte bei der Vereinbarung zwischen Riad und Teheran. Sie zeigen eine tektonische Machtverschiebung und die Möglichkeit, dass es für den Nahen Osten auch eine Zukunft mit einer verminderten Rolle der USA geben kann.

Taiwan: Gewaltansage nicht wiederholt
Auch ein weiterer Konfliktherd zwischen China und den USA kam beim Volkskongress zur Sprache. Mit Blick auf den Konflikt um Taiwan rief Präsident Xi zur „Wiedervereinigung“ auf. Die Beziehungen sollten „friedlich“ entwickelt werden. „Einmischung von außen“ und „spalterische Aktivitäten“ von Unabhängigkeitskräften müssten aber entschieden abgelehnt werden. Frühere Bekundungen, dass Peking militärische Gewalt nicht ausschließt, wenn andere Bemühungen nicht zum Erfolg führen, wiederholte Xi allerdings nicht.

IMAGO/SNA/Evgeni Zagrebnov
Ein Blick auf die Bühne des chinesischen Volkskongresses

Die Spannungen um Taiwan hatten jüngst zugenommen. Die kommunistische Führung betrachtet die demokratische Inselrepublik als Teil der Volksrepublik. Taiwan sieht sich längst als unabhängig an. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine sind international die Sorgen gewachsen, dass China ähnlich gegen Taiwan vorgehen könnte. In diesem Fall würden auch die USA in den Konflikt gezogen, weil sie sich der Verteidigungsfähigkeit Taiwans verpflichtet haben.

Banges Auge auf Chinas Aufrüstung
Alle diese Entwicklungen werden von den USA mehr als skeptisch beäugt. Auch die chinesische Aufrüstung, die bereits seit geraumer Zeit in Gang ist: In Sachen Militär will China nämlich weiter kräftig ausbauen. Die Volksbefreiungsarmee solle zu einer „Großen Mauer aus Stahl“ werden, kündigte Xi zum Abschluss der neuntägigen Jahrestagung des Volkskongresses am Montag in Peking an. Die annähernd 3.000 Delegierten billigten mit dem neuen Haushalt auch eine erhebliche Steigerung der Militärausgaben um 7,2 Prozent.

IMAGO/Xinhua/Han Lin
Schiffe der chinesischen Volksarmee

Xi kündigte an, China zu einem „starken Land“ zu machen, und rief zur Wahrung der Stabilität auf: „Sicherheit ist das Fundament für Entwicklung. Und Stabilität ist die Vorbedingung für Wohlstand.“ Er plädierte dafür, Innovation und „wissenschaftliche und technologische Eigenständigkeit“ voranzutreiben, ging aber nicht auf die Sanktionen der USA ein.

Militärausgaben noch hinter den USA
Mit den nun verkündeten 7,2 Prozent steigen die Verteidigungsausgaben Pekings in diesem Jahr etwas mehr als 2022: Damals hatte der Anstieg bei 7,1 Prozent gelegen. Im vergangenen Jahr lagen Pekings Verteidigungsausgaben bei umgerechnet rund 200 Milliarden Euro und damit weltweit an zweiter Stelle nach den USA.
IMAGO/Xinhua/Yan Yan
Ein Blick in den Saal mit den Delegierten

Washington liegt mit geplanten 800 Milliarden Dollar (751 Milliarden Euro) Verteidigungsausgaben nach wie vor mit Abstand an vorderster Stelle. Ausländische Experten und Expertinnen sind allerdings der Ansicht, dass China tatsächlich weit mehr als offiziell bekanntgegeben für sein Militär ausgibt.

„Irgendwann in nächster Zeit“
Die Beziehungen zwischen den USA und China sind generell sehr angespannt, wegen einer ganzen Liste von Streitpunkten. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden sieht China als größte geopolitische Herausforderung. Nach dem Abschluss der Jahrestagung des Volkskongresses in China rechnet die US-Regierung nun mit einem baldigen Gespräch der Präsidenten beider Länder.

Nachdem die Tagung beendet und diverse Führungspositionen neu besetzt seien, rechne man „irgendwann in nächster Zeit“ mit einem Gespräch zwischen Biden und Xi, so der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus, Jake Sullivan. Es sei zwar noch kein Datum festgelegt, Biden habe aber signalisiert, dass er zu einem Telefonat mit Xi bereit sei, sobald die chinesische Führung die Tagung des Volkskongresses hinter sich habe.

Li Qiang gibt sich versöhnlich
Mit Blick auf die angespannten Beziehungen zu den USA schlug der neue Ministerpräsident Li Qiang eher versöhnliche Töne an. Er warnte vor einer Abkoppelung. Die beiden größten Volkswirtschaften seien eng miteinander verbunden, wovon beide profitierten: „China und die USA können und müssen zusammenarbeiten.“ Er ging nur indirekt auf Xis Vorwurf ein, dass die USA einen Aufstieg Chinas in der Welt durch Eindämmung und Isolation verhindern wollten, und sagte: „Einkreisung und Unterdrückung ist im Interesse von niemandem.“ Die wachsende Konkurrenz zwischen den USA und China wurde in den vergangene Monaten bei verschiedenen Streitpunkten deutlich. Der zunehmend internationalen Einfluss der Volksrepublik stößt seit geraumer Zeit in der US-Regierung auf schwere Kritik.

Xi baut Macht weiter aus
Zuvor auf dem Volkskongress hatten die Delegierten Xi mit viel zusätzlicher Macht ausgestattet. Mit der größten Regierungsneubildung seit zehn Jahren hatte Xi auf der Tagung seine Macht zementiert. Er scharte weitere Gefolgsleute um sich und sicherte sich eine beispiellose dritte Amtszeit. Der Präsident setzte sich damit über bisher respektierte Grenzen für Alter und Amtszeit hinweg. Seine andauernde Führungsrolle hatte sich der 69-Jährige schon auf dem Parteitag im Oktober in der Parteiverfassung verankern lassen. Damit könnte er sogar auf Lebenszeit im Amt bleiben. Er knüpft damit an den Staatsgründer Mao Zedong (1893–1976) an, der aber Chaos über das Land gebracht hatte.

„Die Mao-Ära beleuchtet die Gefahren der Überkonzentration von Macht in einem kommunistischen politischen System, was im heutigen China eine zentrale Frage ist“, so Susan Shirk, China-Professorin der University of California. „Wenn sich niemand mehr traut, die Entscheidungen des Führers infrage zu stellen, neigt der Führer dazu, Fehler zu machen – nicht nur kleine Fehler, sondern solche, die eine gesamte Gesellschaft in Gefahr bringen.“
14.03.2023, baue, ORF.at/Agenturen

Links:
Von Ukraine bis Nahost: So will China weiter „erstarken“
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#33
IN LETZTER MINUTE
Getreideabkommen verlängert
1679173520342.png

Russland und die Ukraine haben den von der UNO und der Türkei zwischen den Kriegsparteien vermittelten Getreidedeal, der Hungersnöte in Afrika und Asien verhindern soll, im letzten Moment verlängert. Stunden vor Auslaufen des Deals gaben die UNO und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan offiziell die Verlängerung bekannt. Russlands Präsident Wladimir Putin flog unterdessen auf die russisch besetzte Krim.
Online seit heute, 17.12 Uhr
Teilen
Weder die UNO noch Erdogan bestätigten zunächst allerdings, bis wann es verlängert wird. Ohne eine Einigung wäre das Abkommen am Sonntag ausgelaufen. Kiew hatte zuvor gemeldet, das Abkommen werde um 120 Tage verlängert. Russischen Angaben vor wenigen Tagen zufolge sollte es bloß um 60 Tage verlängert werden. Laut britischen Angaben informierte Moskau alle Vertragsparteien, dass die Verlängerung für 60 Tage gültig sei.

Die Vereinbarung zur Schwarzmeer-Getreideinitiative war unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei im Juli 2022 zustande gekommen und sieht eine Freigabe der ukrainischen Häfen und einen Korridor im Schwarzen Meer für den Getreideexport vor. Russland hatte nach Beginn seines Angriffskrieges am 24. Februar 2022 monatelang ukrainische Getreideausfuhren blockiert.

Weltweite Unsicherheit
Die Ukraine und Russland sind wichtige Lieferanten von Weizen, Gerste, Sonnenblumenöl und anderen Nahrungsmitteln für Länder in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens. Vor Beginn des Krieges war Russland außerdem der weltweit größte Exporteur von Düngemitteln. Der Ausfall dieser Lieferungen nach der russischen Invasion im Februar 2022 trieb die Lebensmittelpreise weltweit in die Höhe und schürte die Sorge vor einer Hungerkrise in ärmeren Ländern.

„Entscheidend für weltweite Versorgung“
„Nach unseren Gesprächen mit beiden Seiten haben wir die Verlängerung des Abkommens erreicht, das am 19. März auslaufen sollte“, sagte Erdogan bei einer Zeremonie zur Eröffnung einer Einrichtung in Canakkale im Westen der Türkei. Er dankte der Ukraine, Russland und den Vereinten Nationen für ihre Bemühungen um die Aufrechterhaltung des Abkommens, das er als „von entscheidender Bedeutung für die Stabilität der weltweiten Lebensmittelversorgung“ bezeichnete. Mehr als 800 Schiffe hätten im Rahmen des Abkommens bisher 25 Millionen Tonnen Getreide transportiert, sagte der türkische Staatschef.

Zusätzlich gab es eine Vereinbarung mit Russland, die den Export russischer Nahrungs- und Düngemittel erleichtern sollte. Russland hat immer wieder gedroht, die Abkommen platzen zu lassen, und begründete das unter anderem damit, dass seine eigenen Exporte von Getreide und Dünger weiter durch westliche Sanktionen behindert würden.

Putin überraschend auf Krim
Kreml-Chef Wladimir Putin flog unterdessen auf die Schwarzmeeer-Halbinsel Krim. Anlass ist der neunte Jahrestag der international nicht anerkannten russischen Annexion der Krim. Das Staatsfernsehen verbreitete Bilder, auf denen der Kreml-Chef bei der Eröffnung einer Kunstschule für Kinder in Sewastopol zu sehen war.

Es ist der erste Besuch des russischen Präsidenten auf der Krim zum Jahrestag der Annexion seit 2020. Seit Beginn des von ihm befohlenen Angriffskrieges gegen die Ukraine meidet der russische Präsident allgemein frontnahe Gebiete. Ende 2022 testete er immerhin die Befahrbarkeit der Krim-Brücke, die durch einen Anschlag im Herbst schwer beschädigt worden war.

Haftbefehl gegen Putin
Reisen ins Ausland könnten für Putin künftig unterdessen schwieriger und riskanter werden. Einen Tag nach der Ausstellung eines Haftbefehls gegen Putin durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wurde diese Entscheidung von führenden westlichen Politikern erwartungsgemäß begrüßt. US-Präsident Joe Biden bezeichnete die Entscheidung als „sehr starkes Signal“, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einer „historischen Entscheidung“.

Der Haftbefehl des Gerichts war am Freitag wegen der Verschleppung Tausender ukrainischer Kinder nach Russland im Ukraine-Krieg ergangen. Putin sei mutmaßlich „persönlich verantwortlich“ für die „unrechtmäßige Deportation“ der ukrainischen Kinder auf russisches Territorium, erklärte der IStGH, und sprach von einem Kriegsverbrechen. Auch gegen die Kinderrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten, Maria Alexejewna Lwowa-Belowa, wurde Haftbefehl erlassen.

Mehr Risiko bei Reisen in Vertragsstaaten
Moskau bezeichnete den Haftbefehl als „bedeutungslos“, da es die Zuständigkeit des Gerichts nicht anerkennt. Laut Chefankläger Karim Khan könnte Putin nun verhaftet werden, wenn er in einen der 123 Vertragsstaaten des IStGH reist. Allerdings ist das Gericht dabei auf deren Kooperation angewiesen, da es über keine eigenen Polizeikräfte zur Umsetzung des Haftbefehls verfügt.

Bereits in der Vergangenheit haben die Länder nicht immer kooperiert – vor allem, wenn es sich um einen amtierenden Staatschef handelte. Allerdings könnte ein Besuch Putins für solche Länder auch einen Imageschaden bedeuten, und es könnte die Beziehungen zu westlichen Ländern belasten. Ob der Haftbefehl tatsächlich eine Wirkung entfalten wird und wenn ja, welche, ist derzeit freilich noch offen.
18.03.2023, red, ORF.at/Agenturen

In letzter Minute: Getreideabkommen verlängert
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#34
VOR SOMMERERNTE
Europas Poker um ukrainisches Getreide
1683269272385.png

Wochenlang hat eine Flut an günstigem ukrainischem Getreide für Aufschrei in östlichen EU-Staaten gesorgt. Die Silos sind voll, die Preise fallen und die Sommerernte steht erst bevor. Polen, Ungarn, Bulgarien und die Slowakei zogen mit nationalen Importstopps den Ärger der EU auf sich. Nun gibt es in dem Streit doch eine Einigung. Ist das Problem damit gelöst – oder verlagert es sich bloß? ORF.at hat bei dem Handelsexperten David Kleimann nachgefragt.
Online seit gestern, 23.59 Uhr
Teilen
Die Einigung, die die EU-Kommission jüngst verkündet hatte, soll dafür sorgen, dass ukrainisches Getreide – wie ursprünglich beabsichtigt – auf dem Weltmarkt landet und nicht im Osten Europas hängen bleibt. Konkret wurde der Import von ukrainischem Weizen, Mais, Rapssamen und Sonnenblumen in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei beschränkt, vorerst bis zum 5. Juni. Jene Agrarprodukte dürfen dort nicht mehr frei gehandelt werden – der Transit bleibt aber erlaubt.

Im Gegenzug sollen Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien nationale Maßnahmen, die auf Drängen von Landwirten und Landwirtinnen verhängt worden waren, aufheben. Zusätzlich versprach Brüssel EU-Gelder in der Höhe von 100 Mio. Euro. Die Einigung sei „suboptimal“, sagt Kleimann, Experte der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, „einerseits für die Ukraine, andererseits aber auch für die Europäische Union.“
Datenschutz-Einstellungen öffnen:Soziale Netzwerke vollständig anzeigen

Experte befürchtet „negative Anreize“
Aufseiten der Ukraine bedeute der Deal, dass die für das Land überlebensnotwendigen Agrarexporte „geringfügiger vom europäischen Markt absorbiert“ würden, so der Experte. Aufseiten der EU würden „der interne Markt und die Zollgemeinschaft“ aufgespaltet. Kleimann befürchtet „negative Anreize“ für andere EU-Staaten, die sich an dem Vorgehen ein Beispiel nehmen könnten, um die Kommission ähnlich unter Druck zu setzen.

Problematisch sei die Einigung noch dazu, „weil der Druck, der auf die Agrarmärkte in diesen Anrainerstaaten besteht, nachweislich nicht ganz so hoch ist, wie man das der Kommission hat versucht glauben zu machen“, sagte Kleimann weiter und verwies auf eine zusätzliche Dimension in der Debatte – nämlich die Gefahr, „dass diese Krise natürlich der russischen Propaganda in die Hände spielt“.

Gründe für das Getreidechaos
Zur Erinnerung: Nachdem der Export ukrainischer Getreideerzeugnisse über Schwarzmeer-Häfen im Vorjahr zwischenzeitlich blockiert war, erleichterte die EU deren Einfuhr mittels „Solidarity-Lanes“. Konkret wurden neue Landwege für den Transport aufgebaut und Grenzkontrollen für Produkte aus der Ukraine erleichtert. Die Erhebung von Zöllen wurde ausgesetzt – voraussichtlich bis Juni 2024. Die Idee dahinter war, noch größere Hungersnöte im Globalen Süden zu vermeiden und die Ukraine wirtschaftlich zu unterstützen.

Waren über den Landweg zu transportieren ist aber mühsam und teuer. Beim Transport mit Güterzügen fällt etwa die unterschiedliche Spurbreite der Züge in der Ukraine und der EU ins Gewicht. So müssen Waggons an der Grenze umgeladen oder auf passende Fahrgestelle umgesetzt werden. Und auch der Weitertransport über Häfen in Polen, Rumänien und Co. stockt. Die Leistungsfähigkeit der polnischen Häfen sei dem Getreideaufkommen nicht gewachsen, sagte eine Sprecherin der polnischen Getreidehandelskammer kürzlich.

AP/Andreea Alexandru
Protest der Getreidebauern in Polen

Bauern auf den Barrikaden
„Die Anrainerstaaten, die Frontline-States, wie die EU sie nennt, sind in Sachen Infrastruktur und auch in Fragen der Marktabsorbierung nicht darauf vorbereitet, diese Produkte so massiv aufzunehmen“, sagt Kleimann gegenüber ORF.at. Das habe zu Spannungen geführt, betont er. Bäuerinnen und Bauern gingen auf die Barrikaden und sprachen von Marktverwerfungen.

Polnische Bauern seien auf die Situation nicht vorbereitet gewesen, betonte auch die liberale polnische EU-Abgeordnete Roza Thun in der ORF-Sendung Inside Brüssel. Die Bauern hätten nämlich mit steigenden – nicht fallenden – Getreidepreisen gerechnet und deshalb auch „sehr viel produziert“, so Thun. In Warschau, Budapest, Bratislava und Sofia wurden im April Importverbote verhängt – zum Ärger der Kommission, die darauf verwies, dass Handelspolitik eine EU-Zuständigkeit sei.

Wahlen als Faktor im Getreidestreit
Für so manchen Beobachter war das Vorgehen der osteuropäischen Regierungen – wenn auch im Widerspruch mit deren sonst so enger Verbundenheit mit der Ukraine – kalkuliert. Teilweise sei die Getreidedebatte „mit dem Ausblick auf Wahlen“ auch übertrieben worden, so Kleimann. In Polen und der Slowakei finden heuer Parlamentswahlen statt. 2024 wird in Rumänien gewählt. Die Landwirtschaft gilt überall als gewichtige Klientel.


MEHR ZUM THEMA
Polen misst sich mit „altem Europa“



In den Anrainerstaaten ist man nun bemüht, die Silos vor der bevorstehenden Sommerernte zu leeren. Allein in Polen sollen vier Millionen Tonnen an ukrainischem Getreide lagern, die nach Worten des polnischen Agrarministers Robert Telus bis Ende Juni exportiert werden sollen. Ob das machbar ist, ist unklar.

Ohnedies soll Warschau Brüssel einem „Politico“-Bericht zufolge weiter unter Druck setzen. Polen würde seine Zustimmung zum bereits ausverhandelten Cotonou-Abkommen (Handelsabkommen mit den Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean) davon abhängig machen, ob die EU das gesamte überschüssige Getreide der Ukraine abkaufe und an bedürftige Staaten liefere, so „Politico“ mit Verweis auf Insider.

Begrenzte Exportkapazitäten
Dass Importbeschränkungen nicht des Rätsels Lösung sein dürften, schrieb Bloomberg-Kolumnist Javier Blas: „Solange ukrainisches Getreide mit einheimischem Getreide in Polen, Rumänien und Bulgarien um begrenzte Exportkapazität konkurriert, werden lokale Preise in den Häfen unter Druck bleiben.“ Er verweist etwa auf den Hafen im polnischen Gdansk, den Hafen im bulgarischen Warda und den Hafen im rumänischen Constanta.
„Dabei spielt es keine Rolle, ob das Getreide nur für den Transit durch das EU-Gebiet bestimmt ist. Der Transit – und die Nutzung begrenzter Hafenexportkapazitäten – selbst hat große Auswirkungen auf den Preis“, so Blas.

„Problem wird nicht gelöst, nur weitergeschoben“
Der deutsche CDU-Agrarpolitiker Norbert Lins schlug indes aus einem anderen Grund Alarm: „Das Problem wird nicht gelöst, sondern nur innerhalb der EU weitergeschoben“, so der Vorsitzende des Agrarausschusses des EU-Parlaments. Er bezeichnete die von der Kommission beschlossenen Schutzmaßnahmen als Scheinlösung. „Es wird nur wenige Tage dauern, bis sich die Anrainerstaaten der Anrainerstaaten über Getreide auf ihren Märkten beschweren werden“, sagte er.

Dass sich das Problem auf „Anrainerstaaten der Anrainerstaaten“ – unter anderem Österreich – verlagere, sei möglich, sagte Kleimann. „Davon sind wir noch relativ weit weg“, so der Experte. Die EU-Kommission wollte derartige Befürchtungen auf ORF.at-Anfrage nicht kommentieren.

LKÖ fordert europaweite Schutzmaßnahmen
Die Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ) beobachte die Entwicklungen auf den weltweiten Märkten derzeit mit Sorge, teilte deren Präsident Josef Moosbrugger auf ORF.at-Anfrage mit. Angesichts fallender Agrarrohstoffpreise sei die europäische Politik „nicht nur in den fünf genannten Ländern gefordert, Maßnahmen zum Schutz der Landwirtschaft zu setzen, sondern in der ganzen Union“, so Moosbrugger. Die Solidarität mit der Ukraine sei grundsätzlich aufrechtzuerhalten, betonte er auch.
AP/Efrem Lukatsky
Die Ukraine gilt als Kornkammer Europas

Der stellvertretende ukrainische Landwirtschaftsminister Markijan Dmytrasewitsch im Euractiv-Interview äußerte Verständnis für die schwierige Situation seiner Nachbarstaaten. „Aber gleichzeitig haben wir in der Ukraine einen Krieg, und dieser Export ist für uns entscheidend – nicht um Geld zu verdienen, nicht um etwas hinzuzugewinnen, sondern um zu überleben“, so Dmytrasewitsch.

Getreideabkommen als „wahres Damoklesschwert“
Der Seeexport bleibe jedenfalls der einfachste und kostengünstigste Transportweg, hielt Agrarökonom Klaus Schumacher im Interview mit der ZDF-Journalistin Britta Hilpert fest. „Das wahre Damoklesschwert, das über uns hängt, ist der 18. Mai: Da endet möglicherweise der UN-Exportkorridor aus Odessa. Wenn es bis dahin der Türkei und den UN nicht gelingt, das Abkommen mit Russland zu verlängern, dann haben wir ein sehr großes Unterversorgungsproblem und über Nacht wieder deutlich höhere Preise auf dem internationalen Getreidemarkt.“

Laut der Türkei soll dazu am Freitag ein Treffen in Istanbul stattfinden. Russland droht immer wieder damit, das zuletzt Mitte März um 60 Tage verlängerte Abkommen platzen zu lassen.

Die östlichen EU-Länder hätten nur zum Teil ein Überversorgungsproblem, so Schumacher auch. Tatsächlich habe es in den letzten Jahren weltweit „schlechte Ernten“ gegeben. „Wir können es uns aktuell nicht leisten, erstens in diesem Jahr witterungsbedingt schlechte Ernten einzufahren und zweitens den Export aus der Ukraine zu verlieren für die weltweite Versorgung.“


05.05.2023, Katja Lehner, ORF.at, aus Brüssel

Links:
Vor Sommerernte: Europas Poker um ukrainisches Getreide
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#35
GROSSE FLOTT
Russlands stiller Erdöltransporteur
1683448219110.png

Erdölexporte aus Russland unterliegen wegen des Krieges gegen die Ukraine Sanktionen. Sie finden trotzdem ihre Wege, vor allem in Asien. Mehrfach wurde über Schattenflotten, vor allem aus alten Tankschiffen, berichtet, die unter unterschiedlichsten Flaggen im Auftrag Moskaus auf den Meeren unterwegs seien. Eine völlig unbekannte indische Reederei soll dabei groß im Geschäft sein.
Online seit heute, 7.30 Uhr
Teilen
Das Unternehmen namens Gatik Ship Management sei innerhalb nur eines Jahres gemessen an der Zahl seiner Tanker zu einem der weltweit größten in der Branche geworden, berichtete die „Financial Times“ diese Woche: Es verschiffe Dutzende „Millionen von Barrel“ Rohöl für den russischen Ölkonzern Rosneft in Richtung Indien.

Die Reederei mit Sitz im indischen Mumbai soll unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 45 und knapp 60 Tankschiffe betreiben, heißt es. Das Transportvolumen betrage mindestens 30 Millionen Barrel (zu je etwa 159 Liter) pro Jahr, groß im Geschäft soll die Firma seit Juni des Vorjahres sein.

„Offenbar aus dem Nichts“
Gatik mit Unternehmenssitz in der Neptune Magnet Mall, einem Geschäftsviertel in der Finanzmetropole und größten Stadt Indiens an der Westküste des Landes, sei vor 18 Monaten „offenbar aus dem Nichts“ aufgetaucht, berichtete die britische Wirtschaftszeitung am Donnerstag.
Seit Russland die Ukraine im Februar des Vorjahres angegriffen hatte, habe das Unternehmen „mehr Tanker als irgendjemand anderer“ gekauft und sei damit von einer unbekannten indischen Reederei zu einem der weltgrößten Tankschiffbetreiber geworden.

Reuters/Sergei Karpukhin
Der indische Tankschiffbetreiber soll vor allem Öl für den russischen Staatskonzern Rosneft verschiffen

Vor zwei Jahren, 2021, habe Gatik Ship Management gerade einmal zwei Tankschiffe für Chemikalien betrieben, mit Stand April habe die Flotte 58 Tanker umfasst – geschätzter Wert: rund 1,6 Milliarden Dollar (etwa 1,45 Mrd. Euro). Ursprung und Eigentumsverhältnisse des Unternehmens blieben „ein Mysterium“, schrieb die „Financial Times“, Angaben dazu gebe es praktisch nicht. Wer nach einer Website sucht, wird enttäuscht: „Seite im Aufbau“. Noch ungewöhnlicher: Gatik sei am 31. März dieses Jahres in Indien als Exportunternehmen angemeldet worden, scheine aber offiziell in keinem Register auf.

Rechnung geht nicht auf
Gatik teile sich eine Adresse in dem Geschäftsviertel in Mumbai mit der ebenfalls weitgehend unbekannten Reederei Buena Vista Shipping mit einem laut der britischen Zeitung geschätzten Unternehmenswert von 100.000 Dollar (rund 90.500 Euro) vor zwei Jahren.
Ein Tankschiff kostet in der Regel das Hundertfache davon. Die Rechnung mit der Flotte geht also nicht auf. Schiffsbroker und Rohstoffhändler vermuteten, so die „Financial Times“, eine enge Verbindung zum besten Kunden: Rosneft, der mehrheitlich staatlichen russischen Aktiengesellschaft mit einem Jahresumsatz deutlich über 100 Mrd. Euro.

Andere Exportwege
Jedenfalls seien die neuen Tanker von Gatik Ship Management „größtenteils“ eingesetzt worden, um Erdöl von Russland in indische Häfen zu transportieren, wie Trackingdaten zeigten. Die rätselhafte Reederei habe bisher „zumindest“ 83 Millionen Barrel Erdöl und Erdölprodukte russischer Herkunft verschifft, so die britische Zeitung unter Berufung auf Daten des auf den Rohstoffhandel spezialisierten internationalen Analyseunternehmens Kpler mit Hauptsitz in New York. Mehr als die Hälfte davon sei von Rosneft gekommen. Vorstandsvorsitzender des Ölkonzerns ist Igor Setschin, der als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin gilt.

Es sei „unvermeidlich“ gewesen, dass sich Moskau nach den westlichen Sanktionen um Flotten umsehen würde, um sein Erdöl zu exportieren, zitierte die „Financial Times“ Viktor Katona, Analyst bei Kpler. Gatik sei dafür „das beste Beispiel“. Ein Unternehmen in einem Land, das als potenziell russlandfreundlich gelte, tauche aus dem Nichts auf, kaufe eine unglaubliche Flotte von Tankschiffen in weniger als einem Jahr und organisiere „fast ausschließlich“ die russischen Ölexportwege.

Indien und China als neue Großkunden
Der Westen hatte als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine Sanktionen gegen russische Exporte verhängt, darunter generell Rohstoffe und Erdöl, dazu einen Preisdeckel beschlossen, der die Einnahmen aus dem Geschäft für Moskau drosseln soll – als wirtschaftliches Druckmittel. Diese Maßnahmen treffen insbesondere Rosneft als größten russischen Produzenten.

Indien dagegen hatte seine Importmenge an Öl und Ölprodukten aus Russland erhöht. Moskau exportierte zuletzt etwa auch mehr Erdgas nach Asien, etwa nach China. Indien habe vor dem Ukraine-Krieg nur etwa ein Prozent seines Ölbedarfs aus Russland gedeckt, inzwischen seien es 30 Prozent.
Angeblich 56 Tanker binnen Monaten gekauft
In diesem Kontext sei auch der rapide Aufstieg von Gatik zu sehen, so die „Financial Times“. Das indische Unternehmen habe seit März 2022 „zumindest“ 56 Tanker zugekauft, davon allein 13 im letzten Dezember mit den EU-Sanktionen gegen die russische Erdölindustrie, berichtete die Zeitung unter Berufung auf Daten von VesselsValue, einem Beratungsunternehmen, das sich mit der Kostenstruktur des Schiffstransports befasst.
Damit sei das weitgehend unbeschriebene Blatt in der Hochseereederei zu einem der größten Betreiber von Tankschiffen weltweit geworden, so Rebecca Galanopoulos von VesselsValue gegenüber der Zeitung. „Um die Perspektive zurechtzurücken“: Rund 1.360 Reedereien weltweit betrieben weniger als zehn Schiffe, nur 20 davon – Gatik inklusive – besäßen 50 und mehr. Bemerkenswert auch: Die Schiffe seien in der Regel alt, keines davon sei bei westlichen Gesellschaften versichert. In welchem Verhältnis Gatik und Rosneft zueinander stehen, sei unklar, ebenso die Rolle von Buena Vista.

Geisterflotten im Dienste Russlands?
Immer wieder wurde nach dem Inkrafttreten der Sanktionen gegen die russische Erdölwirtschaft über Geister- bzw. Schattenflotten berichtet, mit denen Moskau sein Erdöl weiter in alle möglichen Weltgegenden verschiffe. Eine wesentliche Rolle dabei soll auch der Iran spielen, berichteten internationale Medien mehrfach.
APA/AFP/Indonesia Coast Guard
Auch iranische Tanker sollen den Transport für Moskau unter dem Embargo übernehmen

Die Islamische Republik habe ihrerseits nach den US-Sanktionen wegen ihres Atomprogramms solche Flotten – unterwegs unter unterschiedlichen Flaggen, um die tatsächliche Herkunft zu verschleiern – aufgebaut, um damit weiter Öl zu exportieren. Noch größer im Geschäft mit Russland als Gatik soll eine Reederei mit Unternehmenssitz in Dubai sein, deren Schiffe – zeigt eine kurze Recherche – hauptsächlich unter der Flagge des afrikanischen Liberia und Zyperns unterwegs sind.
07.05.2023, geka, ORF.at

Links:
Große Flotte: Russlands stiller Erdöltransporteur
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#36
UKRAINE-KRIEG
Mafia muss sich weltweit umstellen
1684686003234.png

Der russische Überfall auf die Ukraine hat auch eine in der Öffentlichkeit wenig beachtete, aber durchaus folgenreiche Auswirkung: Einer der wichtigsten Umschlagplätze des organisierten Verbrechens kam weitgehend zum Stillstand. Die eingespielte Zusammenarbeit zwischen russischer und ukrainischer Mafia funktioniert nicht mehr – mit Folgen für das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt.
Online seit gestern, 23.48 Uhr
Teilen
Laut der NGO GI-TOC (Global Initiative Against Transnational Organized Crime – Globale Initiative gegen grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen) waren die Ukraine und Russland zusammen bis zum russischen Überfall auf die Ukraine das „größte kriminelle Ökosystem Europas“.

Die russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen kontrollierten die einträglichen Schmuggelrouten zwischen Russland und Westeuropa, auf denen von Gold über Zigaretten, Holz, Kohle und Drogen bis hin zu Menschen alles geschmuggelt wurde. Die Schwarzmeer-Metropole Odessa war zudem ein wichtiger Umschlaghafen für Schmuggelware. Entsprechend groß war der politische und wirtschaftliche Einfluss proukrainischer wie prorussischer Oligarchen.

Wichtiger Umschlagplatz
Die 1794 von Russland gegründete Hafenstadt Odessa war für ihre multiethnische Zusammensetzung und die internationale Ausrichtung berühmt – und für Schmuggel. Das diesbezüglich wohl bekannteste literarische Stadtporträt verfasste Isaac Babel in den „Geschichten aus Odessa“.

Wichtige Heroin- und Kokainroute
Neben dem Balkan und dem Kaukasus war die Ukraine die wichtigste Route für Heroin aus Afghanistan nach Europa. Kokain aus Lateinamerika wurde vielfach via Schwarzmeer-Häfen angeliefert. Umgekehrt wurden Waffen von dort in Richtung Afrika und Asien verladen. In der Ukraine selbst boomte die Produktion von Amphetaminen und illegaler Tabakprodukte.

Nach der Maidan-Revolution 2014 und dem russischen Überfall auf die Krim und Teile der Ostukraine kam es in dem Land zu vermehrten Anstrengungen im Kampf gegen die Mafia und Korruption. Vor allem bei der Justizreform gab es aber vergleichsweise wenig Fortschritt. Der eingefrorene Konflikt im Donbas schuf laut GI-TOC zudem neue Geschäftszweige für Verbrechenssyndikate.

„Verräter zu sein ist etwas ganz anderes“
Der russische Überfall im Februar 2022 habe aber beim organisierten Verbrechen einen „schweren Schock“ ausgelöst, so GI-TOC in einem zuletzt vorgelegten Bericht. Die Kooperation zwischen russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen wurde politisch für beide Seiten unmöglich. „Verbrecher zu sein ist das eine. Aber als Verräter zu gelten ist etwas ganz anderes“, zitierte das britische Wochenmagazin „Economist“ dazu den Experten Mark Galeotti. Zum selben Schluss kam auch das UNO-Institut für interregionale Kriminalitäts- und Justizforschung (UNICRI) Ende letzten Jahres.
Die Schwarzmeer-Häfen wurden geschlossen und sind es großteils heute noch. Die Fronten machen das Schmuggeln fast unmöglich. Dazu kommen nächtliche Ausgangssperren. Und die Mafia hat laut GI-TOC auch ein Personalproblem, da viele Männer zur Armee rekrutiert wurden. Viele Oligarchen verließen zudem bereits zu Kriegsbeginn das Land.

Alternative Routen aufgebaut
Die in Genf ansässige NGO warnt allerdings, die Verbrechenssyndikate hätten längst begonnen, alternative Routen aufzubauen: Estnische Behörden fingen etwa mit Hilfe von Europol in einem ihrer Häfen – in Muuga – im Vorjahr 3,5 Tonnen Kokain aus Lateinamerika ab. Der türkische Zoll berichtete über einen Anstieg von Heroin- und Amphetamintransporten aus dem Iran.

Und laut GI-TOC gibt es auch innerhalb der Ukraine Anzeichen für ein Wiedererstarken organisierter Kriminalität nach dem Schock der ersten Kriegsmonate. Die Schmugglertätigkeit habe sich stark in den Westen an die Grenze etwa zu Polen, der Slowakei und Moldawien verlagert. Und nicht zuletzt würden Soldaten an der Front mit synthetischen Drogen versorgt.

Laut UNICRI sind neue Geschäftsfelder der Transport kommerzieller Waren unter Vortäuschung humanitärer Hilfe und der Schmuggel von Mangelwaren wie Treibstoff aus Nachbarstaaten in die Ukraine. Geplünderte Ware wie Getreide würde ebenso gehandelt. Auch der Menschenhandel hat zugenommen – laut GI-TOC aber bisher weniger stark als befürchtet. Auch das Außerlandesbringen von Männern, die der Einberufung zur Armee entgehen wollen, ist ein neu entstandener Geschäftszweig.

Zwei große Anreize für Mafia
Angesichts des völlig offenen Ausgangs des Krieges sind Prognosen extrem schwierig. Zwei Probleme in der Ukraine liegen aber auf der Hand: die schlagartig gestiegenen Waffenbestände und die vielen Milliarden, die für den Wiederaufbau des Landes fließen werden. Beides dürfte Verbrecherkonglomerate anlocken – wenn nicht staatlicherseits die nötigen Gegenmaßnahmen gesetzt werden und Korruption in den Reihen von Politik und Behörden entsprechend strikt geahndet wird.

Die NGO fordert vor allem weitere durchgreifende Reformen, insbesondere in der Justiz und im Sicherheitsapparat. Der noch in sowjetischen Strukturen verharrende Geheimdienst SBU versuche gegenwärtige Erfolge in der Spionageabwehr bereits politisch dazu zu nutzen, um künftige Reformen und eine eventuelle Aufspaltung von vornherein zu verhindern. Entscheidend für den Erfolg von Reformen könnte hier der Druck der westlichen Alliierten werden: Denn die nötige finanzielle Unterstützung wird vor allem aus dem Westen kommen und mit Reformschritten verknüpft sein.

Russland: Engere Verbindungen mit Unterwelt
In Russland habe der Krieg bereits dazu geführt, dass die Verbindungen zwischen der Unterwelt und dem Staat enger geworden seien, so der Experte Galeotti laut „Economist“. Kriminelle würden teils für den Staat Geheimdiensttätigkeiten ausüben und etwa beim Umgehen von Sanktionen helfen, insbesondere den Import von Halbleitern organisieren.

Für die Ukraine könnte die durch den russischen Überfall erzwungene Abnabelung des Landes von Russland hingegen im besten Fall zu einer Chance werden, ähnliche oligarchische Strukturen dauerhaft aufzubrechen. UNICRI empfahl als Unterstützungsmaßnahmen konkret unter anderem den Aufbau mobiler grenzüberschreitender Einheiten an der EU-Ukraine-Grenze und eine engere Zusammenarbeit via Europol. Und vor allem fordert das UNO-Institut die Unterstützung bei und Überwachung von Reformen bei der Strafverfolgung.
21.05.2023, red, ORF.at/Agenturen

Links:
Ukraine-Krieg: Mafia muss sich weltweit umstellen
 
Gefällt mir: peer

josef

Administrator
Mitarbeiter
#37
SENSIBLE LIEFERKETTEN
So bedroht der Ukrainekrieg die globale Lebensmittelversorgung
Ein Team des Complexity Science Hub Vienna simulierte die Folgen von Ernteausfällen in der Ukraine. Die globale Maisproduktion könnte um 85 Prozent einbrechen

Die Ukraine ist ein wichtiger globaler Produzent von Weizen.
Getty Images/500px

Eine zunehmend globalisierte Wirtschaft wurde in den letzten Jahrzehnten immer effizienter und verlässlicher in der Produktion und Lieferung von Waren. Dann kam die Corona-Pandemie, und seither zeigt sich die Weltwirtschaft überraschend sensibel. Ein Beispiel ist der globale Engpass an Computerchips der letzten Jahre.

Eine Forschungsinstitution, die schon zu Beginn der Pandemie vor dem möglichen Zusammenbruch von Lieferketten warnte, ist der Complexity Science Hub Vienna. Das Zentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, große Datensätze systematisch aufzubereiten und so etwa komplexe wirtschaftliche Systeme realistisch zu modellieren. Nun untersuchte man die Folgen des Ukrainekriegs auf die globale Lebensmittelproduktion und veröffentlichte die Ergebnisse im Fachjournal "Nature Food".

Dazu analysierte das Team 192 Länder und Regionen und konzentrierte sich auf Produktion und Handel von 125 Lebensmitteln. Den Normalzustand stellte man einer Reihe von hypothetischen Szenarien mit Produktionsausfällen gegenüber.


Ein durch einen russischen Angriff zerstörter Schweinestall in Cherson im Mai 2023.
IMAGO/Pacific Press Agency/LevxRadin

Erstmals indirekte Effekte abgebildet
Neu an der Studie sei der Detailreichtum, sagt Stefan Thurner vom Complexity Science Hub. "Bisherige Studien konzentrieren sich oft auf direkte Abhängigkeiten und vernachlässigen indirekte Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben, dass wesentliche Inhaltsstoffe nicht verfügbar sind. Das erschwert die umfassende Bewertung des globalen Lebensmittelsystems."

Das Team entwickelte also ein ausführlicheres Modell, das auch indirekte Abhängigkeiten abbildet. "Dieses Modell ermöglicht es uns, Schocks für bestimmte Produkte und Länder zu simulieren und die nachfolgenden Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette genau zu beobachten", erklärt Thurners Kollege Moritz Laber.

Das überraschende Ergebnis: Über indirekte Zusammenhänge verursachte Effekte sind oft stärker als die direkten Folgen. Ein durch den Ausfall der ukrainischen Schweinefleischproduktion verursachter "Schock" in der Lebensmittelversorgung hätte etwa in Südeuropa nur einen Rückgang in der Verfügbarkeit von Schweinefleisch von etwa einem Prozent zur Folge, ein Ausfall der Maisproduktion würde sich aber in einem Rückgang von 13 Prozent niederschlagen. In Österreich wären durch einen Ausfall der ukrainischen Maisproduktion 28 verschiedene Nahrungsmittel betroffen.

Globale Verwerfungen
Gravierendere Folgen hätte das Worst-Case-Szenario eines Totalausfalls der landwirtschaftlichen Produktion in der Ukraine, berichtet das Team. Der Rückgang bei der globalen Verfügbarkeit von Getreide, insbesondere Mais, würde bis zu 85 Prozent betragen. Bei Speiseölen wäre mit einem Rückgang von fast 90 Prozent zu rechnen. Auch die Fleischproduktion wäre betroffen. Besonders stark wären die Auswirkungen in Südeuropa, Westasien und Nordafrika.

Thurner betont die hohe Verlässlichkeit dieser Abschätzungen: "Die zugrundeliegenden Daten stammen von der FAO." Das ist die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. "Die haben einen sehr guten Überblick, welches Land wie viel an Nahrungsmitteln produziert." Es gebe Daten zu einigen hundert Nahrungsmitteln – konkret, wie viel exportiert, im Land verbraucht und wie viel verwendet wird, um andere Nahrungsmittel zu produzieren. Thurner nennt als Beispiel den Mais, der an Schweine verfüttert wird. "Diese Daten wurden dann mit zusätzlichen Datensätzen angereichert."


Getreidekörner in der Hand eines äthiopischen Bauern in Dobola. Menschen in Afrika sind von steigenden Getreidepreisen durch Engpässe besonders stark betroffen.
imago/epd

Zunehmende Instabilität
Wird es in Zukunft also öfter zu Engpässen bei wichtigen Produkten kommen? "Ja, ich glaube, das Thema wird uns mindestens zehn Jahre begleiten", sagt Thurner. "Es kann sich auch in ein paar Punkten verschärfen, wenn Spannungen zwischen Weltregionen zunehmen." Die Corona-Pandemie sei zwar nicht der Auslöser, habe die Probleme aber sichtbar gemacht.

"Bei Corona hat man gesehen, wie sehr es auf Details ankommt. Wir denken immer in Märkten – es gibt einen Markt für dieses oder jenes Produkt, und wenn wir es hier nicht bekommen, bekommen wir es eben woanders", sagt Thurner. Die Wirklichkeit sei komplexer. "Es war auch ein Augenöffner, wie wichtig die Details sind und wie anfällig wir eigentlich sind."

Den Grund für die beobachtete Instabilität sieht Thurner aber woanders. "In den letzten 30 Jahren ist die Weltwirtschaft dramatisch effizienter geworden", sagt der Forscher. Das sei mit einer Reduktion der Puffer, Speicher und Lager einhergegangen. Seither sei man mehr denn je auf einen kontinuierlichen Fluss von Waren angewiesen. Wenn dieser stoppe, gebe es keine Reserven, um die Effekte abzufedern. "Es ist immer zu Lieferausfällen gekommen, aber jetzt sehen wir sie, weil sie sofort durchschlagen", betont Thurner. Er plädiert dafür, Lieferketten besser zu überwachen, um Firmen frühzeitig vor drohenden Ausfällen warnen zu können.
(Reinhard Kleindl, 15.6.2023)

Studie
Nature Food: "Shock propagation in international multilayer food-production network determines global food availability: the case of the Ukraine war"

Link
Food Supply Shock Explorer

So bedroht der Ukrainekrieg die globale Lebensmittelversorgung
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#38
Staudammsprengung: Dramatische Folgen für Landwirtschaft
Durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine droht eine veritable Umweltkatastrophe. Oberhalb des Damms gehen Hunderttausende Hektar Agrarland dauerhaft verloren – die Existenzgrundlage einer halben Million Menschen.
Das ukrainische Public Interest Journalism Lab sprach exklusiv für ORF Topos mit Wissenschaftlern und Betroffenen:
Seit einem halben Jahrhundert wird die landwirtschaftliche Entwicklung in einem großen Teil der Region Cherson durch ein Netz von Bewässerungskanälen unterstützt, die vom Stausee gespeist werden. Das Austrocknen der Kanäle wird zu einem Verlust von 400.000 Hektar Land führen, sagt Ihor Pylypenko, Dekan der Fakultät für Biologie, Geografie und Ökologie an der Universität von Cherson (KSU).
Der Gemüseanbau wird ohne Wasser verschwinden. Auch der Anbau von feuchtigkeitsliebenden Pflanzen wie Sojabohnen, einem wichtigen Exportprodukt für die Region, wird eingestellt.
Ihor Pylypenko
Seiner Meinung nach besteht der einzige Ausweg darin, andere – trockenheitsresistente – Kulturen wie Sonnenblumen anzubauen, deren Erträge nur von den Niederschlägen während der Vegetationsperiode abhängen. Da diese Regenmenge nicht vorhersehbar ist, gilt ein solcher Anbau als riskant.​

The Associated Press
Dutzende Menschen verloren durch die Flut infolge der Sprengung des Staudamms ihr Leben
GENYA SAVILOV/AFP/picturedesk.com
Unter dramatischen Bedingungen mussten Zehntausende Menschen gerettet werden
GENYA SAVILOV/AFP/picturedesk.com
Für viele kam die Rettung in allerletzter Sekunde
APA/AFP/Handout
Bereits mehr als 70 Prozent des Wassers sind aus dem Stausee abgeflossen
Public Interest Journalism Lab
Nun gehen die Ufer des Stausees immer weiter zurück – die Austrocknung einer ganzen Region ist die Folge, wie ein lokaler Bürgermeister erzählt.
Public Interest Journalism Lab
Bereits jetzt starten erste Projekte, um das Schlimmste zu verhindern oder um am Neustart für die Zeit nach dem Krieg zu arbeiten

Staudamm wiederherstellen?
Der Rückgang des Stauseepegels wird auch die Wasserversorgung einer Reihe von Städten erschweren, darunter Krywyj Rih, einem wichtigen Zentrum der Bergbau- und Metallindustrie. Während das Problem der Trinkwasserknappheit gelöst werden kann – die Städte können an andere Becken angeschlossen werden, und es können artesische Brunnen gebaut werden –, ist die Bewässerung von Feldern ohne den Stausee unmöglich, sagt Pylypenko.

Ihm zufolge werden in der Ukraine bereits zwei Konzepte für die Zukunft diskutiert: Das erste sieht die Wiederherstellung des Staudamms nach dem Sieg vor, das zweite nicht. Pylypenko sagt, dass es auf beiden Seiten überzeugende Argumente gibt, aber er ist immer noch für die Wiederherstellung des Staudamms.
Nach unseren Schätzungen hat sich die Bevölkerung in dieser Region durch die Möglichkeit der künstlichen Bewässerung in den letzten 50 Jahren verdoppelt. Wenn wir die Kanäle aufgeben, was machen wir dann mit einer halben Million Menschen? Wohin werden wir sie schicken?
Ihor Pylypenko

Bürgermeister mit unkonventionellen Plänen
Wenn es um die Zukunft der Region geht, blicken Experten nicht zuletzt in jene Zeit zurück, als es den Stausee noch nicht gab. Zuversichtlich ist etwa Andrii Seletskyj – ein lokaler Historiker und der neue Bürgermeister von Nowoworontsowka, einer Stadt am Stauseeufer –, dass das Studium historischer Erfahrungen ihm helfen wird, den See zu erhalten. Er ist mit seinem Optimismus, Humor und Tatendrang und seinem Melonen-Tattoo eine beeindruckende Persönlichkeit.

Nach der Sprengung des Staudamms begann die Bucht seines Dorfes rapide zu schrumpfen. Jetzt will Seletskyj ein altes, verstopftes Flussbett reinigen und damit einen neuen See, den er mit Baggern ausschaufeln lässt, fluten. Olexij Dawydow, promovierter Geograf, außerordentlicher Professor und Leiter des Fachbereichs Geografie und Ökologie an der Universität Cherson (KSU), teilt im Interview mit dem Journalism Lab die Zuversicht des Bürgermeisters nicht, steht dessen Idee aber nicht gänzlich ablehnend gegenüber: Je nach Durchlässigkeit des Gesteins in dem Gebiet könne sie funktionieren oder auch nicht.

Selbst Schwarzes Meer gefährdet
Eine Greenpeace-Studie auf der Grundlage von Satellitendaten ergab, dass 32 Anlagen mit Chemikalien, Öl und Benzin – darunter Ölraffinerien, Tankstellen, Wärmekraftwerke und verschiedene Lagerhäuser – infolge der Sprengung des Staudamms überflutet wurden. Kürzlich erklärte das ukrainische Gesundheitsministerium, dass die Wasserverschmutzung im Unterlauf des Dnipro 28.000-mal höher ist als normal. Das Präsidialamt ergänzte, dass Öl und Fette mit einem Gewicht von mindestens 150 Tonnen den Dnipro hinuntertreiben und bald das Schwarze Meer erreichen könnten.

Vergiftetes Wasser kann eine Epidemie auslösen. Doch die langfristigen Folgen des Dammbruchs sind nicht weniger beunruhigend, da mit dem Wasserstand im Stausee unweigerlich auch der Grundwasserspiegel sinken wird, was wiederum großflächige Erdrutsche sowohl flussaufwärts als auch flussabwärts des Damms zwischen Cherson und Mykolajiw auslösen könnte.
Für die Menschen, die am Ufer leben, besteht eine katastrophale Gefahr. Riesige Blöcke können ins Wasser rutschen. Nicht nur einzelne Häuser, sondern ganze Wohngebiete.
Olexij Dawydow

„Wir müssen vorbereitet sein“
Eine weitere Gefahr ist laut Dawydow die Entwässerung des Bodens des Stausees. Dabei gelangen Schlammschichten an die Oberfläche, die Schwermetalle und Radionuklide enthalten können. Dawydow schränkt ein, dass er nur spekulieren kann, da die betroffenen Gebiete permanent unter russischem Beschuss stehen. Auch der Fluss und der Stausee sind durch die Frontlinie abgeschnitten und für Forschung nicht zugänglich. Alles, was den Wissenschaftlern zur Verfügung steht, sind Satellitenbilder.

Neben dem hohen Risiko von Erdrutschen besteht laut Dawydow auch die Gefahr von Erdbeben, die durch Massenumverteilung verursacht wird: „Das ist jetzt keine unmittelbare Bedrohung, aber wir müssen darauf vorbereitet sein.“

Bevölkerung „sehr gezeichnet“
Das Problem mit der Wasserknappheit oberhalb des Staudamms besteht zudem nicht nur langfristig, sondern auch akut. Schon jetzt sei die Wassermenge um 70 Prozent gesunken, sagte Stefan Fritz, Geschäftsführer des Hilfswerks Austria International, gegenüber der APA. Die Menschen am ehemaligen See seien fast täglich russischem Beschuss ausgesetzt. Die Bevölkerung sei durch die Situation schon „sehr gezeichnet“. Erst jüngst sei bei dem Versuch, die Wasserversorgung wiederherzustellen, das Wasserkraftwerk in Nikopol von Artillerie beschossen worden, so Fritz.
Durch Grundwasserbohrungen wird versucht, die Wasserversorgung aufrechtzuerhalten. Langfristig werde es aber neue Wassersysteme und Pipelines brauchen, so die Hilfsorganisation. Gesetzt den Fall, dass es überhaupt irgendwo eine Quelle für Wasser gibt, das weitergeleitet werden kann.
23.06.2023, Evgeniy Safonov vom Public Interest Journalism Lab, im Rahmen der Serie „Leben im Krieg“ (Programm „Documenting Ukraine“) in Zusammenarbeit mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), für ORF Topos, Simon Hadler (Redaktion) - ORF Topos

Links:
Public Interest Journalism Lab
Universität Cherson
ORF Topos
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#39
AUS FÜR ABKOMMEN
Ukraine will Getreide weiter verschiffen
1689618821857.png

Kiew will trotz fehlender Sicherheitsgarantien weiter den Getreidekorridor betreiben. „Sogar ohne Russland muss man alles tun, damit wir diesen Schwarzmeer-Korridor nutzen können“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Reeder sollen bereit sein, ukrainische Häfen anzulaufen. Zuvor hatte Russland angekündigt, das auslaufende Getreideabkommen nicht zu verlängern. Nun wird ein Steigen der Preise befürchtet mit schweren Folgen vor allem für ärmere Länder.
Online seit heute, 18.32 Uhr
Teilen
Russland hatte am Dienstag wenige Stunden vor Ablauf des Abkommens Montagnacht angekündigt, dass es keine Verlängerung geben werde. Die früher ausgehandelten Bedingungen Russlands zur Lockerung der westlichen Wirtschaftssanktionen seien nicht erfüllt worden, Präsident Wladimir Putin habe diese Forderungen deutlich formuliert. So will Moskau unter anderem, dass die staatliche Landwirtschaftsbank in das internationale SWIFT-Zahlungssystem reintergriert wird, um den Export eigenen Getreides und Düngers in gewünschtem Umfang abzuwickeln. Probleme gebe es auch bei der Versicherung der Frachten.

Der Westen habe für eine Lösung ein Jahr Zeit gehabt, so Moskau. Stattdessen hätten die Ukraine, der Westen und die Vereinten Nationen „entgegen den Erklärungen zu den humanitären Zielen“ die Ausfuhr ukrainischer Lebensmittel „auf rein kommerzielle Basis gestellt“, um „selbstsüchtige Interessen Kiews und des Westens“ zu erfüllen, hieß es in der Presseerklärung des russischen Außenministeriums.
Seit Unterzeichnung des Abkommens im Juli 2022 konnte die Ukraine durch den Deal 33 Millionen Tonnen verschiffen. Das war nicht nur lebenswichtig für viele ärmere Länder, sondern auch für die Kriegskasse Kiews. Erlöse von umgerechnet über acht Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr erzielt. Nun will die Ukraine auch ohne russische Sicherheitsgarantien den Getreidekorridor weiter nutzen. Laut Selenskyj seien die Schiffseigner dazu bereit, wie er am Montag ausrichten ließ.

Dass der Ausstieg Russlands aus dem Deal mit der Explosion auf der Krim-Brücke zusammenhänge, verneinte man im Kreml. In der Nacht auf Montag wurde die Brücke wegen eines „Notfalls“ gesperrt. Ein Mann und eine Frau seien in der Nacht auf der Krim-Brücke getötet, ihre Tochter verletzt worden, so die russischen Behörden. Moskau macht die Ukraine dafür verantwortlich. Laut Putin sei der Anschlag das Werk von „Terroristen“, er kündigte Vergeltung für den Angriff an. Doch verknüpft würden der Brückenanschlag und das Getreideabkommen nicht. Es handle sich um „zwei nicht miteinander verbundene Ereignisse“, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte.

Folgen vor allem für ärmere Länder
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich zutiefst enttäuscht über den russischen Ausstieg. Das Abkommen sei eine „Rettungsleine für die globale Ernährungssicherheit und ein Leuchtturm der Hoffnung in einer aufgewühlten Welt“ gewesen, sagte Guterres am Montag in New York. „Man hat die Wahl, an solchen Abkommen teilzunehmen. Aber leidende Menschen überall und Entwicklungsländer haben keine Wahl. Hunderte Millionen Menschen sind vom Hunger bedroht und Konsumenten von einer globalen Krise der Lebenshaltungskosten.“
Guterres hatte Putin in der vergangenen Woche noch einen Brief mit Vorschlägen geschrieben, um das Abkommen zu retten. „Ich bin zutiefst enttäuscht, dass meine Vorschläge unbeachtet blieben“, sagte er.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NYT/ISW
Die globalen Getreidepreise dürften stark steigen, wenn die ukrainischen Getreideexporte nicht mehr auf den Weltmarkt kommen. Viele Länder, besonders in Afrika, sind für die Versorgung ihrer Bevölkerung auf Weizen aus der Ukraine angewiesen. Die deutsche Botschafterin bei der Weltgesundheitsorganisation, Katharina Stasch, nannte den Export „eine Frage von Leben und Tod“.

Die Preise für Getreide sind auch bereits gestiegen, nachdem bekanntwurde, dass Russland das Abkommen nicht verlängern wird. Die Lage ist derzeit jedoch besser als in den Monaten nach Kriegsbeginn, da das Getreideangebot von anderen Erzeugern wie etwa Brasilien gestiegen ist.

Hoffnung auf längerfristige Lösung
Viele Stimmen verurteilten daher Russlands Entscheidung. US-Außenminister Antony Blinken warnte, wenn Moskau nicht in eine Verlängerung des Getreideabkommens einwillige, dann würden die Entwicklungsländer in Form „höherer Lebensmittelpreise wie auch größerer Nahrungsmittelknappheit“ darunter zu leiden haben. „Wir fordern Russland mit Nachdruck dazu auf, seine Entscheidung unverzüglich zu revidieren“, schrieb ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Adam Hodge, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach davon, dass Hunger als Waffe eingesetzt werden sollte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem „zynischen Schritt“.

Auch Österreich verurteilte die Entscheidung, sie bedeute, dass Millionen von Tonnen von lebenswichtigem Getreide und Nahrungsmitteln für Entwicklungsländer blockiert werden. Russland missbrauche damit „zynisch“ Nahrung als Waffe, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums vom Montag. Man fordere Russland „dringend auf, diese Entscheidung zu überdenken und einer weiteren Fortsetzung des Getreideabkommens zuzustimmen“. Weiters plädierte das Ministerium für eine langfristige Lösung für die Implementierung des Getreideabkommens.

Reuters
Vor allem der Export von Mais und Weizen ist lebenswichtig für viele Länder

Unter Vermittlung der Türkei
Erstmalig war das Getreideabkommen nach monatelanger Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren im Juli des Vorjahres unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei geschlossen worden. Die UNO und allen voran der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatten sich auch in den vergangenen Wochen intensiv darum bemüht, Putin von einer Verlängerung zu überzeugen. Erdogan geht auch weiterhin von einer Verlängerung des Abkommens aus.

„Ich glaube, dass der russische Präsident Putin trotz der heutigen Mitteilung für eine Fortsetzung dieser humanitären Brücke ist“, sagte Erdogan am Montag vor Journalisten. Er kündigte Gespräche mit Putin an. Eine Verlängerung des Abkommens könne noch vor dem für August geplanten Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei möglich sein, sagte Erdogan weiter. Verhandlungen diesbezüglich seien bereits im Gange.

Viele Risiken bei Alleingang
Laut dem Abkommen prüfen russische, ukrainische und türkische und UNO-Inspektoren, dass an Bord der Frachter, die Getreide abholen, keine Waffen in die Ukraine gelangen. Ohne russische Inspekteure können die Schiffe im Koordinierungszentrum in Istanbul nicht mehr abgefertigt werden. Russland könnte auch die drei ukrainischen Häfen wie zu Anfang des Krieges blockieren.

Ausländische Frachter könnten die Häfen, die ja unter ukrainischer Kontrolle sind, theoretisch auch ohne Russlands Zustimmung anfahren, so wie es Selenskyj andeutete. Sie gingen dann aber das Risiko ein, von russischer Seite beschossen zu werden. Unklar ist auch, wie Schiffe und Fracht versichert werden sollen. Die Versicherungspolicen für Kriegsrisiken müssen alle sieben Tage erneuert werden, was Tausende von Dollar kostet.

Komplizierter Landweg
Seit Beginn des Konflikts exportiert die Ukraine auch große Mengen Getreide über die östlichen EU-Länder. Dabei gab es jedoch viele logistische Herausforderungen, darunter unterschiedliche Spurweiten von Schienen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Getreidestrom aus der Ukraine durch die östlichen EU-Länder zu Unruhe bei den Landwirten in der Region geführt hat, die erklärten, dass das ukrainische Getreide das lokale Angebot unterbiete, sodass sie keinen Markt für ihre Ernte hätten. Infolgedessen hat die EU fünf Ländern – Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei – erlaubt, den Inlandsverkauf von ukrainischem Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkernen zu verbieten, während sie die Durchfuhr für den Export in andere Länder erlaubt.
17.07.2023, red, ORF.at/Agenturen

Aus für Abkommen: Ukraine will Getreide weiter verschiffen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#40
GIPFEL MIT NATO
Suche nach Wegen für ukrainisches Getreide
1690353331727.png

Auf Ersuchen Kiews kommt am Mittwoch der erst kürzlich ins Leben gerufene NATO-Ukraine-Rat zusammen. Thema des Treffens ist maßgeblich die Frage, wie die Ukraine weiterhin Getreide über das Schwarze Meer exportieren kann. Russland hatte das entsprechende Abkommen dafür letzte Woche nicht mehr verlängert und indirekt mit Angriffen auf Schiffe gedroht. Auch die Donau ist mittlerweile zum Ziel geworden.
Online seit heute, 6.08 Uhr
Teilen
Das Getreideabkommen mit der Ukraine, vermittelt von der UNO und der Türkei und im Juli des Vorjahres abgeschlossen, war Montag vor einer Woche ausgelaufen, Russland weigerte sich wegen der westlichen Sanktionen, es zu verlängern. Später erklärte Moskau Schiffe im Schwarzen Meer als potenziell feindliche Ziele.

Am Dienstag hieß es aus Großbritannien, die Geheimdienste verfügten über Informationen, wonach „das russische Militär möglicherweise seine Angriffe auf ukrainische Getreideanlagen ausweitet, einschließlich Angriffe auf zivile Schiffe im Schwarzen Meer“.

Russische Angriffe auf Häfen an der Donau
Am Montag hatte die russische Armee erneut Ziele in der Region der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer und auch Häfen an der Donau nicht weit von der rumänischen Grenze in der Ukraine angegriffen.

Reuters/Ukrainian Armed Forces
Brennendes Getreidelager in der Region Odessa

Entsprechend schwierig ist die Ausgangslage für neue Verhandlungen über den Getreideexport. Das von Russland aufgekündigte Abkommen hatte es Kiew ermöglicht, trotz des Krieges seit Juli des Vorjahres knapp 33 Millionen Tonnen Getreide auf dem Seeweg zu exportieren. Das Land ist neben Russland einer der wichtigsten Getreideproduzenten der Welt, mehrere, vor allem wirtschaftlich schwächere Länder, etwa in Afrika und dem Nahen Osten, sind von Lieferungen aus der Ukraine abhängig.

„Nahrungsmittel als Waffe“
Ziel des NATO-Ukraine-Rats, der am Mittwoch auf Botschafterebene in New York stattfindet, sei es nun, über die jüngsten Entwicklungen zu beraten und den Transport von ukrainischem Getreide auf dem Seeweg zu erörtern, sagte Bündnissprecherin Oana Lungescu am Wochenende.

IMAGO/Ukraine Presidency/Ukraine
Die Ukraine drängt vehement auf eine Mitgliedschaft in der NATO

Kurz vor der Ankündigung hatte NATO-Generalsekretär Stoltenberg mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert. Stoltenberg teilte danach mit: „Wir verurteilen Moskaus Versuch, Nahrungsmittel als Waffe einzusetzen, auf das Schärfste.“ Die Verbündeten stünden der Ukraine so lange wie nötig zur Seite. Der NATO-Ukraine-Rat war beim Gipfel der 31 Mitglieder des Militärbündnisses Mitte Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius aus der Taufe gehoben worden. Kiew drängt vehement auf eine Aufnahme in die NATO.

Kreml sah Bedingungen nicht erfüllt
Der Kreml hatte das Abkommen über die ukrainischen Ausfuhren von Getreide mit dem Argument aufgekündigt, der Westen halte Vereinbarungen mit Russland nicht ein, etwa solche, die die Exporte von Düngemitteln und Agrargütern als Ausnahme von den Sanktionen beträfen.

Reuters
Die Ukraine konnte mit dem Abkommen über 30 Millionen Tonnen Getreide exportieren

Der ukrainische Präsident Selenskyj drängt – auch ohne Abkommen – auf die Weiterführung der Getreideexporte über das Schwarze Meer. „Jede Destabilisierung in dieser Region und die Störung unserer Exportrouten bringt Probleme mit entsprechenden Folgen für alle Menschen auf der Welt mit sich“, sagte er zuletzt.

Appell aus Peking und EU-„Solidaritätsrouten“
Auch aus China kamen zuletzt Appelle für eine rasche Einigung auf Ausfuhren nicht nur von Getreide aus der Ukraine, sondern auch von Agrargütern und Dünger aus Russland. Peking hoffe, dass die Betroffenen mit den zuständigen UNO-Gremien zusammenarbeiteten, um eine ausgewogene Lösung für die berechtigten Anliegen aller Parteien zu finden, sagte Chinas stellvertretender Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen, Geng Shuang, nach einem Bericht des chinesischen Staatsfernsehens am Wochenende in New York. Das sei notwendig, um die internationale Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Die Ukraine war trotz Krieges 2022 der weltweit größte Weizenlieferant des Welternährungsprogramms (WFP) der UNO.

Die EU kann nach eigenen Angaben fast alle landwirtschaftlichen Produkte aus der Ukraine transportieren, die wegen des russischen Ausstiegs aus dem Getreideabkommen nun nicht mehr über deren Schwarzmeer-Häfen exportiert werden können. Das könne über Schienen- und Straßenverkehrsverbindungen durch EU-Mitgliedstaaten geschehen, die an die Ukraine grenzen, sagte EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski. Er bezeichnet die Wege als „Solidaritätsrouten“.
26.07.2023, red, ORF.at/Agenturen
Gipfel mit NATO: Suche nach Wegen für ukrainisches Getreide
 
Oben