Norwegen: Stollen auf Eismeerinsel als Saatgutlager "für die Zeit danach..."

josef

Administrator
Mitarbeiter
#1
Das Saatgut-Backup im arktischen Eismeer
Reportage Michael Marek aus Longyearbyen - 6. Februar 2016

Um die Erde nach einer Katastrophe wieder kultivieren zu können, werden in Norwegen 865.000 Samenproben gelagert. Ein Lokalaugenschein

Stille. Plötzlich beginnen die Ventilatoren der Kühlanlage zu toben. Von außen ist nur das betonierte, schmale Eingangsportal sichtbar, das aus dem schneebedeckten Berg zu wachsen scheint. Auf dessen Nutzung weist ein improvisiertes, an Holzpfählen angebrachtes Schild auf der Zufahrtsstraße hin: "Svalbard Global Seed Vault". Hier, in einem Tresor auf einer Insel im arktischen Eismeer, lagern Saatgutschätze aus der ganzen Welt.

Brian Lainoff öffnet die zweiflügelige Stahltür am Eingang. Dahinter ein betonierter Vorraum zum Anlegen der blauen Sicherheitshelme und -kleidung. Der großgewachsene US-Amerikaner arbeitet für den Global Crop Diversity Trust. Der Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt ist eine internationale Organisation mit Sitz in Bonn und zuständig für den Seed Vault. Ziel des Crop Trust: die Vielfalt an Saatgut zu bewahren. Lainoff ist aus Deutschland angereist, um den Saatguttresor zu öffnen. Eine seltene Gelegenheit für Journalisten, diesen zu besuchen. Kühle, aber trockene Luft schlägt uns entgegen. Dann, nach zehn Metern, die zweite Stahltür, dahinter führt ein röhrenartiger 120 Meter langer, sanft nach unten abfallender Tunnel geradewegs in den Berg.

Longyearbyen im norwegischen Spitzbergen ist gut 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurde, lagern heute in einem eisigen Berg etwa 865.000 Samenproben von Mais, Reis, Weizen und anderen Nutzpflanzen. In Plastikboxen verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie sollen nach einer Katastrophe helfen, die Erde wieder zu kultivieren, wenn Kriege, Epidemien, Hochwasser, Dürre oder Vulkanausbrüche Ackerland vernichtet haben.

2006 hatte man mit dem Bau der Einlagerungsanlage begonnen, 2008 wurde sie in Betrieb genommen. Nun lagern dort Samenproben von 5103 Pflanzenarten, darunter Amaranth aus Ecuador, Wildbohnen aus Costa Rica, Tomaten aus Deutschland, Gerste aus Tadschikistan, Kichererbsen aus Nigeria, Mais aus den USA oder Reis aus Indien.

Für Betrieb und Verwaltung des Svalbard Global Seed Vault ist das Nordische Zentrum für Genetische Ressourcen verantwortlich, ein Zusammenschluss von Genbanken der skandinavischen Länder und Islands. Zuständig für finanzielle Ausstattung ist der Crop Trust, der die Hälfte der jährlichen Betriebskosten von mindestens 100.000 Euro trägt. Der norwegische Staat zahlt den Rest. Die Baukosten von 6,3 Millionen Euro hat Norwegen übernommen.

2,25 Milliarden Samen
Warum unterstützt Norwegen den Global Seed Vault? "Der Klimawandel schreitet voran, deshalb ist es wichtig, ein Backup zu haben", sagt Norwegens Umweltministerin Tine Sundtoft.

Nach 120 Metern im gut beleuchteten und belüfteten Stollen: die nächste Stahltür. Eiskristalle überwuchern sie ebenso wie die Wände und Rohre in deren Nähe. Dahinter befinden sich die drei Lagerräume, die zusammen über eine Gesamtkapazität für 4,5 Millionen verschiedener Arten von Kulturpflanzen verfügen. Jede Art umfasst im Durchschnitt 500 Samen. Folglich können mehr als 2,25 Milliarden Samen in den drei Tresorräumen gelagert werden, von denen im Augenblick jedoch nur der mittlere benutzt wird. Der Hauptlagerraum ist zehn mal 27 Meter groß, in Längsreihen stehen blau-rot-graue Hochregale – alles Marke Billigbaumarkt.

Spitzbergen sei aus mehreren Gründen ein idealer Standort für die Samenlagerung, erklärt Lainoff: Svalbard ist der nördlichste Punkt der Erde, den man mit einem Linienflug erreichen kann. Norwegen führt keine Kriege, betreibt keine Atomkraftwerke. "Dies ist wahrscheinlich der sicherste Ort auf unserem Planeten", sagt Lainoff.

Die Entscheidung, welche Samen eingelagert werden, treffen die einzelnen Länder und Organisationen. Mit einer Ausnahme: Genetisch verändertes Saatgut muss draußen bleiben. Das schreiben die norwegischen Einfuhrgesetze vor.

217 Länder haben ihre Saatgutproben gesichert. Sogar untergegangene Staaten wie die Sowjetunion, die DDR und Jugoslawien sind im Global Seed Vault vertreten – ihre Proben wurden von den Nachfolgestaaten übernommen. Gleichwohl wurden zuletzt immer weniger Saatgutproben eingelagert. Der Grund: Kleine Genbanken haben Probleme, eine ausreichende Qualität zu gewährleisten. Denn, so Lainoff, die "Proben müssen im Herkunftsland unter den gleichen Bedingungen gelagert werden wie auf Spitzbergen", also bei minus 18 Grad Celsius.

Die Temperatur und niedrige Feuchtigkeit im Tresorraum sorgen für eine geringe Stoffwechselaktivität, was die Samen über lange Zeit hin lebensfähig halten soll. Weizen kann bis zu 1200, Rettich um die 80 Jahre gelagert werden. Gleichzeitig kann das Saatgutlager traditionelle Genbanken nicht ersetzen. Denn keimfähiges Saatgut ist auch bei idealen Lagerbedingungen nicht ewig haltbar.

Erstmalige Rückforderung
Erstmals in der Geschichte des Saatguttresors sind eingelagerte Samen kürzlich zurückgefordert worden. Grund dafür ist der Bürgerkrieg in Syrien. Das bis 2012 in Aleppo beheimatete Internationale Zentrum für Agrarforschung in trockenen Regionen liegt mitten im syrischen Kriegsgebiet, aber fast alle Proben, insbesondere trockenheitsresistente Getreidesorten des Nahen Ostens, konnten rechtzeitig nach Spitzbergen gebracht werden. Mittlerweile wurde das Hauptquartier der Organisation nach Beirut verlegt. Ende 2015 wurden Proben für eine Neuaussaat aus dem Seed Vault herausgeholt. "Es geht vor allem um Gerste, Weizen und Kichererbsen", so Lainoff, "die Saaten wurden in den Libanon und nach Marokko geschickt. Dort wollen Wissenschafter die Samenkörner aussäen, um aus den Gewächsen neue Sammlungen aufzubauen.

"Nach Einschätzung der Welternährungsorganisation FAO gingen in den vergangenen 100 Jahren drei Viertel der noch um 1900 verfügbaren Sortenvielfalt verloren. Besonders drastisch ist dies bei Gemüsesaatgut: Einige Sorten wie extra-süßer Zuckermais, Kohlrabi oder Blumenkohl sind nur noch als Hybride auf dem Markt.

Schon jetzt kontrollieren die größten acht Konzerne, darunter Monsanto und Syngenta, laut dem US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium rund 94 Prozent des Saatgutmarkts. Fern ab von Spitzbergen streiten Agrarkonzerne, Bauern und unabhängige Pflanzenzüchter darüber, wer überhaupt das Recht hat, Saatgut herzustellen, und wer befugt ist, es in den Handel zu bringen. Denn wer das Saatgut kontrolliert, kontrolliert auch die Nahrungsmittel.
http://derstandard.at/2000030254266/Das-Saatgut-Backup-im-arktischen-Eismeer
 

Anhänge

josef

Administrator
Mitarbeiter
#2
Neue Schutzmaßnahmen für den Saatguttresor auf Spitzbergen

Die globale Erwärmung setzt der Anlage, die Saatgut aus aller Welt für die Zukunft bewahren soll, zu
Longyearbyen – Ein als besonders sicher geltendes Saatgut-Depot in der Arktis ist vom
Klimawandel bedroht und soll durch neue Baumaßnahmen besser geschützt werden. Im "Svalbard Global Seed Vault" auf der Insel Spitzbergen lagern Pflanzensamen aus der ganzen Welt bei Minusgraden, um im Falle von Naturkatastrophen oder auch Kriegen auf sie zurückgreifen zu können.

Doch nach starken Regenfällen und Schneeschmelze wegen einer Hitzewelle war im vergangenen Oktober Wasser in einem Zugangstunnel entdeckt worden, wie die Behörden in Norwegen mitteilten. Saatgut sei dabei zwar nicht beschädigt worden, der Schreck war dennoch groß. Nun werden den Angaben zufolge unter anderem neue wasserdichte Schutzwände gebaut, Wärmequellen entfernt und Entwässerungsgräben ausgehoben.

Der im Jahr 2008 eröffnete Saatguttresor liegt in einer stillgelegten Kohlegrube außerhalb der Stadt Longyearbyen, nur der Eingang liegt über der Erde. Die Lagerhallen liegen 130 Meter über dem derzeitigen Meeresspiegel und sollten daher auch bei einem dramatischen Anstieg unversehrt bleiben. Im März 2017 wurde auch ein Archiv für wichtige Dokumente aus aller Welt eingerichtet. (APA, red, 23.5.2017)

Zum Thema

Das Saatgut-Backup im arktischen Eismeer

Link

Svalbard Global Seed Vault

foto: reuters/heiko junge
Eingang zum Svalbard Global Seed Vault auf Spitzbergen. Hier werden Samen tausender Pflanzenarten aufbewahrt


http://derstandard.at/2000058142742/Neue-Schutzmassnahmen-fuer-den-Saatguttresor-auf-Spitzbergen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#3
Die Arche Noah im ewigen Eis
Hoch im Norden wird die Zukunft der Menschheit gehütet. Ein Saatgut-Tresor soll Ernährung und Artenvielfalt im Falle großer Katastrophen sichern

Dreimal im Jahr wird der Saatguttresor in Spitzbergen geöffnet, um neue Samen einzulagern.
Foto: Reuters/NTB Scanpix

Drei Flugstunden von Oslo entfernt, zwischen norwegischem Festland und Nordpol, liegt die Inselgruppe Spitzbergen. Die rund 2.700 Einwohner teilen sich den kleinen Archipel mit Rentieren, Eisbären und rund einer Million Samenproben von Nutzpflanzen aus aller Welt. Auf Svalbard, wie der norwegische Name der Inselgruppe lautet, wird im Polargebiet Saatgut aus der ganzen Welt gelagert. Der Samen-Tresor Svalbard Global Seed Vault soll die weltweite Ernährung und Artenvielfalt sichern. In Zeiten von Klimawandel und Bevölkerungswachstum sind die genetischen Ressourcen eine Art Zukunftsversicherung der Menschheit im Katastrophenfall.

Der 2008 eröffnete Svalbard Global Seed Vault ist Eigentum Norwegens. Der Global Crop Diversity Trust übernimmt Teile der Betriebskosten und unterstützt ausgewählte Genbanken in Entwicklungsländern finanziell beim Saatgutversand. Nord Gen, das Nordic Genetic Resource Centre, ist für Betrieb und Lieferung zuständig. Der Norweger Åsmund Asdal koordiniert den Saatgut-Tresor für Nord Gen, er sagt über die Bedeutung des Samendepots: "Samen sind die wichtigste menschliche Nahrungsquelle und enthalten die genetischen Codes der Pflanzengene." Dreimal im Jahr wird der Tresor normalerweise für neue Sameneinlagerungen geöffnet. Der STANDARD traf Asdal auf Spitzbergen nach der aktuellsten Öffnung, bei der unter anderem erstmals Samen von Genbanken aus Polen und der Slowakei eingelagert wurden.

Siedlung der Superlative
Der Tresor liegt in der Höhe von Longyearbyen, dem Hauptort der Inselgruppe. Longyearbyen ist die Heimat von etwa 2000 Menschen und eine der weltweit nördlichsten Siedlungen, erreichbar mit dem nördlichsten Linienflug zum Svalbard Airport. Hier stehen die nördlichste Brauerei sowie die nördlichste Kirche. Im traditionellen Bergbauort boomen heute Tourismus und Forschung. Da Eisbären heimisch sind, muss man außerhalb der Siedlung, wo auch der Tresor liegt, entsprechend bewaffnet sein. Unser Interviewpartner rät deshalb, den Taxifahrer zu bitten, das Ende des Interviews abzuwarten, sollten wir uns vor Eisbären fürchten.


Unterirdisch und bei minus 14 Grad lagern im Global Seed Vault 2,5 Milliarden Samen.
Foto: Reuters/Stringer

Ende Oktober ist die Insel schneebedeckt, die Spitzen der weißen Berge leuchten in zartem Rosa, und der Fjord liegt ruhig am Fuße des Berges, als wir den Tresoreingang erreichen. Es ist ein pittoresker Anblick, der den massiven Betonbau des Samentresors fast klein wirken lässt. Sichtbar ist tatsächlich nur der Eingang, dahinter schraubt sich ein etwa 100 Meter langer Tunnel in den Berg. Dessen Umbau wurde gerade fertiggestellt und soll künftig Wasserschäden verhindern, denn laut Asdal wird auch hier im hohen Norden wärmeres und feuchteres Klima erwartet. Er beschreibt das Innere des Tresors, da der Zutritt Besuchern mittlerweile untersagt ist.

Drei Kammern, eine fast voll, bieten Platz für die kostenlose Lagerung von insgesamt 2,5 Milliarden Samen. Wie bei einem Bankkonto bleiben Genbanken Eigentümer der Samen, nur sie können diese anfordern. Empfohlen werden je nach Pflanzenart zwischen 300 und 500 Samen pro Probe, die getrocknet in luftdichten Aluminiumbeuteln in Kisten bei minus 18 Grad gelagert werden. Der Permafrost bietet minus vier Grad, den Rest erledigen Kühlsysteme. Viele Pflanzensamen können hier unterschiedlich lang lagern, Kaffeesamen zum Beispiel kann man jedoch nicht einfrieren.


Je 300 bis 500 Samen sind luftdicht in Aluminiumbeuteln verpackt.
Foto: Reuters/Stringer

Hafer in der Arktis
Nicht jeder kann Samen in die Arktis schicken. Nur langfristig agierende Genbanken, die ihre Nutzpflanzensamen an mindestens einem weiteren Ort sichern und für Zucht, Forschung und Bildung zur Verfügung stellen. Der Tresor ist ein Back-up, keine aktive Genbank, sondern ein langfristiges Sicherheitslager, da Genbanken grundsätzlich risikobehaftet sind. Die meisten Banken besitzen Samen aus mehreren Ländern, weshalb Samen aus fast jedem Land auf Spitzbergen gelagert sind. Als eine von aktuell 78 Banken lagert hier auch die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (Ages) Samen. Laut eigenen Angaben vor allem Weizen, Gerste und Hafer, aber auch Heil- und Gewürzkräuter.

Syrische Katastrophe
Eine Katastrophe erlebte die internationale Genbank International Center for Agricultural Research in the Dry Areas (Icarda) während des Syrischen Bürgerkrieges. Headquarter und Genbank lagen in Aleppo und wurden durch die Kriegswirren teilweise zerstört und unzugänglich. Rund 116.000 gesicherte Samenproben, die auch auf Spitzbergen gelagert waren, wurden dem arktischen Tresor entnommen, reproduziert und für den Aufbau neuer Einrichtungen in Marokko und im Libanon genutzt. Einige der Samen wurden bereits zurück nach Spitzbergen gebracht, auch mit der letzten Lieferung. "Beim Projekt Saatgut-Tresor kooperieren alle Länder, um die zukünftige Nahrungsproduktion für die globale Bevölkerung sicherzustellen", sagt Asdal, der auch bei der nächsten Tresoröffnung im Februar dieses Jahres wieder hier sein wird.
(Christina Rebhahn-Roither, 31.1.2020)
Die Arche Noah im ewigen Eis - derStandard.at
 
Oben