Neandertaler und danach - Geschichtsbuch der Steinzeit

josef

Administrator
Mitarbeiter
#1
„Geschichtsbuch der Steinzeit aufgeschlagen“

Vor rund 45.000 Jahren besiedelten die modernen Menschen Europa. Die Begegnung mit Neandertalern dürfte ihnen aber nicht gutgetan haben. Denn laut einer neuen Studie gibt es im Erbgut heutiger Europäer keine direkte Spur mehr von den allerersten Siedlern.

Bei rund 37.000 Jahre alten Vorfahren ist das hingegen sehr wohl der Fall. Das zeigt eine bisher einzigartige Untersuchung von Genomen, die von Fossilien 51 moderner Menschen in ganz Europa – von Russland bis Spanien - stammen. Das älteste von ihnen ist 45.000 Jahre, das jüngste 7.000 Jahre alt.

Das genetische Geschichtsbuch der Steinzeit ist somit aufgeschlagen, sagt Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena gegenüber science.ORF.at. „Das ist aber erst ein erster Entwurf. Wir kennen jetzt die Kapitel des Buchs, müssen den Text aber noch schreiben.“

Neandertaler-Anteil nimmt stetig ab
Dass die modernen Menschen vor rund 45.000 Jahren nach Europa kamen und dort auf die Neandertaler trafen, gilt heute als Konsens. Die Spuren dieses Aufeinandertreffens sind bis heute in unserem Erbgut zu sehen - so besagte vor Kurzem eine Studie, dass Teile unseres Immunsystems mit Neandertaler-Genen in Verbindung stehen.


Wie die aktuelle Arbeit zeigt, tragen die in Rumänien entdeckten, rund 40.000 Jahre alten Oase-Menschen noch zehn Prozent Neandertaler-Erbgut, so Johannes Krause. Im Lauf der Jahrtausende nimmt der Anteil aber immer weiter ab, sodass heutige Europäer nur noch zwei Prozent mit ihnen gemein haben.

Da es keine Hinweise für die Vermischung mit Menschengruppen ohne Neandertaler-DNA gibt, machen die Forscher die natürliche Selektion für den Rückgang verantwortlich. „Es scheint, dass viele genetische Varianten, die in den Neandertalern vorkamen, für den prähistorischen modernen Menschen nachteilig waren“, sagt der Studienhauptautor Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Das Kremser Wachtberg-Baby ist ein Bub
Das könnte auch der Grund sein, warum die Forscher keine Überbleibsel von modernen Menschen, die vor 45.000 bis 37.000 Jahren lebten, bei heutigen Europäern gefunden haben. Sie sind genetisch verschwunden – möglicherweise wegen ihrer geringeren Fitness.


Ab den 37.000 Jahre alten Funden ändert sich das: Alle untersuchten menschlichen Überreste aus dieser Zeit und danach sind zumindest teilweise Vorfahren von heutigen Europäern. Dazu zählen auch die spektakulären Funde auf dem Kremser Wachtberg. 2006 hatten Forscher dort zuerst eine Doppelbestattung zweier Neugeborener freigelegt und später ein weiteres, mehr als 30.000 Jahre altes Babygrab.

Im Rahmen der aktuellen Studie wurde nun die DNA des Babys untersucht und sein Geschlecht bestimmt. „Wir wissen jetzt, dass es ein Bub war, das hätte man anhand der morphologischen Merkmale nie erkennen können“, sagte die Anthropologin und Studienmitautorin Maria Teschler-Nicola vom Naturhistorischen Museum Wien gegenüber der APA. Der Neandertaler-Anteil Erbgut des Babys betrage 3,9 Prozent.

Brachten Natufier die Landwirtschaft?
Nach der letzten großen Eiszeit vor rund 20.000 Jahren, als der halbe Kontinent vergletschert war, erfolgte eine Wiederbesiedlung Europas – und zwar aus dem Südwesten, vermutlich von der iberischen Halbinsel aus, sagt Johannes Krause. Deren Vertreter seien der Magdalenien-Kultur zuzurechnen. „Spanien war vermutlich eine Art Refugium während der Eiszeit.“


Von der Einwanderungswelle danach habe man bisher nichts gewusst, sagt Krause, „das ist der größte Befund der neuen Studie“. Vor rund 14.000 Jahren – viel früher als bisher gedacht - kam es demnach zu einer massiven Einwanderung aus Südosteuropa oder dem Nahen Osten, die das Erbgut im gesamten Kontinent prägte. Oder – und diese Variante ist weniger wahrscheinlich - eine Menschengruppe verbreitete sich zu dieser Zeit etwa aus der Türkei ausgehend sowohl in Europa als auch im Nahen Osten.

„Interessant ist: Zu dieser Zeit ist im Nahen Osten die Kultur der Natufier entstanden“, sagt Krause. „Das war die erste Kultur, die einen relativ ortstreuen Lebensstil pflegt. Sie haben permanente Rundhäuser, betreiben zwar noch keine Landwirtschaft, sammeln aber wildes Getreide und backen vermutlich schon Brot.“

Möglicherweise breitete sich diese Kultur auch nach Europa aus und brachte erste rudimentäre Formen der Landwirtschaft mit sich – ob das stimmt, müssten DNA-Vergleiche mit Natufiern zeigen, meint Krause. „Das wird sich dank der fortgeschrittenen Techniken aber in ein paar Jahren beantworten lassen.“

Venus weit verbreitet
Auch ein kunstgeschichtliches Rätsel wurde mit den DNA-Analysen geklärt. Die Venus von Willendorf (NÖ) und eine in Kostenki (Russland) gefundene Figur sehen einander extrem ähnlich, und so dachten die Wissenschaftler bisher, dass sie von einer Population hergestellt wurden, die eben die 5.000 Kilometer Entfernung irgendwie zurückgelegt hat.


Doch genetisch waren die Menschen in den beiden Regionen damals völlig anders. „Es ist damals offensichtlich Kulturtransfer passiert, in diesem Fall sind also nicht die Menschen von hier nach dort gewandert, sondern ihr Wissen“, erklärt Maria Teschler-Nicola.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
„Geschichtsbuch der Steinzeit aufgeschlagen“ - science.ORF.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#2
Neandertaler aßen vor allem Fleisch
Neandertaler gelten als Fleischliebhaber. In den letzten Jahren verstärkten sich aber die Hinweise, dass sie auch gerne Gemüse aßen. Eine neue Studie zeigt nun: Auf dem Speiseplan unserer ausgestorbenen Verwandten stand tatsächlich vor allem Fleisch.
Das zeigen Analysen von Bindegewebsfasern aus den Zahnwurzeln zweier Neandertaler unterschiedlichen Alters, wie Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in einer Studie berichten.

Alternative Thesen
In Fachkreisen ist umstritten, wie sich die Verwandten der frühen Menschen genau ernährten. Traditionell gelten die Neandertaler zwar als Fleischfresser, die große Säugetiere jagten. Es gibt allerdings auch Belege dafür, dass sie Pflanzen aßen. Analysen der Stickstoffisotopen in ihren Zahnwurzeln lieferten außerdem mögliche Munition für alternative Thesen, wonach die Neandertaler etwa Fischfang betrieben, sehr lange gestillt wurden oder sogar als Kannibalen Jagd aufeinander machten.


Adeline Le Cabec
3-D-Rekonstruktion eines untersuchten Zahns

Durch sehr genaue Isotopenanalysen der Zahnwurzeln einer Neandertalerin und eines Neandertalersäuglings aus zwei Höhlen in Frankreich konnten die Leipziger Forscher diese Erklärungsansätze nach eigenen Angaben nun verwerfen. Diese ergaben, dass sich die Frau hauptsächlich von großen Landsäugetieren wie Rentieren und Pferden ernährte. Auch die Mutter des Babys aß in erster Linie Tierfleisch.

Für ihre Forschungen nutzten die Experten eine neue Methode (Compound Specific Isotope Analysis), mit der die Isotopenzusammensetzungen der verschiedenen Aminosäuren im Bindegewebe separat analysiert werden können. Da diese sich je nach Lebensweise teils unterschiedlich entwickeln, sind genauere Aussagen möglich.

science.ORF.at/AFP

Mehr zum Thema:
Publiziert am 18.02.2019
Neandertaler aßen vor allem Fleisch - science.ORF.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#3
Neandertaler wussten sehr wohl, wie man Feuer entfacht
Archäologische und geochemische Analysen aus Armenien lassen für Forscher kaum andere plausible Schlüsse zu

Die Indizien mehren sich, dass die Neandertaler ihre Lagerfeuer selbst entzündet haben.
Foto: REUTERS/Nikola Solic

Die Herrschaft über das Feuer ist keineswegs ein Vorrecht des modernen Menschen. Wie bereits frühere Funde erahnen ließen, dürfte zumindest auch der Neandertaler Feuer genutzt haben, um sich zu wärmen und Nahrungsmittel zu erhitzen. Ob Neandertaler allerdings Flammen auch selbst entfachen konnten, war bisher zwar vermutet, aber nicht eindeutig bewiesen worden. Ausgrabungen im heutigen Armenien lieferten nun jedoch neuerlich handfeste geochemische Belege dafür.

"Feuer war lange Zeit für eine Domäne des Homo sapiens gehalten worden, doch mittlerweile wissen wir, dass auch andere Menschenarten es entzünden konnten", sagt Daniel Adler von der University of Connecticut in Storrs. Der Anthropologe hat die entsprechenden Hinweise gemeinsam mit internationalen Kollegen in den Sedimenten der Höhlen von Lusakert im armenischen Hochland entdeckt.

Waldbrände als Quelle für Lagerfeuer?
Bisherige Studien, die Neandertalern den Umgang mit Feuer nachweisen konnten, ließen weitgehend offen, ob nicht Wald- und Buschbrände die Quelle dieses Feuers gewesen sein könnten. Immerhin stammten die entsprechenden Funde aus Regionen und Jahreszeiten, wo natürliche, etwa durch Blitzschlag ausgelöste Brände eine durchaus häufige Erscheinung gewesen sein dürften. Allerdings gibt es chemische Möglichkeiten, um herauszufinden, wie ein Feuer Zustande kam – und diese nutzten nun die Forscher um Adler.

Kritische Komponenten dieser Untersuchungen sind sogenannte polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH), die frei werden, wenn organisches Material verbrannt wird. Diese Substanzen kommen in zwei Varianten vor: Leichte PAHs verteilen sich häufig über weite Regionen, während schwere PAHs in der Regel ganz in der Nähe des Brandherdes verbleiben.

Feuernutzung über Jahrtausende hinweg
Adlers Team interessierte sich vor allem für letztere. In insgesamt 18 Sedimentschichten der armenischen Lusakert-Höhle 1 fanden die Forscher umfangreiche Spuren der schweren polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffe. Die untersuchten Schichten entsprechen etwa einer Zeitspanne von 60.000 bis 40.000 Jahren vor heute. Damit lagen immerhin Belege dafür vor, dass in all diesen Jahrtausenden in der Höhle Feuer brannten. Aber vielleicht holten sich die Neandertaler dieses Feuer ja auch von Waldbränden aus der Region.

Um herauszufinden, ob dem tatsächlich so war, suchten die Wissenschafter nach Spuren von leichtem PAH in der näheren und weiteren Umgebung. Außerdem hielten sie Ausschau nach archäologischen Hinweisen auf natürliche Brände, die außerhalb der Höhle gewütet haben könnten. Was sie dabei fanden, wies letztlich darauf hin, dass Waldbrände in der Region in den entsprechenden Zeiträumen vergleichsweise selten auftraten. Isotopen-Analysen untermauerten diesen Befund: Nichts deutete auf besonders häufig vorkommende trockene, feuer-freundliche Umweltbedingungen hin.

Unabhängig von natürlichen Bränden
"Wir entdeckten keine Anzeichen für eine Verbindung zwischen den durchschnittlichen paläoklimatischen Bedingungen und geochemischen Belegen für natürliche Brände", sagt Michael Hren, Koautor der im Fachjournal "Scientific Reports" erschienen Studie. Mit anderen Worten: Alles deutet darauf hin, dass die Neandertaler dieser Region und Zeitperiode völlig unabhängig von der natürlichen Verfügbarkeit von Brandherden ihre Feuer meisterten.

Eine große Überraschung ist das freilich nicht: Diese nahen Verwandten des modernen Menschen demonstrierten ihre Fähigkeiten zu abstraktem Denken in vielerlei Hinsicht. So zeigt sich dies etwa in ihren Höhlenmalereien, vermutlich stellten sie sogar Schmuckstücke her. Neandertaler bestatteten ihre Toten, produzierten Klebstoff und nutzten für die Jagd hochentwickelte Wurfwaffen. Was aber wohl am schwersten wiegt: Neandertaler schafften es, in Eurasien unter widrigen klimatischen Bedingungen über 360.000 Jahre zu überleben. Für die Wissenschafter erscheint es unwahrscheinlich, dass ihnen dies gelang, ohne die Fähigkeit, Feuer zu machen.
(tberg, 1.11.2019)

Abstract
Nachlese
Neandertaler wussten sehr wohl, wie man Feuer entfacht - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#4
Forscher rätseln schon lange, warum Homo neanderthalensis ausgestorben ist
Eine Studie zeigt, dass das Klima und unsere vorfahren womöglich unschuldig waren

Zu wenige, zu isoliert: Die Neandertaler waren womöglich schon stark gefährdet, als die modernen Menschen nach Europa einwanderten.
Foto: Petr Kratochvil

Es ist gerade einmal 45.000 Jahre her, da war Homo sapiens noch nicht die vorherrschende Menschenart in Europa. Homo neanderthalensis, der Neandertaler, lebte etwa 400.000 Jahren auf dem Kontinent – weit länger als moderne Menschen. Er war robust, intelligent, geschickt und hatte sich gut an seine Umwelt angepasst. Doch dann ging es schnell bergab: Vor etwa 30.000 Jahren waren die Neandertaler verschwunden. Übrig geblieben ist von dieser einst erfolgreichen Art nur ein kleiner Prozentsatz ihrer DNA, die sich im Erbgut heutiger Europäer und Asiaten findet.

Warum starben diese Menschen aus? Dafür gibt es viele mögliche Erklärungen, die unter Forschern kontrovers diskutiert werden. Dass eine katastrophale Epidemie dahinter steckte, gilt inzwischen als unwahrscheinlich – die Neandertaler verschwanden nicht schlagartig, sondern über einen Zeitraum von etwa 10.000 Jahren. Eine nach wie vor prominente These schreibt unseren Vorfahren eine Mitverantwortung zu: Denn das Verschwinden der Neandertaler fällt mit der Ankunft und zunehmenden Ausbreitung der modernen Menschen zusammen.

Eine weitere Vermutung ist, dass das Aussterben der Neandertaler mit klimatischen Veränderungen zusammenhängen könnte. War die Ernährungsweise dieser Menschen zu unflexibel, um ihren Fortbestand in Kältephasen zu sichern?

Populationsmodelle
Forscher um Krist Vaesen von der Technischen Universität Eindhoven bringen einen neuen Denkanstoß in die Debatte ein: Sie zeigen in einer Studie im Fachblatt "Plos One", dass die Neandertaler vielleicht einfach demografisches Pech hatten: Womöglich reichten zu geringe Populationsgrößen sowie natürliche Fluktuationen der Geburtenrate und Geschlechterverteilung schon aus, um den Untergang zu besiegeln. "Das Hauptergebnis unserer Studie ist, dass moderne Menschen nicht für das Verschwinden der Neandertaler nötig waren. Es ist definitiv möglich, dass sie einfach nur Pech hatten", sagte Vaesen.

Genetische und archäologische Daten weisen darauf hin, dass bei der Ankunft der modernen Menschen in Europa noch zwischen 10.000 und 70.000 Neandertaler lebten – allerdings in kleinen, weitgehend voneinander isolierten Populationen. Für ihre Studie simulierten Vaesen und Kollegen mögliche Populationsentwicklungen unter verschiedenen Szenarien. Dabei gingen sie von unterschiedlich großen Ausgangspopulationen aus – von 50, 100, 500, 1.000 oder 5.000 Individuen pro Gruppe.

Dann modellierten sie die Auswirkungen möglicher negativer Einflussfaktoren auf diese Populationen: Erstens Inzucht, zweitens zufallsbedingte Faktoren, die jährliche Geburten, Todesfälle und das Geschlechterverhältnis beeinflussen, und drittens den sogenannten Allee-Effekt. So bezeichnet man in der Populationsbiologie das Phänomen, dass die Populationsgröße bzw. -dichte mit der Fitness der einzelnen Individuen korreliert. Bei kleinen Populationen steigt demnach das Aussterberisiko ab einem kritischen Punkt signifikant.

Schleichende Katastrophe
Das Ergebnis: Inzucht allein hätte nur zu einem Zusammenbruch der kleinsten Populationen geführt. In Kombination mit dem Allee-Effekt könnte es aber bereits kritisch geworden sein: Durch diese beiden Faktoren könnten Populationen mit 1.000 Individuen zusammengebrochen sein. Zusammen mit ungünstigen zufälligen Fluktuationen, etwa Geburtenrückgänge oder steigende Todesraten in einzelnen Jahren, könnten dadurch über einen Zeitraum von 10.000 Jahren alle simulierten Populationen ausgestorben sein.

Vaesen und Kollegen behaupten nicht, das Schicksal der Neandertaler damit endgültig aufgeklärt zu haben. Sie wollen aber eine neue Sicht in die Debatte einbringen: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Verschwinden der Neandertaler allein an der Größe ihrer Populationen gelegen haben könnte. Selbst wenn sie den modernen Menschen in kognitiver, sozialer und kultureller Hinsicht nicht unterlegen waren und nicht in direkter Konkurrenz mit ihnen standen, waren sie einem erheblichen Aussterberisiko ausgesetzt." Das sei mit Blick auf die Erdgeschichte auch nicht weiter ungewöhnlich, so Vaesen: "Arten sterben aus, das ist ein natürlicher Prozess."
(David Rennert, 26.12.2019)

Abstract
Plos One: "Inbreeding, Allee effects and stochasticity might be sufficient to account for Neanderthal extinction"

Weiterlesen
Wie Neandertaler-Gene unser Gehirn beeinflussen
Der verblüffend simple Superkleber der Neandertaler
Altes Neandertaler-Erbgut weist auf unbekannte Population hin

Forscher rätseln schon lange, warum Homo neanderthalensis ausgestorben ist - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#6
So begruben die Neandertaler ihre Toten

1582048153810.png
Das Image vom plumpen, etwas dümmlichen Neandertaler bröckelt seit einiger Zeit. Funde im „Blumengrab von Shanhidar“, einer Ausgrabungsstätte im Irak, liefern neue Belege. Die Urmenschen bestatteten dort Tote.
Auf Facebook teilen Auf Twitter teilen
Die Höhle von Shanhidar liegt in der autonomen Provinz Kurdistan, etwa 400 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad. In den 1950er Jahren entdeckten Ralph Soleicki und sein Team dort die Überreste von zehn Neandertalern – von Männern, Frauen und Kindern. Der US-Archäologe war schon damals überzeugt, dass zumindest einige der Urmenschen vor ungefähr 50.000 Jahren gezielt begraben worden und nicht erst – z. B. durch Steinschlag – in der Höhle zu Tode gekommen waren.
Ralph Solecki
Ralph Soleckis Ausgrabungsteam in den 1950er Jahren

Bekannt wurde die Ausgrabungsstätte auch als „Blumengrab von Shanidar“ – in der Nähe der Toten gefundene Pollenüberreste von Schafgarbe, Kornblumen und anderen Pflanzen könnten nämlich von Blüten stammen, die bei der Bestattung gezielt hinterlassen worden waren. Soleickis These von den ersten „Blumenkindern“ blieb zwar umstritten. Denn die Samen könnten genauso gut durch Tiere oder Überschwemmungen ins Erdreich gelangt sein.

Die Funde lieferten aber einen wesentlichen Anstoß, das Image des Neandertalers – als nicht sehr hellen, mehr tierischen als menschlichen Zeitgenossen des modernen Menschen – neu zu überdenken. Analysen der Überreste von Shanidar haben unter anderem ergeben, dass sich der vermeintliche „Rohling“ um beeinträchtigte und verletzte Angehörige kümmerte. Seit den damaligen Ausgrabungen wurde zunehmend klarer, dass der Neandertaler uns ähnlicher ist als lange angenommen. Auch mehrten sich die Hinweise, dass er Verstorbene tatsächlich rituell begraben haben muss, das zeigen z. B. Belege aus Frankreich.

Überraschender Fund
Zur genaueren Untersuchung hatte Solecki einen Teil der in Shanidar gefundenen Individuen ins Museum nach Bagdad transferieren lassen; am Fundort selbst wurde erst mehr als 50 Jahre später erneut gegraben. 2011 hatte die kurdische Regionalregierung ein neues Projekt initiiert, das aufgrund der politischen Unruhen dann erst 2015 starten konnte. Ziel waren neue Analysen der Höhle und die exaktere Datierung der alten Ausgrabungen.

Völlig überraschend stießen die Forscherinnen und Forscher um Emma Pomeroy von der britischen University of Cambridge 2015 und 2016 einige Meter unter dem Höhlenboden auf weitere Knochen, unter anderem ein Bein. Sie stammen von einem 40- bis 50-jährigen Mann. „Mit etwas Glück werden wir die exakte Ausgrabungsstätte von damals wiederfinden, dachten wir. Wir hatten nicht erwartet, Knochen zu finden“, erklärt Koautor Graeme Barker in einer Aussendung zu der nun in der Fachzeitschrift „Antiquity“ erschienenen Studie.

Graeme Barke
Die 2018 in der Shanidar Höhle gefundenen Überreste eines Schädels

2017 wurde das Team etwas tiefer noch einmal fündig und entdeckte unter anderem Rippen, Lendenwirbel und Teile einer Hand. 2018 wurden dann noch ein Torso und die zerbröselten Reste eines Kopfes freigelegt. Die linke Hand lag wie ein Polster unter der Wange, dahinter ein dreieckiger Stein. Der oder die mittelalte bis alte Erwachsene ist ersten Analysen zufolge 70.000 Jahre alt. Das Geschlecht ließ sich noch nicht bestimmen.

Spezielle Position
Laut den Forscherinnen und Forschern war das Individuum „Shanidar Z“ vermutlich auf den Rücken gelegt worden, Schultern und Kopf angehoben durch den Stein, der Kopf zur linken Seite geneigt und abgelegt auf der Hand. Diese Körperhaltung unterscheidet sich von den Funden aus den 1950ern. Deren Position ähnelte der eines Fötus.
Emma Pomeroy

Die spezielle Ausrichtung des Leichnams sei jedenfalls eines von vielen neuen Indizien, dass es sich um eine Bestattung mit Absicht gehandelt habe, schreiben die Autorinnen und Autoren. Außerdem hätten sich die körperlichen Überreste in einer Art natürlichem Kanal im Boden der Höhle befunden, den die Neandertaler anscheinend noch zusätzlich vertieft hatten.

Steinschlag als Todesursache hält das Team für recht unwahrscheinlich, da die Funde aus einer klimatisch sehr milden Periode stammen, in der sich die Urmenschen vermutlich nicht dauerhaft tief im Berg aufhielten. Es sei anzunehmen, dass derselbe Ort immer wieder für Begräbnisse genutzt wurde.

Offen bleibt vorerst, ob pflanzliche Überreste rein zufällig in der Höhle gelandet sind oder tatsächlich eine wichtige Rolle bei den Bestattungsritualen gespielt haben. Weitere Laboranalysen der neuen Ausgrabungen sollen nun noch mehr Klarheit zu Leben und Sterben der Neandertaler bringen und so das Bild des Urmenschen noch genauer machen.
18.02.2020, Eva Obermüller, science.ORF.at

Mehr zum Thema
So begruben die Neandertaler ihre Toten
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#7
1584562348003.png
Europäische Neandertaler wanderten nach Sibirien aus
Forscher rekonstruieren eine prähistorische Migrationswelle, die sich über mehrere Generationen hingezogen haben muss


Forscher untersuchen die Neandertaler-Hinterlassenschaften in der Chagyrskaya-Höhle.
Foto: K. Kolobova/Institute of Archeology and Ethnography of the Siberian Branch of the RAS

Europa mag zwar das Kernland des Neandertalers gewesen sein, sein Verbreitungsgebiet erstreckte sich aber auch über Kleinasien, die Levanteküste und im Osten bis weit nach Zentralasien hinein. Dort, in Südsibirien, lebten mindestens zwei verschiedene Neandertaler-Gruppen, wie die Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) berichtet. Und eine davon war aus Osteuropa eingewandert.

Wann und woher die sibirischen Neandertaler konkret kamen, war bislang ungeklärt. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des FAU-Archäologen Thorsten Uthmeier hat nun Werkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle im russischen Teil des Altai-Gebirges untersucht, um der Frage nachzugehen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (PNAS) veröffentlicht.

Zug nach Osten
Nachdem das Team zunächst festgestellt hatte, dass die Steinwerkzeuge aus der Höhle keiner der zeitgleich im Altai bestehenden Gruppen ähneln, suchten die Forscher in größeren Entfernungen nach Vergleichsfunden. Geometrisch-morphologische Analysen von 3D-Modellen der gescannten Werkzeuge zeigten, dass die Werkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle stark Artefakten des sogenannten Micoquien ähneln, einer Neandertaler-Kultur aus Mittel- und Osteuropa mit charakteristischer Steinwerkzeug-Industrie. Dies dürfte also der Ursprung dieser Population sibirischer Neandertaler gewesen sein.
Anhand von DNA-Analysen an Neandertalerknochen und Sedimenten aus der Chagyrskaya-Höhle konnten die Forscher den Ausbreitungsweg dieser Neandertaler rekonstruieren: Der Weg führte sie aus Mittel- und Osteuropa über mehrere Generationen hinweg über Kroatien und den Nordkaukasus bis in den Altai. Diese Migrationswelle hat laut FAU vor etwa 60.000 Jahren stattgefunden.

Mehrere Wellen
Die DNA-Analysen zeigten aber auch, dass sich die Neandertaler der Chagyrskaya-Höhle genetisch von einer zweiten Altai-Gruppe aus der Denisova-Höhle deutlich unterscheiden. Berühmt wurde diese Höhle durch die Fossilien des nach ihr benannten Denisova-Menschen, doch hat sie im Lauf der Zeit verschiedenen Menschenarten Unterschlupf geboten. Die dortigen Neandertaler scheinen aber keine Werkzeuge des Micoquien gekannt zu haben. Daher geht das Forschungsteam von einer mehrfachen Ausbreitung von Neandertalern nach Sibirien aus.
(red, 18. 3. 2020)

Abstract
PNAS: "Archaeological evidence for two separate dispersals of Neanderthals into southern Siberia"

Europäische Neandertaler wanderten nach Sibirien aus - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#8
Wurde es in Europa für die Neandertaler zu kalt?
Über die Gründe für das Verschwinden unserer nächsten Verwandten spekulieren Forscher seit Jahrzehnten. Nun gibt es eine neue Spur

Neandertaler waren zwar die ersten Menschen, die Kleidung und Felle herstellten. Und sie wussten auch mit dem Feuer umzugehen. Dennoch dürften sie mehr unter der Kälte gelitten haben als der moderne Mensch.
Illustration: JPL/NASA

Köln/Wien – Die Frage beschäftigt Archäologen und Anthropologen heute mehr als je zuvor: Warum starb der Neandertaler aus, während sich der moderne Mensch vor gut 40.000 Jahren in Europa auszubreiten begann? Spekulationen über die Gründe für das Aussterben unserer nächsten Verwandten gibt es zuhauf. Doch ob sich der Grund ihres Untergangs je mit Gewissheit klären lassen wird?

An kreativen Ideen der Wissenschaft mangelt es jedenfalls nicht: So haben Forscher zuletzt unter anderem begonnen, Minihirne mit einem Neandertaler-Gen zu züchten, um aufgrund dieser stecknadelkopfgroßen Organoide Rückschlüsse auf das geistige Vermögen der um einiges älteren Menschengruppe zu ziehen, wie auch der STANDARD berichtete.

Das Klima vor gut 40.000 Jahren
Einen anderen Weg schlug Michael Staubwasser (Uni Köln) mit einem internationalen Forscherteam ein: Der Umweltisotopengeochemiker und seine Kollegen rekonstruierten anhand von Tropfsteinen aus einer Höhle in Rumänien die Klimaentwicklung für die Zeit vor 440.000 bis 40.000 Jahren und verglichen diese Daten mit den bekannten Neandertalerartefakten aus dieser Epoche.


Forscher in der fast 20 Kilometer langen Tăușoare-Höhle in den östlichen Karpaten in Rumänien. Isotopenanalysen der Stalagmiten in der Höhle halfen, die Kältezeiten vor mehr als 40.000 Jahren in Mitteleuropa zu rekonstruieren.
Foto: Crin Theodorescu

Die Hypothese: Womöglich trugen die damals einsetzenden Kälteperioden, die zum Teil einige Jahrhunderte lang dauerten, doch mehr zum Ende der Neandertaler bei als gedacht.

Bisher war die Forschung in der Frage eher skeptisch, denn Funde zeigen zum einen, dass die Neandertaler als erste Menschengruppe Kleidung herstellten und wohl auch schon Felle bearbeiteten. Zum anderen deuten bestimmte anatomische Besonderheiten – wie eine eher große Nase zum Vorwärmen der Luft – auf eine gute Anpassung an das damals kältere Klima hin. Außerdem kamen die wirklich kalten Phasen der Eiszeit erst nach dem Aussterben der Neandertaler.

Rückgang an Neandertalerfunden
Doch was Staubwasser und seine Kollegen nun im Fachblatt "PNAS" an Fakten zusammengetragen haben, gibt der These wieder Auftrieb, dass die Neandertaler vor gut 40.000 Jahren doch stärker unter der Kälte gelitten haben dürften als angenommen. Zunächst konnten die Forscher nämlich ermitteln, dass es im Untersuchungszeitraum zwei bis drei Kältephasen (sogenannte Stadiale) mit besonders kaltem und trockenem Klima gab. Und für diese Perioden (konkret: die Stadiale GS10, 11 und 12), die mehrere Jahrhunderte dauerten, lässt sich auch ein dramatischer Rückgang an Neandertalerartefakten beobachten.

Staubwasser und seine Kollegen gehen deshalb davon aus, dass es in diesen Phasen zu einem starken Schwund der Neandertalerpopulationen in Europa gekommen sein dürfte. Konkret vermuten die Wissenschafter, dass die sehr fleischlastigen Nahrungsgewohnheiten der Neandertaler in den Kältephasen zu Problemen führten, während sich unsere Vorfahren zusätzlich auch von Pflanzen und Fisch ernährten – und dadurch einen entscheidenden Überlebensvorteil hatten.
(Klaus Taschwer)

Abstract der Originalpublikation
Wurde es in Europa für die Neandertaler zu kalt? - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#9
Neandertaler starben in Süditalien nicht wegen der Kälte aus
Klimaschwankungen galten bisher als möglicher Grund für das Verschwinden der Neandertaler. Tropfsteine zeigen, dass das für Apulien nicht der Fall war
Innsbruck/Wien – Jahrtausende lang führten der Neandertaler und der moderne Mensch in zwischen Europa und Zentralasien eine Koexistenz, die teilweise auch gemeinsam Nachkommen hervorbrachte. Warum die Neandertaler schließlich vor etwa 42.000 Jahre verschwanden, ist bis heute Gegenstand von Diskussionen. Klimaschwankungen, mit denen die Neandertaler auf Dauer nicht zurecht kamen, galten bisher als möglicher Grund dafür. Das konnte nun zumindest für Süditalien ausgeschlossen werden: Im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" berichtet ein Forscherteam mit Innsbrucker Beteiligung von Tropfstein-Analysen, die belegten belegt, dass das Klima dort vor etwa 40.000 Jahren stabil war.


Ein außergewöhnlicher Tropfstein in der Höhle Pozzo Cucù in der Region Apulien liefert Erkenntnisse über das Klima während der Ära, als als moderner Mensch und Neandertaler koexistierten.
Foto: O. Lacarbonara

Neandertaler-Schwund während Kälteperioden
Unter der Fülle von Hypothesen zum Aussterben der Neandertaler wird der rasche Klimawandel während des Übergangs vom Mittel- zum Jungpaläolithikum als einer der wichtigsten Faktoren angesehen. So zeigten etwa vor zwei Jahren deutsche Forscher anhand von Stalagmiten aus zwei rumänischen Höhlen, dass es vor etwa 44.000 und vor 40.000 Jahren extreme Kälteperioden gab und diese mit Zeiträumen zusammenfallen, aus denen keine Neandertaler-Nachweise bekannt sind. Sie schlossen daraus, dass während der Kältephasen – die stets auch mit großer Trockenheit einhergingen – die Neandertaler-Population erheblich zurückging.

Für einen großen Lebensraum der Neandertaler, die Region Apulien in Süditalien, konnten die neuen Erkenntnisse diese Hypothese nicht bestätigen: "Dort herrschten im Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum stabile Klima- und Umweltbedingungen", erklärte Christoph Spötl vom Institut für Geologie der Universität Innsbruck. Das fanden die Forscher um den Geologen Andrea Columbu von der Universität Bologna (Italien) mit Hilfe eines etwa 70 Zentimeter langen Stalagmiten heraus, den Columbu in der Höhle Pozzo Cucu südöstlich von Bari gefunden hat.

Einzigartiges Klimaarchiv
Tropfsteine können als Klimaarchiv genutzt werden. Die Stalaktiten und Stalagmiten wachsen über Tausende Jahre in Höhlen, schließen dabei verschiedene Elemente wie Kohlenstoff, Sauerstoff oder Uran ein und zeichnen somit die Klima- und Umweltbedingungen sowie deren Veränderungen auf. Mithilfe geochemischer Untersuchungen können die Wissenschafter diese Informationen auslesen.


Zumindest in Süditalien hatten Neandertaler, als sie dort mit modernen Menschen gleichzeitig lebten, nicht mit der Kälte zu kämpfen.
Foto: APA / AFP / Marco Bertorello

Der von Columbu entdeckte Tropfstein wurde vor 106.000 bis 27.000 Jahren abgelagert, ein überaus langer Zeitraum. "Mir ist in Europa kein anderes Beispiel bekannt, wo ein Tropfstein über so einen langen Zeitraum durchgehend gewachsen ist", erklärte Spötl. Der Stalagmit lieferte robuste Klimadaten für diese für die Menschheitsgeschichte interessante Phase.

Andere Faktoren
Während der ersten 50.000 Jahre des Stalagmitwachstums gab es demnach große Klimaschwankungen. Die Daten für den jüngeren Abschnitt des Tropfsteins zeigten aber ein anderes Bild: "Apulien war im Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum, als moderne Menschen und Neandertaler gleichzeitig dort lebten, von keinen starken Klimaschwankungen betroffen. Mit anderen Worten: Das Klima spielte in dieser Region keine Schlüsselrolle für das Aussterben der Neandertaler, hier müssen andere Faktoren als Ursache gefunden werden", so Spötl.
(red, APA, 11.7.2020)

Abstract
Nature Ecology & Evolution: "Speleothem record attests to stable environmental conditions during Neanderthal – modern human turnover in southern Italy."

Neandertaler starben in Süditalien nicht wegen der Kälte aus - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#10
Klimaumschwung löste bei Neandertalern technologischen Wandel aus
Forscher untersuchten Keilmesser, wie sie für die letzte Phase der Neandertaler-Ära typisch waren
Die Neandertaler bevölkertem Europa vor etwa 400.000 bis 40.000 Jahren und erlebten in diesem Zeitraum so manchen Wechsel zwischen warmen und bitterkalten Klimaphasen. Besonders eisige Phasen während der Weichsel-Kaltzeit begannen vor mehr als 60.000 Jahren und führten zu einer Verknappung der natürlichen Ressourcen, wie die Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) berichtet. Um zu überleben, mussten die Neandertaler mobiler sein als zuvor – und ihre Werkzeuge anpassen.

Die Neandertaler hatten schon lange Werkzeuge aus Holz und glasartigen Gesteinsmaterialien hergestellt, die sie zum Teil auch kombinierten, um etwa einen Speer mit einer scharfen und zugleich harten Spitze aus Stein zu versehen. Ab etwa 100.000 Jahre vor der heutigen Zeit war ihr Universalwerkzeug zum Schneiden und Schaben dann ein Messer aus Stein, bei dem der Griff bereits durch eine stumpfe Kante am Stück selber angelegt war. Solche sogenannten "Keilmesser" gab es in verschiedenen Formen.


Produktion aus Neandertalerhänden: ein einfaches Messer mit Rücken (oben rechts) und verschiedene Keilmesser aus der Zeit vor 60.000 bis 44.000 Jahren.
Foto: D. Delpiano, UNIFE

"Keilmesser sind eine Reaktion auf die hochmobile Lebensweise während der ersten Hälfte der letzten Eiszeit. Sie ermöglichten durch Nachschärfen eine lange Nutzung und waren gleichzeitig ein Universalwerkzeug – fast wie ein Schweizer Survivalmesser", sagt Thorsten Uthmeier von der FAU.

Zusammen mit Davide Delpiano von der Università degli Studi di Ferrara untersuchte er mit der digitalen Analyse von 3D-Modellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Messerformen. Die beiden Wissenschafter griffen dafür auf Artefakte aus einer der wichtigsten Neandertaler-Fundstellen in Mittel-Europa zurück, der Sesselfelsgrotte in Niederbayern. In der Grotte wurden bei Ausgrabungen über 100.000 Artefakte und unzählige Jagdbeutereste des Neandertalers gefunden.

Lange Haltbarkeit war Trumpf
"Das technische Repertoire bei der Herstellung der Keilmesser ist nicht nur ein direkter Beweis für die hohen planerischen Fähigkeiten unserer ausgestorbenen Verwandten, sondern zugleich eine strategische Reaktion auf die Einschränkungen, die ihnen durch die Widrigkeiten der Natur auferlegt wurden", sagt Uthmeier – Widrigkeiten, die den Neandertalern das sich abkühlende Klima bescherte.

Laut den Forschern ahmten die Neandertaler wahrscheinlich die Funktionalität von unifazialen – also einseitig gestalteten – Messern mit Rücken nach und entwickelten auf dieser Grundlage die auf beiden Seiten behauenen, bifazial geformten Keilmesser. Beide Messerarten – die älteren einfachen und die neu hinzukommenden, deutlich komplexeren Keilmesser – hatten offensichtlich die gleiche Funktionalität. Der wichtigste Unterschied ist die höhere Lebensdauer von Bifazial-Werkzeugen. Keilmesser repräsentieren laut den Forschern daher ein "Hightech-Konzept" für ein langlebiges, multifunktionales Werkzeug, das ohne weitere Zusatzausstattung wie etwa einem Griff aus Holz benutzt werden konnte.
(red, 1. 9. 2020)

Link
Plos One: "Techno-functional and 3D shape analysis applied for investigating the variability of backed tools in the Late Middle Paleolithic of Central Europe"

Klimaumschwung löste bei Neandertalern technologischen Wandel aus - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#11
Der Neandertaler verschwand im Norden früher als gedacht
Verfeinerte Radiokarbonmethode ergab, dass Neandertaler in Nordeuropa viel früher ausgestorben sind als gedacht
Wann der Neandertaler ausstarb und warum er überhaupt neben dem modernen Menschen nicht bestehen konnte, ist nach wie vor nicht im Detail geklärt. Dabei ist der Zeitpunkt des Aussterbens der Neandertaler auch wesentlich für die Beurteilung ihrer Fähigkeiten. Wichtige Anhaltspunkte zur Verbreitung des nahen Verwandten von Homo sapiens lieferte nun die Studie eines Forscherteams aus Großbritannien, Deutschland und Belgien.
Die Wissenschafter kamen im Fachjournal "Pnas" zu dem Schluss, dass der Neandertaler in Nordeuropa deutlich früher ausgestorben ist als bisher angenommen. Die genauen Analysen von Knochen, die einigen der letzten Neandertaler im Norden des Kontinents zugeschrieben werden, lassen darauf schließen, dass diese bis zu 20.000 Jahre älter sind, als frühere Untersuchungen ergeben hatten.


Teile des Ober- und ein halber Unterkiefer eines Neandertalers aus der belgischen Spy-Grotte.
Foto: RBINS

Neudatierung mit überraschendem Ergebnis
Die Autoren datierten die Knochen aus der Spy-Grotte in Belgien mit der altbekannten Radiokarbonmethode, allerdings nahmen sie es mit der Aufbereitung des Probenmaterials besonders genau. Sie befürchteten, dass frühere Untersuchungen durch Beimischungen von Fremd-DNA kompromittiert worden sein könnten. So ergab beispielsweise eine Gensequenzierung, dass der Schulterknochen eines Neandertalers, der bisher auf ein Alter von 28.000 Jahren geschätzt wurde, stark mit Rinder-DNA verunreinigt war. Das Fundstück war offenbar durch einen aus Rinderknochen hergestellten Leim haltbar gemacht worden.

Die Radiokohlenstoffmethode, auch bekannt als C14-Datierung, basiert auf dem Umstand, dass der Anteil des Kohlenstoff-Isotops C14 in der Atmosphäre weitgehend konstant bleibt, das selbe gilt auch für lebende Organismen. Stirbt jedoch die Pflanze oder das Tier, wird vom Stoffwechsel kein neues C14 nachgeliefert und der Anteil des Isotops gegenüber C12 nimmt durch radioaktiven Zerfall ab. Die Halbwertszeit von C14 beträgt rund 5.730 Jahre.

Aminosäuren deckten Diskrepanz auf
Beim Analysieren des C12/C14-Verhältnisses der Probe, im Fall der Neandertaler sind es organische Kollagenreste, besteht freilich immer die Gefahr, dass sich Fremdmaterial eingeschlichen hat, das die Messungen verfälscht. Um also sicher zu gehen, dass sie es tatsächlich mit Neandertaler-Kollagen zu tun hatten, haben die Forscher um Thibaut Deviese von der britischen Universität Oxford und der Universität Aix-Marseille in Südfrankreich ganz genau hingesehen.

"Mit unserer Methode sind wir noch einen Schritt weiter gegangen", sagte Deviese. Die Wissenschafter suchten nach ganz charakteristischen Bausteinen von Kollagen, Aminosäuren, von denen sie sicher sein konnten, dass sie einst Teil des Neandertaler-Gewebes waren. Die entsprechende Vorbereitung der Probe ergab dann bei der eigentlichen Messung auch wirklich eine große Diskrepanz zu früheren Untersuchungen: Die Knochen sind demnach offenbar zwischen 40.600 und 44.200 Jahr alt – bisher waren sie um rund 24.000 Jahre jünger datiert worden.

Zweifel an bisherigen Schlüssen
Zusätzlich analysierten die Wissenschafter Knochenfunde aus den belgischen Grabungsorten Fonds-de-Foret und Engis nach ihrer Methode und stellten ein ähnliches Alter wie in Spy fest. "Die Datierung ist entscheidend in der Archäologie", betonte Koautor Tom Higham von der Universität Oxford. "Ohne einen zuverlässigen Rahmen für die Chronologie, können wir uns nicht wirklich sicher sein bei den Erkenntnissen zur Beziehung zwischen Neandertaler und Homo sapiens."

So könnten etwa Werkzeuge, die dem Neandertaler zugeschrieben wurden, doch nicht von ihm, sondern von weiter entwickelten Verwandten benutzt worden sein. Die Studienautoren forderten auf Basis ihrer Daten jedenfalls eine entsprechende Überprüfung dieser Funde.
(red, 14.3.2021)

Abstract
Links
Der Neandertaler verschwand im Norden früher als gedacht
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#12
NEUE FUNDE
Neandertaler-Skelette in italienischer Höhle entdeckt
Am Circeo-Berg entdeckten Forschungsteams Überreste von neun weiteren Frühmenschen
Forschen, wo andere Urlaub machen: Das funktioniert an der anthropologischen Grabungsstätte in der italienischen Guattari-Höhle, die unweit des Westküstenstrands zwischen Rom und Neapel liegt. Hier wurde immerhin schon im Jahr 1939 ein Neandertaler-Schädel gefunden. In der Gemeinde – San Felice Circeo – befindet sich in einem Türmchen im Ortszentrum ein kleines Museum, das über die Geschichte des Homo sapiens informiert.
Seit 2019 finden hier wieder Grabungen statt. Ihre Ergebnisse können sich sehen lassen: Skelettreste von neun Neandertalern wurden nun entdeckt, wie das italienische Kulturministerium berichtet. "Es ist eine außergewöhnliche Entdeckung, von der die ganze Welt sprechen wird", zeigt sich Kulturminister Dario Franceschini enthusiastisch.


Schädel- und Knochenfragmente sorgen unter italienischen Forschenden für Begeisterung
.Foto: Emanuele Antonio Minerva/AP

Acht der Urmenschen dürften zwischen 50.000 und 68.000 Jahre alt sein. Eine der Personen könnte sogar vor 100.000 Jahren jagend und sammelnd durch die Küstenregion im heutigen Latium gestreift sein.

Hinweise auf gekochtes Fleisch
An den neuen Untersuchungen waren unter anderem Forschende von der römischen Universität Tor Vergata beteiligt. Sie drangen in bisher unbekannte Zonen der Höhle vor und untersuchten umliegende Außenbereiche. Neben den Schädelresten und Knochenteilen der Höhlenmenschen wurden auch Spuren urzeitlicher Tiere und Pollen analyisert. So wollen die Paläontologie-Kundigen einen Eindruck davon bekommen, wie die Lebenswelt der Frühmenschen aussah und weshalb sie vor rund 40.000 vermutlich ausstarben.

"Die Entdeckung von Holzkohle und verbrannten Tierknochen bestätigt tatsächlich die Hypothese des Vorhandenseins eines richtigen Herdes", hieß es in der Mitteilung. Durch den Fund von Tierknochen, etwa von Elefanten, Höhlenbären, Wildpferden und Auerochsen, können die Fachleute die Umwelt und das damalige Klima allmählich rekonstruieren.
(sic, APA/DPA, 8.5.2021)

Nachlese
Neandertaler-Skelette in italienischer Höhle entdeckt
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#13
Außergewöhnliches Neandertaler-Artefakt in deutscher Höhle entdeckt
Forscher stießen in der Einhornhöhle im Harz auf den 51.000 Jahre alten Fußknochen eines Riesenhirschs, der von Neandertalern verziert wurde
Längst ist das im 19. Jahrhundert entstandene Bild vom primitiven, groben und unkultivierten Neandertaler überholt. Genetische Analysen und archäologische Funde haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Details über das Leben unserer ausgestorbenen nächsten Verwandten ans Licht gebracht und gezeigt, dass der Neandertaler dem modernen Menschen in vieler Hinsicht ähnlicher war als lange gedacht: Er bestattete Tote, feierte Feste, baute Werkzeuge und Waffen und nutzte womöglich bereits Heilpflanzen.


Die Einhornhöhle im Harz ist eine bedeutende Fundstätte.
Foto: unicorncave/Uni Göttingen/CC BY-SA 4.0

Nun berichten deutsche Wissenschafter von einem sensationellen Fund, der einen weiteren Einblick in die beachtlichen Fähigkeiten von Homo neanderthalensis erlaubt: Sie entdeckten in der Einhornhöhle im niedersächsischen Harz einen Riesenhirschknochen, der von einem Neandertaler vor mehr als 51.000 Jahren verziert worden ist – vermutlich zu Dekorationszwecken, wie das Team um Thomas Terberger (Uni Göttingen) und Dirk Leder (Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege) im Fachblatt "Nature Ecology & Evolution" berichtet.

Kreative Kerben
Bei Grabungen im Eingangsbereich der Höhle stieß das Archäologenteam auf zahlreiche Jagdbeutereste, darunter auch ein auf den ersten Blick recht unscheinbarer Fußknochen eines Riesenhirschs (Megaloceros giganteus). Bei näherer Untersuchung entpuppte sich das Fundstück aber als ausgesprochen ungewöhnlich: Es ist mit einem winkelartigen Muster aus Kerben verziert. "Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss", sagte Leder, der die Grabung leitete.


Der sorgfältig verzierte Knochen aus der Einhornhöhle dürfte großen symbolischen Wert besessen haben, vermuten die Archäologen.
Foto: V. Minkus/NLD

Auf dem kompakten Knochenstück ist ein Muster aus sechs Kerben eingeritzt, im unteren Bereich gibt es vier weitere kurze Kerben. Der Knochen lässt sich hinstellen und hat eine "Schauseite", wie der Archäologe Terberger erklärte. Das Objekt sei ein Hinweis darauf, dass die Neandertaler ein ästhetisches Empfinden hatten. "Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers", sagte Terberger.

Symbolträchtiges Tier
Für Studien-Koautorin Antje Schwalb von der Technischen Universität Braunschweig ist es kein Zufall, "dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat". Das Geweih des Riesenhirschs hatte eine Spannweite von bis zu vier Metern, der symbolische Wert eines Zierobjekts aus Überresten dieses mächtigen Tieres dürfte groß gewesen sein.



Micro-CT-Scan des Knochens mit markierten Kerben.
Grafik: A. Tröller-Reimer/D. Leder/NLD

Einfach war die Anfertigung des Objekts nicht. Um einen Vergleich anzustellen, führte das Forscherteam Experimente mit Fußknochen heutiger Rinder durch. Dabei stellte sich heraus, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das Muster anschließend mit Steingeräten in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweichte Knochenoberfläche zu schnitzen.

Der Zehenknochen mit dem Muster ist fast sechs Zentimeter lang, knapp vier Zentimeter breit und etwa drei Zentimeter dick. Im Leibniz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung der Universität Kiel wurde das Alter des Knochens mithilfe der Radiokarbonmethode bestimmt. Das Ergebnis: rund 51.000 Jahre. "Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren", sagte Terberger.

Rätselhaftes Schicksal
In Frankreich wurden in der Vergangenheit von Neandertalern geschaffene mutmaßliche Schmuckobjekte gefunden, sie sind rund 33.000 Jahre alt. Aus Spanien sind einfache abstrakte Motive an Höhlenwänden bekannt. Der neue Fund aus der Einhornhöhle sei eine der ältesten und komplexesten bisher entdeckten künstlerischen Ausdrucksformen von Neandertalern, schreibt die Londoner Anthropologin Silvia Bello in einem Begleitkommentar zur Studie.

Homo neanderthalensis lebte etwa 400.000 Jahre auf dem europäischen Kontinent – weit länger als moderne Menschen. Warum unsere einst erfolgreichen Verwandten vor etwa 30.000 Jahren endgültig verschwanden, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Steckten Klimaveränderungen, Krankheiten, die zunehmende Konkurrenz durch Homo sapiens oder schlicht demografisches Pech dahinter? Übrig geblieben ist jedenfalls ein kleiner Prozentsatz ihrer DNA, die sich im Erbgut heutiger Europäer und Asiaten findet – mit sehr unterschiedlichen Folgen. Eine bessere Anpassung von Haut und Haar an ein Leben bei niedrigen Temperaturen gehört ebenso dazu wie ein erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 oder Typ-2-Diabetes zu erkranken.
(David Rennert, 5.7.2021)

Studie
Nature Ecology & Evolution: "A 51,000-year-old engraved bone reveals Neanderthals’ capacity for symbolic behaviour"

Außergewöhnliches Neandertaler-Artefakt in deutscher Höhle entdeckt
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#14
GENETISCHE GEHEIMNISSE
Beispiellose Einblicke in das Familienleben der Neandertaler
In Sibirien lebte die östlichste Neandertaler-Gruppe, die bisher entdeckt wurde. Neue Analysen können Fragen zu Inzucht, Partnersuche und europäischen Ursprüngen beantworten

So könnte ein Neandertaler-Vater mit seiner Tochter ausgesehen haben.
Bild: Tom Bjorklund

Vieles, was wir heute über Neandertaler wissen, machte der diesjährige Medizinnobelpreisträger Svante Pääbo möglich: Die Disziplin Paläogenetik wurde in den vergangenen Jahren massiv weiterentwickelt und enthüllte etwa, dass wir noch heute ein paar Prozent Neandertaler-DNA in uns tragen. Nun ist unter Pääbos Mitbetreuung ein weiterer Meilenstein erreicht worden: Eine Gruppe um Erstautor Laurits Skov vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig veröffentlichte am Mittwoch im Fachmagazin "Nature" die bisher größte genetische Studie einer Neandertaler-Population.

Seit der ersten Rekonstruktion eines Neandertaler-Genoms 2010 wurden bislang erst 18 Genome dieses Menschentyps erfolgreich sequenziert. Das internationale Forschungsteam nahm nun gleich 13 "neue" Genome unter die Lupe. Sie stammen von Männern, Frauen und Kindern aus zwei sibirischen Höhlen, die als östlichste Neandertaler-Gruppe, die bisher gefunden wurde, gelten. Darunter waren sieben männliche und sechs weibliche Individuen. Fünf verstarben bereits im Kindes- oder Jugendalter.

Die alte DNA aus den Knochen und Zähnen sollte die Verwandtschaftsverhältnisse der Individuen aufklären – und, so die Hoffnung, auch Hinweise über das Zusammenleben der Neandertaler-Community liefern.

90.000 Steinwerkzeuge
Bekannt war bereits, dass diese Menschen im Altai-Gebirge im Laufe der Jahrtausende etwa Bisons und Steinböcke jagten. Die Knochen dieser Tiere fanden Forschende der russischen Akademie der Wissenschaften innerhalb der vergangenen 14 Jahre zuhauf in der Chagyrskaya- sowie in der Okladnikow-Höhle. Sie befinden sich nicht allzu weit von der berühmten Denissowa/Denisova-Höhle entfernt, in der eine weitere Kategorie an Menschen entdeckt wurde. Die folglich "Denisova-Menschen" getaufte Gruppe unterscheidet sich von zeitgleich lebenden Neandertalern und modernen Menschen, es wurden allerdings auch gemeinsam Nachkommen gezeugt.

1666263873567.png

Die Denissowa/Denisova-Höhle ist berühmt für Knochenfunde, die die Menschheitsgeschichte umschrieben: Der Denisova-Mensch war entdeckt. Die Höhle befindet sich im Altai-Gebirge in Südsibirien. Im Umkreis von 100 Kilometern befinden sich auch zwei weitere Höhlen, in denen menschliche Überreste aufgespürt wurden. Diese analysierte ein Forschungsteam nun genetisch.

In den beiden Höhlen, deren Bewohnerinnen und Bewohner in der aktuellen Studie berücksichtigt wurden, erregten neben der beachtlichen Zahl von ungefähr 90.000 Steinwerkzeugen vor allem rund 80 Knochenfragmente die Aufmerksamkeit der Archäologinnen und Archäologen. Sie konnten Neandertaler-Populationen zugeordnet werden, die dort vor etwa 54.000 Jahren lebten.
Bei der Datierung half das mittlerweile an der Universität Wien forschende Paar Katerina Douka und Tom Higham. "Früher dachte man, dass manche der Neandertaler aus der Okladnikow-Höhle zu den jüngsten bekannten gehörten und sie vor etwa 34.000 Jahren lebten", sagt Higham. "Wir konnten zeigen, dass diese Knochen viel älter sind, und zwar zwischen 50.000 und 60.000 Jahre alt." Die neue Forschungsarbeit stellt allerdings auch fest, dass die untersuchten Individuen offenbar keine Denisova-Vorfahren hatten.

Vater und Tochter, Tante und Neffe?
Auf Familienebene erfüllte sich die Hoffnung des Teams: Einige der 13 Menschen lebten zur gleichen Zeit und waren eng miteinander verwandt. So gehörte zur kleinen Stichprobe etwa ein Mädchen, das im Teenageralter verstarb, sowie deren Vater – eine Verwandtschaft ersten Grades also. Ein weiteres Familienpaar stand sich in zweitem Grad nahe, nämlich ein kleiner Junge und eine erwachsene Frau, die seine Großmutter, Tante oder Cousine gewesen sein könnte.

Die Tatsache, dass diese Menschen zur gleichen Zeit lebten, sei besonders spannend, betont Erstautor Laurits Skov: "Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich aus der gleichen sozialen Gemeinschaft stammen. Wir können also zum ersten Mal die Genetik nutzen, um die soziale Organisation einer Neandertaler-Gemeinschaft zu untersuchen."


In der sibirischen Chagyrskaya-Höhle wurde der Großteil der Knochen gefunden, die in die aktuelle Analyse eingeflossen sind.
Foto: Bence Viola

Doch auch auf etwas höherer Ebene wurden interessante Erkenntnisse zutage gefördert. So weist Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Begleitkommentar darauf hin, dass die Genome auf ein relativ großes Ausmaß an Inzucht hindeuten. Dies gelte aber weniger für die unmittelbaren Vorfahren, sondern dürfte bereits früher im Stammbaum vorgekommen sein: ein mögliches Zeichen für "konsistent kleine Populationsgrößen". Dies passt zu bisherigen Vermutungen, dass Neandertaler meist in Gruppen mit zehn bis 30 Mitgliedern lebten.

In der Studie wird die Kleingruppe mit relativ ähnlichem Genpool von Berggorillas verglichen, die vom Aussterben gefährdet sind. Die Parallele mag skurril anmuten und die Neandertaler in die Nähe von entfernt verwandten Primaten rücken. Doch sie macht auf eine berechtigte Frage aufmerksam: "Offen ist, ob dieses Ausmaß an Inzucht ein allgemeines Problem der Neandertaler war oder ein spezifisches Merkmal von Altai-Populationen, die an einem geografischen Extrem isoliert waren", schreibt Cassidy.

Wie sahen die Interaktionen mit anderen Gruppen aus? Auch hier liefert die Forschungsarbeit neue Erkenntnisse. Offenbar waren es vor allem weibliche Neandertaler, die migrierten und sich wohl den Verbänden ihrer Sexualpartner anschlossen. Die männlichen Vertreter blieben eher in jener Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen waren. Darauf deuten Analysen der Y-Chromosomen hin, die in männlicher Linie vererbt werden, im Vergleich mit der sogenannten mitochondrialen DNA, die genetisch von Müttern auf ihre Kinder übertragen wird. Die neue Studie sei der bisher bestechendste Beweis für eine solche "Patrilokalität" unter Neandertalern, schreibt Cassidy. Im Gegensatz dazu würden in heute lebenden Jäger-Sammler-Gemeinschaften oft Männer wie Frauen ihre Communitys wechseln.

Auswanderung aus Europa
In Sachen Migration stellte das Team außerdem fest, dass die Individuen aus der Chagyrskaya- und der Okladnikow-Höhle nicht von früheren Neandertaler-Gruppen abstammen, die schon vor 120.000 Jahren im Altai-Gebirge lebten. Stattdessen seien sie enger mit europäischen Neandertalern verwandt. Ihre Vorfahren dürften also gen Osten ausgewandert sein. Dies passt den Fachleuten zufolge zu den vorgefundenen Steinwerkzeugen: Ähnliche Objekte seien in Deutschland und Osteuropa gefunden worden, die Kulturtechnik wurde also wohl ebenfalls nach Asien mitgenommen.

"Unsere Studie liefert ein konkretes Bild davon, wie eine Neandertaler-Gemeinschaft ausgesehen haben könnte", sagt Benjamin Peter, der die Arbeit gemeinsam mit Svante Pääbo betreute. "Das lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen." Auch wenn sich das komplexe soziale Gefüge vor allem durch die vergleichsweise große genetische Stichprobe nun besser fassen lässt, ist laut Lara Cassidy aber klar: "Die Chagyrskaya-Höhle und andere Stätten in ganz Eurasien haben noch viele weitere Geheimnisse zu bieten."
(Julia Sica, 19.10.2022)

Studie
Nature: "Genetic insights into the social organization of Neanderthals"

Weiterlesen
Beispiellose Einblicke in das Familienleben der Neandertaler
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#15
GEHÖRNTE SCHÄTZE
Beeindruckende Sammlung an Jagdtrophäen von Neandertalern entdeckt
Vor 55.000 Jahren nutzten Neandertaler Höhlen, um 35 Schädel mit gewaltigen Geweihen und Bisonhörnern von symbolischem Wert auszustellen. Sie ähnelten damit Homo sapiens

Die Illustration zeigt, wie sich Neandertaler in der Höhle beim Schein des Feuers Geschichten erzählt haben könnten – auch über bezwungene Tiere.
Bild: Albert Álvarez Marsal

Wie ähnlich waren uns die Neandertaler? Heute ist nicht nur bekannt, dass beispielsweise Europäerinnen und Europäer bis zu vier Prozent ihrer DNA mit dieser ausgestorbenen Menschenart teilen, die zeitgleich mit dem modernen Homo sapiens lebte. Archäologische Funde lassen auch immer mehr Schlüsse auf ihr Verhalten zu – auch wenn sie nicht leicht zu interpretieren sind.

Dazu liefert eine spanische Höhle nördlich von Madrid neue Erkenntnisse, deren Name ein Wortspiel birgt: Sie wird "Des Cubierta" genannt, was nicht nur den Begriff "cubierta" für "Dach" oder "Abdeckung" beinhaltet, sondern auch das Entdecken und Erkunden: "descubierta". Vor mehr als 55.000 Jahren wurde die Höhle von Neandertalern genutzt, sie ist heute aber nur stellenweise als solche erkennbar, weil zwischenzeitlich die Decke einstürzte.


Die Fundstätte der "Des Cubierta"-Höhle in Spanien.
Foto: Javier Trueba

Schädel von Bisons, Nashörnern und Co
Dennoch können Archäologinnen und Archäologen ausmachen, was dort einst aufbewahrt wurde, wie sie in einer Studie im Fachjournal "Nature Human Behaviour" eindrucksvoll beweisen. Das Forschungsteam, dem auch der Anthropologe Tom Higham von der Universität Wien angehörte, konzentrierte sich auf 35 Schädelteile, die von großen Pflanzenfressern stammen: Hörner und Geweihe von Auerochsen, Steppennashörnern, Rothirschen, Rehen und Steppenbisons wurden entdeckt und analysiert.


Hier wurden die Hörner eines Auerochsen gefunden und sorgsam aus dem Boden präpariert.
Foto: Equipo de Investigación de Pinilla del valle

Dass sie in Verbindung mit Neandertalern stehen, darauf weisen andere Funde eines zum Zeitpunkt des Todes drei bis fünf Jahre alten Neandertalerkindes hin sowie hunderte Steinwerkzeuge im Moustérien-Stil, der mit den ausgestorbenen Menschen in Verbindung gebracht wird. Prähistorische Tierknochenfunde sind an sich nichts Ungewöhnliches, vor allem nicht in Höhlen, die offenbar von unseren Vorfahren und ihren Verwandten genutzt wurden.

Jagdschrein für Großwild
Erstaunlich ist aber, dass die gefundenen Schädelknochen allesamt mit Geweihen oder Hörnern ausgestattet waren. Ganz so, als würde es sich um Jagdtrophäen handeln, wie sie auch von heutiger Sportjagd bekannt sind. Vielleicht erinnerten sie an besonders schwierig zu überwältigende Beute oder dokumentierten die Anzahl erlegten Großwilds. "Dass sie alle auf recht kleinem Raum zusammenlagen, lässt vermuten, dass es sich bei dieser Ansammlung um eine Art Jagdschrein handelte", vermutet das Forschungsteam.


Die besterhaltenen Schädel stammen großteils von Bisons (a–f), aber auch von Auerochsen (g), Steppennashörnern (Stephanorhinus; h, i) und Rothirschen (j, k).
Foto: Javier Trueba / MSF

Einen nährenden Nutzen dürften die Köpfe des Großwilds jedenfalls kaum gehabt haben – im Vergleich zum bescheidenen Fleischgehalt sind sie sehr groß und schwer, sagte Higham, der vor allem für die Interpretation der Datierungen zuständig war, gegenüber der APA. Deshalb sei es eigentlich "sehr ungewöhnlich für Steinzeitjäger, dass sie die Köpfe von großen Tieren wie Nashörnern und Bisons von den Stellen mitbrachten, wo sie die Tiere getötet hatten".

Versierte Fleischhauer
Zerlegt wurden die Tiere an anderer Stelle, berichtet das Team um Erstautor Enrique Baquedano vom Archäologischen und Paläontologischen Museum der Autonomen Gemeinschaft Madrid in Alcalá de Henares. Dafür dürfte jemand mit großer Fleischhauererfahrung verantwortlich gewesen sein, sagt Higham: Unter- und Oberkiefer und weitere Teile des Gesichtsschädels wurden außerhalb der Höhle entfernt sowie das Gehirn, "wohl als Teil der Konservierungsstrategie". Darauf weisen fehlende Knochenfragmente und Schnittspuren an den Knochen hin.


Die Übersichtsgrafik zeigt, dass Tierschädel unterschiedlicher Spezies (erkennbar an den verschieden eingefärbten Funden) im gleichen Höhlenbereich "ausgestellt" wurden – oder sich zumindest nach zigtausenden Jahren an dieser Stelle befanden.
Bild: Baquedano et al. 2023, Autodesk AutoCAD 2021

Kulturelle Tradition?
Dem Forschungsteam zufolge könnte es sich bei der Präparation und Sammlung der Jagdtrophäen um eine "kulturelle Tradition" gehandelt haben, die weitergegeben und "zumindest mehrere Generationen hinweg" aufrechterhalten wurde. Dass solche symbolischen Praktiken auch von Neandertalern durchgeführt und tradiert wurden, mag daran rütteln, dass es sich dabei um ein Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens handelt.


Im Labor wurden die Schädelreste des Großwilds rekonstruiert.
Foto: Javier Trueba

Eine gewisse kulturelle Nähe könnte auch dazu beigetragen haben, dass sich diese beiden "Sorten Mensch" miteinander fortpflanzten, wovon die Neandertalerspuren in heute lebenden Menschen zeugen. Weiterhin ungelöst bleibt das Rätsel, was letztlich dazu führte, dass vor rund 40.000 Jahren dennoch die Neandertaler ausstarben. Immerhin könnte es weniger darum gehen, ob sie wie moderne Menschen Fähigkeiten – wie jene zur Symbolik – hatten oder nicht, sondern in welchem Ausmaß – und wie dies ihre Gesellschaften und ihre Innovationen prägte.
(Julia Sica, 26.1.2023)

Studie
Nature Human Behaviour: "A symbolic Neanderthal accumulation of large herbivore crania"

Weiterlesen

Beeindruckende Sammlung an Jagdtrophäen von Neandertalern entdeckt
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#16
PRÄHISTORISCHE ERNÄHRUNG
Neandertaler jagten in Deutschland gigantische Elefanten
Ein ausgewachsener Bulle lieferte locker 2.500 Portionen, was dafür spricht, dass Neandertaler in größeren Gruppen zusammenlebten als bisher gedacht

In der Nähe von Halle an der Saale im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt wurden dutzende Skelettreste einer ausgestorbenen Elefantenart entdeckt, wie das Foto aus dem örtlichen Landesmuseum für Vorgeschichte zeigt.
Foto: Imago / Steffen Schellhorn

In der Steinzeit zogen nicht nur Säbelzahnkatzen, Nashörner und Wollhaarmammuts durch Europa: Einen beeindruckenden Anblick bot auch der Europäische Waldelefant, der mehr als vier Meter hoch wachsen und 13 Tonnen schwer werden konnte. Damit waren die Vertreter dieser Spezies – die vor etwa 33.000 Jahren ausgestorben ist – in den vergangenen drei Millionen Jahren die größten Tiere, die an Land lebten. Wollhaarmammuts waren hingegen nur wenig größer als heute lebende Elefanten, und der größte Afrikanische Elefant, der bisher wissenschaftlich vermessen wurde, kam auf die vier Meter Schulterhöhe, die ein Waldelefant-Bulle einst gut zustande bringen konnte.

Dass der riesige Elefant damit auch ein Ziel prähistorischer Jägerinnen und Jäger war, ist naheliegend – und wurde nun endlich auch nachgewiesen, in Deutschland. In einer großen Braunkohlegrube bei Halle an der Saale (nahe Leipzig) stieß man schon in den 1980er- und 90er-Jahren auf mindestens 70 Waldelefanten beziehungsweise auf das, was nach 125.000 Jahren von ihnen übrig blieb. Feine Seesedimente sorgten dafür, dass die fossilen Knochen gut konserviert wurden.


Studienautorin Sabine Gaudzinski-Windheuser neben der Rekonstruktion eines männlichen Europäischen Waldelefanten (Palaeoloxodon antiquus, früher: Elephas antiquus).
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Auf Fleisch und Fettpolster hatten es damals, während der Altsteinzeit, die Neandertaler abgesehen, wie die Forschungsgruppe um Sabine Gaudzinski-Windheuser von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz herausfand. Im Fachmagazin "Science Advances" zeigt sie die Schnittspuren an den Elefantenknochen, die darauf hinweisen, dass Fleisch mithilfe von Werkzeugen abgelöst wurde. Und zwar große Mengen an Fleisch – bis zu vier Tonnen. Der Körper eines der kolossalen Tiere dürfte damit hunderte Menschen mit Mahlzeiten versorgt haben, in getrocknetem Zustand auch über längere Zeitspannen hinweg.

Überraschend viele erwachsene Männchen
Das lässt neue Schlüsse auf das Zusammenleben der Neandertaler zu, wie das Forschungsteam ausführt. Sie könnten in viel größeren Gemeinschaften zusammengelebt haben, als man bisher annahm. Waldelefanten als Beute konnten nicht nur viele Neandertaler versorgen: Um ein so großes Tier koordiniert zu jagen, zu töten und zu zerlegen, seien bereits viele Beteiligte nötig gewesen.


Die Schnittspuren zeigen, dass das Fleisch der Waldelefanten von den Knochen gelöst wurde – hier an einem Fußknochen.
Foto: APA / AFP / Monrepos

Dass sie damals wohl tatsächlich Jagd auf die Elefanten machten und sich nicht nur hin und wieder von Kadavern ernährten, die ohne Zutun von Menschen (oder menschenähnlichen Verwandten, wie es die Neandertaler waren) verstorben waren, ist eine der neuen Erkenntnisse der Studie. Am Fundort Neumark-Nord war italienischen Paläontologinnen und Paläontologen bereits vor einiger Zeit aufgefallen, dass überraschend viele erwachsene und männliche Tiere entdeckt wurden. "Die Entdeckung von eindeutigen Schnittspuren gab den Anstoß zu einer intensiven Untersuchung der Elefantenüberreste", sagt Gaudzinski-Windheuser.

Größenunterschiede
Über viele Monate hinweg analysierte ihre Gruppe mit einem Team der Universität Leiden in den Niederlanden die ganze Sammlung. Von großen und schweren Knochen hin zu kleineren Fragmenten waren es mehr als 3.000 Überreste, die vom Europäischen Waldelefanten stammten und bisher in der Braunkohlegrube geborgen wurden. Die Schnittspuren zeigten, dass über mindestens 2.000 Jahre hinweg Elefanten dazu beitrugen, die Neandertaler zu ernähren. "Dies ist der erste eindeutige Beweis für die Elefantenjagd in der menschlichen Evolution", sagt der niederländische Prähistoriker Wil Roebroeks, der ebenfalls an der Studie beteiligt war.


Die Erstautorin beim Untersuchen eines Oberschenkelknochens des ausgestorbenen Elefanten.
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Bei Europäischen Waldelefanten sind Männchen wesentlich größer als Weibchen: Während Bullen 4,20 Meter groß und sechs bis 13 Tonnen schwer werden konnten, blieben Elefantenkühe unter drei Metern Schulterhöhe und wurden meist nicht schwerer als sechs Tonnen. Daraus ergab sich ein größerer Jagderfolg, wenn ein massereicher erwachsener Bulle erlegt werden konnte – daher der Überhang bei den mit Schnittspuren versehenen Funden, erklärt das Studienteam.


2.500 Portionen Elefantenfleisch
Außerdem vermutet man, dass die Männchen weniger im Verband einer Herde unterwegs waren, sondern eher als Einzelgänger. Ein weiterer Faktor, der die Jagd beeinflusste, denn ein einzelnes Tier anzugreifen war einfacher und sicherer, als potenziell eine ganze Herde gegen sich aufzubringen.


Gut erkennbare Schnittspuren an den Fußknochen eines Elefanten zeigen: Womöglich wurden die Fettablagerungen in den Fußpolstern der Tiere genutzt.
Foto: Wil Roebroeks, Universität Leiden

Die Fachleute berechneten sogar, wie viele Portionen das Fleisch eines zehn Tonnen schweren Waldelefanten ergeben haben könnte. Demnach hätte er 2.500 Mahlzeiten à 4.000 Kilokalorien liefern können, was bei erwachsenen Neandertalern eine üppige Tagesration für sehr sportliche Menschen wäre. Man könnte also 25 Personen (wenn sich der Personenbegriff auf Neandertaler ausweiten lässt) locker für 100 Tage versorgen, wobei fraglich ist, ob ein einziger erlegter Elefant derart lange vorsorgte (und das Fleisch so lange haltbar gemacht wurde).

Bisher wurden Neandertaler-Gemeinschaften aber oft auf eine Individuenzahl von 25 – oder weniger – geschätzt. Entsprechend zeigt die Studie also, dass weitaus größere soziale Gruppen möglich waren. Umgekehrt kämen 100 Neandertaler für rund einen Monat damit aus, 350 ließen sich für eine Woche verpflegen. Den Autorinnen und Autoren zufolge sei es wahrscheinlich, dass Neandertaler wenigstens zeitweise in größeren Verbänden zusammenkamen – beziehungsweise dass sie in großem Stil fleischliche Nahrung konservieren und lagern konnten.


Schlechtes Image der Neandertaler
Die zahlreichen Bearbeitungsspuren – hier an einem Oberarmknochen eines Elefanten – lassen auf das Verhalten von Neandertalern vor 125.000 schließen.
Foto: Sabine Gaudzinski-Windheuser und Lutz Kindler

Das erweitert die Palette des bisher bekannten Wissens über diese Menschenart, die sich zumindest zeitweise erfolgreich mit dem modernen Menschen Homo sapiens fortpflanzte, aber vor etwa 30.000 Jahren ausstarb – bis auf ein überschaubares Erbe in heute lebenden Populationen. In einem Begleitartikel weist Verhaltensökologin Britt Starkovich von der Universität Tübingen darauf hin, dass immer deutlicher werde: Neandertaler waren nicht alle gleich, "und es sollte uns nicht überraschen, dass sie über ein ganzes Arsenal an Verhaltensweisen der Anpassung verfügten, die es ihnen ermöglichten, in den vielfältigen Ökosystemen Eurasiens über 200.000 Jahre lang erfolgreich zu sein".

Auch macht Starkovich darauf aufmerksam, dass den Neandertalern in der Popkultur und im heutigen Sprachgebrauch wie keinem anderen nahen menschlichen Verwandten Unrecht geschehe. Immerhin werden sie – wie auch generell "Höhlenmenschen" – als Synonym für Dummheit und Rückwärtsgewandtheit herangezogen. Dabei zeigen gerade die Studien der jüngsten Vergangenheit immer wieder, wie ähnlich sie modernen Menschen waren.

Brandrodung vor 125.000 Jahren
Auch die Studie zur Elefantenjagd unterstreicht den Einfluss, den auch Neandertaler auf die Ökosysteme, zu denen sie gehörten, ausübten. Nicht zuletzt wird diskutiert, ob schon in prähistorischen Zeiten Menschen durch Jagd dafür gesorgt haben, dass Teile der Großwildfauna ausgestorben sind. Auch Studienautor Wil Roebroeks sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, dass die Neandertaler "nicht einfach nur Sklaven der Natur waren; keine Ur-Hippies, die davon lebten, was die Natur ihnen so gab". Stattdessen hätten sie ihre Umwelt aktiv mitgestaltet.

Das machte die Forschungsgruppe bereits vor gut einem Jahr mit einer weiteren bemerkenswerten Studie deutlich. Die Auswertung von Funden derselben Stätte, die ebenfalls im Fachmagazin "Science Advances" veröffentlicht wurde, zeigt: Vor 125.000 Jahren veränderten Jäger-Sammler-Gemeinschaften die Region durch Brandrodung. Die gezielte Nutzung des Feuers, auf die das Team aufgrund gefundener Holzkohle und Steinwerkzeuge schließt, könnte den Vorteil gehabt haben, dass die Umgebung leichter überschaubar war. Und sie wäre ein Indiz dafür, dass die Gattung Homo schon vor weitaus mehr als rund 10.000 Jahren – zu Beginn von Landwirtschaft und Sesshaftwerdung – Landschaften in großem Stil veränderte.
(Julia Sica, 3.2.2023)

Studien
Science Advances: "Hunting and processing of straight-tusked elephants, 125.000 years ago: Implications for Neanderthal behavior"
Begleitartikel in Science Advances: "Perception versus reality: Implications of elephant hunting by Neanderthals"
Science Advances:
"Landscape modification by Last Interglacial Neanderthals"

Neandertaler jagten in Deutschland gigantische Elefanten
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#17
JÄGER UND SAMMLER
Vorreiter des Minimalismus: Was wir von Steinzeitmenschen lernen können
Die Menschen der Steinzeit gelten als Sinnbild für das Primitive. Dabei waren sie vorbildhafte Umweltschützer – und das mit der Work-Life-Balance hatten sie auch raus

"Nicht zurück in die Steinzeit" soll uns die Klimapolitik führen, sagte Ex-Kanzler Sebastian Kurz einmal. Bei genauerem Hinsehen können wir uns von den Steinzeitmenschen aber einiges abschauen.
Illustration: Getty Images/Fatih Aydogdu

Im Norden der Kalahari in Afrika, einer der größten Sandwüsten der Welt, lebt bis heute das Naturvolk der Ju/’Hoansi. Die Menschen führen ein Leben wie in der Steinzeit: Die Frauen sammeln Beeren, Nüsse und Wurzeln, die Männer jagen mit einfachen Werkzeugen Wildtiere – die Beute teilt die Gruppe gemeinschaftlich. Wenn Wasser und Nahrungsmittel zur Neige gehen, ziehen die Nomaden mit ihrem Hab und Gut weiter – bis zu sechsmal jedes Jahr.

Seit der Aufklärung schauen westliche Denker mit dem Überlegenheitsgestus europäischer Kulturnationen auf Naturvölker herab: Jäger und Sammler galten als primitiv, unterentwickelt und unzivilisiert. Als Barbaren. Doch spätestens seitdem Ethnografen in den 1960er-Jahren die Stämme im Rahmen ihrer Feldforschung untersucht haben, hat sich das Bild gewandelt.

Wenige Bedürfnisse, kein Mangel
Der frugale Lebensstil der Nomaden gereichte plötzlich zum Vorbild für die Gegenkultur, die den westlichen Überkonsum ablehnte. Stellvertretend für diesen Bewusstseinswandel steht die Arbeit des US-Anthropologen Marshall Sahlins. In seinem 1972 publizierten Buch Stone Age Economics argumentiert er, dass Jäger und Sammler Überflussgesellschaften gewesen seien.

Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, so Sahlins’ These, würden keinen Mangel und keine Armut kennen, gerade weil ihre Bedürfnisse bescheiden sind. Essen und Trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf – mehr brauchen die Menschen nicht.


Die Ju/’Hoansi (auch: !Kung) leben bis heute in der Kalahari-Wüste in Namibia.
Foto: Imago/imagebroker/Matthias Graben

Im Einklang mit der Natur
Die Natur hält alle lebensnotwendigen Güter bereit: Steine, Holz, Blätter, Pflanzen, Fleisch, Früchte. An Bau- und Brennstoffen sowie an Nahrungsmitteln mangelt es nicht, im Gegenteil, durch die nachhaltige Nutzung ist alles für alle immer im Überfluss vorhanden. Obwohl durch die Technisierung der Landwirtschaft und Arbeitsteilung im 19. und 20. Jahrhundert die Nahrungsmittelproduktion gesteigert werden konnte, hungern heute relativ mehr Menschen als in der Steinzeit (zur Buchveröffentlichung war es rund ein Drittel der Weltbevölkerung). Hunger sei daher ein Phänomen von Agrar- und Industriegesellschaften, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur fußen, so Sahlins.

Der Anthropologe wies mit seiner Studie die neoklassischen Annahmen über das Wirtschaftssystem zurück. Der Grundsatz der Knappheit sei kein Naturgesetz, sondern von der Marktwirtschaft erzeugt, schreibt Sahlins. Soll heißen: Güter sind rar, weil sie der Mensch künstlich verknappt.

Drei bis fünf Stunden Arbeit pro Tag
Es gibt im Konsumkapitalismus immer irgendein Produkt, das man noch nicht hat und begehrt: die neue Playstation, das Hybridfahrzeug, die Wärmepumpe. Der Anthropologe spricht vom Konsum als einer "doppelten Tragödie", denn jeder Erwerb sei gleichzeitig eine Entbehrung. Diese Fiktion von Knappheit hält den kapitalistischen Motor am Laufen – und stabilisiert ein System, das an seinen Rändern immer instabiler wird.

Sahlins verweist auf ethnologische Untersuchungen, wonach Naturvölker im Schnitt nur drei bis fünf Stunden pro Tag für ihren Lebensbedarf arbeiten müssen – also deutlich weniger als ein durchschnittlicher Angestellter in einer westlichen Industrienation. Dieser Umstand hat den Stamm der Ju/’Hoansi zum internationalen Vorbild der Work-Life-Balance gemacht – wobei dieser Betrachtung auch eine sozialromantische Vorstellung von Wildnis zugrunde liegt.

Leben mit begrenzten Ressourcen
Während die Karrieregurus in ihrem Flat White rühren und auf dem Smartphone ihre Fitness- und Achtsamkeitsapps checken, vergessen sie gerne, dass das Leben in der Kalahari hart ist, und auch die an das Wüstenklima bestens angepassten Nomaden bekommen die Folgen der Erderwärmung zu spüren. Doch gerade mit Blick auf die Auswirkungen des Klimawandels lohnt ein Blick in die Vergangenheit.


Die Ressourcen der Erde sind begrenzt. Das wussten bereits die Menschen der Steinzeit.
Foto: Imago/Marc John

Der Soziologe Philipp Staab schreibt in seinem jüngsten Buch Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, dass in einer globalen Risikogesellschaft Fragen der Selbstentfaltung von der Selbsterhaltung überlagert würden. Im Angesicht der Klimakatastrophe geht es nicht mehr darum, wie man seinen Hobbyraum im eigenen Haus ausstattet oder sein Handicap auf dem Golfplatz verbessert, sondern um schiere Überlebensfragen. Wie können wir unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen im Jahr 2100 in Frieden auf der Welt leben?

Vielleicht müssen wir wieder jagen
Die Landwirtschaft und Sesshaftwerdung des Menschen waren globalgeschichtlich betrachtet nur deshalb möglich, weil das Klima mit dem anbrechenden Holozän stabiler wurde. Wenn sich jedoch das Klima um mehrere Grad erwärmt und der Planet in großen Teilen unbewohnbar wird, könnte der Mensch gezwungen sein, wieder zu jagen und zu sammeln.

Wobei es auch hier Zweifel gibt. Nachdem die Gehirnmasse im Lauf der Evolution zugenommen hat, weil das Jagen eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe ist, ist das Gehirn seit rund 12.000 Jahren – im Gegensatz zur Körpergröße – kontinuierlich geschrumpft. Das belegen Analysen von menschlichen Fossilien. Ein möglicher Grund: Immer mehr Aufgaben werden an Computer und andere Hilfsmittel delegiert. "Werden wir zu dumm sein, um Jäger und Sammler zu sein?", fragte die Fachzeitschrift Futures provokant.

Zweifelsohne kann der moderne Mensch von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften noch einiges lernen – zum Beispiel die Kulturtechnik, mit wenig Ressourcen ein gutes Leben zu führen und wenig Abfall zu produzieren.

Leben ohne Ballast
Die von Naturvölkern praktizierte Subsistenzwirtschaft, die faktisch eine Kreislaufwirtschaft ist, macht nicht nur alle in der Gemeinschaft satt, sondern schont auch die Umwelt.

Die Energiequelle ist die nachhaltigste überhaupt: der Körper. Der Mensch produziert genug Energie, um Tiere zu erlegen, die wiederum weitere Energie liefern und dem Körper unmittelbar zugeführt werden. Überschüsse, die in Lagerstätten aufbewahrt werden müssen, gibt es kaum – die Wildnis ist ein natürlicher Speicher. Die Stämme häufen daher auch keine großen Besitztümer an, weil der Nutzen mit der Tragbarkeit fällt. Alles, was nicht auf Wanderschaft mitgenommen werden kann, ist Ballast.

Der Ethnograf Martin Gusinde, der in den 1920er-Jahren im Rahmen mehrerer Expeditionen nach Feuerland reiste und indigene Völker erforschte, blickte mit einiger Verwunderung auf das Verhalten der Menschen, die ihre Utensilien achtlos herumliegen ließen, ohne ihnen einen sonderlichen Wert beizumessen, der etwa darin seinen Ausdruck fände, sie zu sortieren oder zu ordnen.

Doch dem europäischen Beobachter wurde schnell klar, dass Besitz bloß eine Bürde ist und Güter "unterdrückerisch" wirken können. Die Jäger und Sammler leben autark – und müssen sich nicht um Toilettenpapier im Supermarkt prügeln und ständig konsumieren. Wo man halbnackt herumläuft, braucht man keine Designerklamotten. "Wir sind geneigt, Jäger und Sammler für arm zu halten, weil sie nichts haben", konstatiert Anthropologe Sahlins. "Vielleicht sollten wir uns sie deshalb als frei vorstellen."
(Adrian Lobe, 13.2.2023)
Vorreiter des Minimalismus: Was wir von Steinzeitmenschen lernen können
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#18
MENSCHHEITSGESCHICHTE
Wo unsere Vorfahren den Höhepunkt der Eiszeit überlebten
Größte Genomanalyse eiszeitlicher Menschen zeigt zum Teil überraschende Migrationen der Jäger und Sammler über einen Zeitraum von 30.000 Jahren
Es war vor mehr als 45.000 Jahren, als unsere Vorfahren aus Afrika kommend Europa und den Alpenraum erreichten und hier auch auf den Neandertaler trafen. Die klimatischen Umstände waren damals alles andere als günstig – und sie sollten sich in den nächsten Jahrtausenden nicht unbedingt verbessern, eher im Gegenteil. Der Höhepunkt der Eiszeit war das Letzteiszeitliche Maximum (LGM), das vor rund 26.500 Jahren begann und vor rund 20.000 Jahren endete.

Damals bedeckten riesige Eisschilde große Gebiete Nordeuropas, Nordamerikas und Asiens, aber auch den Alpenraum. Der Meeresspiegel lag damals aufgrund der Vergletscherung im Vergleich zu heute um weit über 100 Meter tiefer. Wo und wie aber überlebten unsere Vorfahren angesichts der weitreichenden Vergletscherungen in Europa? Und kam es wegen der Kälte zu Migrationen in den Süden? Dieser lange als unbeantwortbar geltenden Fragen hat sich nun ein riesiges internationales Forschungsteam angenommen.

356 Genome aus 30.000 Jahren
Die 125 Wissenschafterinnen und Wissenschafter unter anderem der Universitäten Tübingen und Peking sowie des Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben für ihre große Studie, die am Mittwoch im Fachblatt "Nature" erschien, die Genome von insgesamt 356 prähistorischen Individuen aus 30.000 Jahren untersucht – darunter neue Genomdatensätze von 116 Individuen aus 14 verschiedenen europäischen und zentralasiatischen Ländern.

Die ersten modernen Menschen Europas waren, wie eine andere Untersuchung kürzlich zeigte, noch nicht die genetischen Vorfahren späterer Populationen. Die neue Studie konzentrierte sich deshalb auf Menschen, die zumindest in Teilen als Vorfahren der heutigen Menschen Westeurasiens gelten und vor 35.000 bis 5.000 Jahren lebten.


Rekonstruktion eines Jägers und Sammlers der Gravettien-Kultur, deren Vertreter vor 32.000 bis 24.000 Jahren Europa beherrschten. Die Tracht ist inspiriert von den archäologischen Funden in der Fundstätte von Arene Candide in Italien.
Foto: Tom Bjoerklund

Die älteste Kultur, die vom Team um Erstautor Cosimo Posth (Uni Tübingen) untersucht wurde, war die des sogenannten Gravettien, das ab etwa 30.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung für rund 8.000 Jahre in Europa dominierte.
Seine Angehörigen verwendeten ähnliche Waffen und produzierten ähnliche, mit Tiergesichtern verzierte Schnitzereien. Die Analysen der alten DNA brachten aber eine Überraschung: Trotz ähnlicher Kultur waren die Populationen im Westen und Südwesten (heutiges Frankreich und Iberische Halbinsel) von den zeitgleich lebenden Populationen in Zentral- und Südeuropa (heutiges Tschechien und Italien) genetisch sehr verschieden.


Die Angehörigen der Gravettien-Kultur in West- und Ost-/Südeuropa unterschieden sich genetisch überraschend stark. Die Westgravettier (links) überlebten während des letzten glazialen Maximums, während die Ost- und Südgravettier verschwanden.
Foto: Michelle O‘Reilly and Laurent Klaric, inspiriert durch Originalarbeiten von Benoit Clarys

Flucht auf die Iberische Halbinsel
Als es dann vor rund 26.000 Jahren so richtig kalt wurde, flüchteten viele Bewohner anderer Teile Europas in das heutige Spanien, das damals klimatisch günstigere Bedingungen bot. Als es dann wieder wärmer wurde, breiteten sich diese Jäger und Sammler, die auf der Iberischen Halbinsel für Jahrtausende "überwintert" hatten, über 20.000 Jahre lang wieder Richtung Norden und Osten über Europa aus. (Dieser Befund wird auch durch eine zeitgleich erschienene Studie in "Nature Ecology & Evolution" über Funde aus Spanien bestätigt.)

Als weiterer eiszeitlicher Rückzugsort galt bisher die italienische Halbinsel. Für diese These fand das Team allerdings keine Belege, im Gegenteil: Die in Zentral- und Südeuropa lebenden Jäger und Sammler der Gravettien-Kultur sind dort nach dem Kältemaximum genetisch nicht mehr nachweisbar und gelten damit als ausgestorben. Stattdessen ließen sich dort Menschen mit einem neuen Genpool nieder.

"Großer genetischer Austausch"
Anhand der analysierten Genome ließ sich zudem nachvollziehen, dass sich die Nachfahren dieser frühen Einwohner der italienischen Halbinsel dann vor etwa 14.000 Jahren über ganz Europa verbreiteten und dabei die Gruppen verdrängten, die mit der sogenannten Magdalenien-Kultur assoziiert waren. Die Forschenden sprechen in dem Zusammenhang von einem "großen genetischen Austausch". Grund waren möglicherweise ebenfalls klimatische Veränderungen, auf die Menschen durch Wanderung reagierten.


Der älteste Beweis für die Wanderbewegung während der Klimaerwärmung: Schädel eines Mannes und einer Frau, die vor rund 14.000 Jahren im Westen des heutigen Deutschland (Oberkassel) bestattet wurden. Genetisch stammen sie aus dem Süden.
Foto: Jürgen Vogel, LVR-LandesMuseum Bonn

Was war der Grund dafür? "Damals erwärmte sich das Klima in kurzer Zeit deutlich, und Wälder breiteten sich in ganz Europa aus. Möglicherweise war dies für die Menschen aus dem Süden Anlass, ihren Lebensraum auszuweiten", vermutet Johannes Krause, Letztautor der Studie und einer der Direktoren des MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Die früheren Bewohner hingegen könnten mit dem Schwund ihres Lebensraumes, der Mammutsteppe, verdrängt worden sein."

Zuwanderung aus Anatolien
Zudem zeigen die neuen Studienergebnisse, dass es für mehr als 6.000 Jahre keinen genetischen Austausch zwischen den Jägern und Sammlern Westeuropas und ihren Zeitgenossen in Osteuropa gab. Begegnungen zwischen Menschen des zentraleuropäischen Kontinents und des osteuropäischen Raums (heutiges Baltikum und entlang der Wolga) lassen sich erst wieder für die Zeit vor 8.000 Jahren nachweisen. Diese Gruppen hatten nicht dieselbe Haut- und Augenfarbe und unterschieden sich auch in anderen Merkmalen.

In dieser etwas wärmeren Zeit breiteten sich schließlich auch der Ackerbau und eine sesshafte Lebensweise von Anatolien nach Europa aus. Diese Einwanderung der frühen Bauern aus der heutigen Türkei dürfte einen endgültigen Rückzug der Jäger und Sammler an den nördlichen Rand Europas ausgelöst haben – und gleichzeitig begann eine genetische Vermischung zwischen beiden Gruppen, die fast 3.000 Jahre andauerte.
(Klaus Taschwer, 1.3.2023)
Wo unsere Vorfahren den Höhepunkt der Eiszeit überlebten
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#19
PRÄHISTORISCHE KUNST
Neandertaler gravierten vor 75.000 Jahren ihre Höhlen
Ob die Höhle im französischen Loire-Tal die älteste dekorierte Höhle Europas ist, wie die Studienautoren behaupten, dürfte jedoch noch diskutiert werden
Über Kunst lässt sich streiten. Zum Beispiel darüber, welche Hinterlassenschaften des Menschen, aber auch anderer Spezies dazugehören. Manchmal ist sogar die Urheberschaft strittig, oder zumindest die Methode: Bei Höhlenkunst in Ägypten wurde bereits diskutiert, ob die Umrisse, die wie menschliche Hände aussehen, nicht doch mithilfe von angelegten Krokodilfüßen entstanden. Und während Handabdrücke an Wänden als künstlerischer Ausdruck gelten, stellte eine Forschungsgruppe vor zwei Jahren die Frage, ob rund 200.000 Jahre alte Hand- und Fußabdrücke, die von spielenden Kindern herrühren könnten, ebenfalls als Kunst betrachtet werden sollten.


Gravuren in einer französischen Höhle erregten die Aufmerksamkeit von Fachleuten (im Bild: Studienerstautor Jean-Claude Marquet von der Universität Tours und Trine Freiesleben von der Universität von Dänemark in Roskilde).
Kristina Thomsen, CC-BY 4.0 (Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0)

Klar dürfte mittlerweile sein, dass sich nicht nur moderne Menschen auf solche Weise verewigten, sondern auch die eng verwandten Neandertaler. Sie bemalten offenbar schon vor etwa 65.000 Jahren Höhlen im spanischen Ardales mit Pigmenten. Zu diesem Zeitpunkt war der moderne Mensch nach heutigem Wissen noch gar nicht in Europa angekommen, seine Besiedlung des Kontinents erfolgte womöglich in mehreren Wellen vor 54.000 bis 42.000 Jahren.

Neuer Altersrekord
Doch die Spuren der Neandertaler sind nicht nur malerisch, sie fertigten auch gravierte Wandbilder an, die auch als Petroglyphen bezeichnet werden. Vor neun Jahren veröffentlichte ein Forschungsteam die Entdeckung von Einkerbungen in einer Höhle in Gibraltar, die mindestens 39.000 Jahre alt sind. Dieser Altersrekord wurde nun gebrochen: Einer neuen Studie zufolge sind die ältesten Wandgravuren der Neandertaler mehr als 57.000 Jahre alt. Das berichtet das Forschungsteam um Jean-Claude Marquet von der Universität Tours in Frankreich im Fachjournal "Plos One".


Die Darstellungen sind nicht gegenständlich, damit ist es schwieriger zu erahnen, welchen Zweck sie hatten.
Jean-Claude Marquet, CC-BY 4.0 (Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0)

Die Höhle von La Roche-Cotard befindet sich im französischen Loire-Tal. Vor allem an einer Wand konnten die Fachleute verschiedene Bereiche mit Gravuren ausmachen. Dabei handelt es sich um Fingerspuren, die wohl keine Menschen, Tiere oder Gegenstände darstellen, weshalb sie schwieriger zu interpretieren sind.

Menschliche Schöpfer
Um überhaupt festzustellen, ob sie von Menschenhand geschaffen wurden, erstellte das Team 3D-Modelle der Markierungen. Dann verglichen sie sie mit anderen Beispielen. Den Analysen zufolge deuten die Formen, Abstände und die Anordnungen darauf hin, dass sie bewusst und mit Absicht von menschlichen Händen gemacht wurden.

Nur eben nicht durch moderne Menschen, sondern durch Neandertaler, das machte der Kontext der Funde deutlich. Die Fachleute datierten Ablagerungen in der Höhle und stellten fest, dass sie vor etwa 57.000 Jahren verschlossen wurde. Dies gilt also als Mindestalter der Gravuren. Zu dieser Zeit lebten nur Neandertaler in der Region.

Zudem wurden in und vor der Höhle bereits Steinwerkzeuge sowie eine eigentümliche Maske entdeckt, die der Artefaktkultur Moustérien zugeschrieben werden, die wiederum mit Neandertalern in Zusammenhang gebracht wird. Bei der Maske von La Roche-Cotard handelt es sich um ein schon 2000 beschriebenes Objekt von zehn Zentimetern Durchmesser, im Stein wurde ein Stück Knochen platziert und erinnert an ein menschliches oder tierisches Gesicht.

Was ist Dekoration?
Die Ausgrabungen an der Fundstätte wurden zunächst unterbrochen, vor 15 Jahren aber wieder aufgenommen. Nun konnten die eingeritzten Linien auf ein Alter von mehr als 57.000 Jahren datiert werden, die Schichten lassen sogar die Annahme zu, dass sie etwa 75.000 Jahre alt sind, zeigt sich das Autorenteam begeistert: "Das macht sie zu der ältesten dekorierten Höhle in Frankreich, wenn nicht sogar in Europa!"

Je nachdem, was man als "Dekoration" versteht, ließe sich über diese Aussage diskutieren. Immerhin wurden im Südwesten Frankreichs Gebilde aus Tropfsteinen entdeckt, die wohl ebenfalls von Neandertalern arrangiert wurden und nochmals 100.000 Jahre älter sind. Artefakte dürften sogar schon von anderen Spezies mit Einkerbungen verziert worden sein. Dafür sprechen Funde von fein gravierten Muschelschalen auf der Insel Java, die mehr als 400.000 Jahre alt sein dürften und Homo erectus zugeschrieben wurden. In jedem Fall machen diese Beispiele einmal mehr deutlich, dass nicht nur moderne Menschen komplexe und vielfältige Aktivitäten wie das Verzieren ihrer Umgebung ausübten.
(Julia Sica, 22.6.2023)

Studie
Plos One:
"The earliest unambiguous Neanderthal engravings on cave walls: La Roche-Cotard, Loire Valley, France"

Neandertaler gravierten vor 75.000 Jahren ihre Höhlen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#20
VORFAHRE MIT KÖPFCHEN
Neandertaler war ebenso intelligent wie Homo sapiens
Unser nächster Verwandter beherrschte nicht nur das Feuer, er nutzte es auch, um damit seine Nahrung zuzubereiten, wie eine aktuelle Studie zeigt
Der Neandertaler war keineswegs der tumbe Höhlenmensch, als der er in der Vergangenheit gerne hingestellt wurde. In den letzten Jahrzehnten reihte sich eine Entdeckung an die nächste, die allesamt glaubhaft vermitteln, dass Homo neandertalensis wohl nicht aufgrund mangelnder Intelligenz ausgestorben ist. Er fabrizierte Klebstoff, hat das Feuer gezähmt, bewies bei der Herstellung von Werkzeugen zur Lederbearbeitung großes technisches Geschick, hat sich womöglich künstlerisch betätigt und machte – wie zuletzt festgestellt – auch Jagd auf Höhlenlöwen, um sich in ihre Felle zu kleiden.
Dass der Neandertaler dem Homo sapiens in Sachen Intelligenz tatsächlich in nichts nachstand, konnte nun eine Gruppe von Forschenden einmal mehr belegen – und zwar unter anderem anhand seiner raffinierten Fertigkeiten am Herd. Grundlage dieser Erkenntnisse, die im Fachjournal "Plos One" präsentiert wurden, sind die Resultate von Ausgrabungen, die über zwei Jahrzehnte hinweg in der Gruta de Oliveira in Portugal durchgeführt worden waren. Die Höhle gilt als eine der bedeutendsten archäologischen Stätten aus dem europäischen Mittelpaläolithikum.


Der Neandertaler dürfte uns äußerlich weitgehend ähnlich gewesen sein. Vor allem aber war er uns auch intelligenzmäßig ebenbürtig.
Foto: Neanderthal Museum

Feuer als zentrales Element
"Die Neandertaler waren zu symbolischem Denken fähig, konnten künstlerische Objekte herstellen, wussten, wie sie ihren Körper mit persönlichen Ornamenten schmücken konnten, und hatten eine äußerst abwechslungsreiche Ernährung", sagte Diego Angelucci, Archäologe von der Universität von Trient und Autor der Studie. "Außerdem können wir aufgrund unserer Ergebnisse mit Sicherheit sagen, dass Neandertaler üblicherweise gekochte Nahrung zu sich nahmen. Alleine schon diese Fähigkeit bestätigt, dass sie genauso geschickt waren wie der Homo sapiens."

Zwar ist es keineswegs neu, dass Feuer im Alltag von Homo neandertalensis eine Rolle spielte. Allerdings ist es eine Sache, Brände zu nutzen, die durch natürliche Prozesse wie beispielsweise Blitze ausgelöst werden, und eine völlig andere, das Feuer aktiv zu entfachen, es mit Brennbarem am Leben zu erhalten, um damit zu kochen, zu heizen und es zur Verteidigung einzusetzen. Dass dies alles der Fall war, ergibt sich nach Überzeugung der Forschenden aus den Funden in der Gruta de Oliveira. "In dieser Studie konnten wir zweifelsfrei zeigen, dass für die Neandertaler das Feuer ein zentrales Element in ihrem täglichen Leben war", sagte Angelucci.

Ausgedehntes Höhlennetz
Das Besondere an dieser Höhle in Zentralportugal ist, dass zwischen 1989 und 2012 mehr als 20 Jahre lang systematisch Ausgrabungen vorgenommen wurden. Die Arbeiten wurden von einer internationalen Gruppe von Archäologinnen und Archäologen unter der Leitung von João Zilhão (Universität Lissabon) durchgeführt, der die Studie zusammen mit Diego Angelucci und Mariana Nabais (IPHES, Katalanisches Institut für Paläoökologie und soziale Evolution, Tarragona) verfasste.


Die Gruta de Oliveira in Zentralportugal mag von außen nicht viel hermachen. In ihrem Inneren entdeckten Archäologinnen und Archäologen jedoch zahlreiche Beweise für die Fähigkeiten der Neandertaler, das Feuer für sich zu nutzen.
Foto: João Zilhão

Die Höhle ist Teil des Karstsystems von Almonda, einem ausgedehnten Netzwerk von Höhlen in der Nähe einer ergiebigen Quelle, die in verschiedenen prähistorischen Epochen bewohnt wurden. Die ältesten Schichten der Gruta de Oliveira stammen aus der Zeit vor etwa 120.000 Jahren, die jüngsten aus der Zeit vor etwa 40.000 Jahren. Man nimmt an, dass Neandertaler diesen Ort in der Zeit vor 100.000 bis 70.000 Jahren bewohnt haben. Zu dieser Zeit hatte es Homo sapiens noch nicht bis nach Europa geschafft.

"Für uns ist Almonda ein Geschenk. Wir haben dort im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Artefakten und Überresten gefunden, von Spuren aus dem Jungpaläolithikum bis hin zu Steinsplittern aus der Moustérienkultur ist wirklich alles dabei", so Angelucci.

Ein Dutzend Herdstellen
Was die Aufmerksamkeit der Archäologen im Besonderen erregte, waren die Feuerstellen. Diese Herdstellen waren offensichtlich mit Bedacht eingerichtet und genutzt worden. Insgesamt entdeckten die Wissenschafter auf einer Ausgrabungsfläche von etwa 30 Quadratmetern und in sechs Metern Tiefe in verschiedenen stratigrafischen Ebenen rund ein Dutzend dieser unverwechselbaren kesselartigen, runden Strukturen.

An diesen Feuerstellen wurde auch gekocht, das belegen Überreste im Inneren und in der Nähe. "Wir haben verbrannte Knochen, verkohltes Holz und Aschenreste gefunden. Und das Gestein darunter wies Spuren von fortdauernder Hitzeeinwirkungen auf", sagte Angelucci. "Das ist ein entscheidendes Detail, denn es sagt uns, dass sich die Struktur an besonderen Stelle befand, die sich über lange Zeit nicht veränderte. Das Feuer war fundamentales Element in ihrem täglichen Leben, es macht den Ort gemütlicher und förderte das soziale Miteinander."


Mehr als 20 Jahre lang gruben die Forschenden in verschiedenen Teilen der Gruta de Oliveira.
Foto: João Zilhão

Vor allem Fleisch
Und was haben die Neandertaler hier normalerweise gekocht und gegessen? Fleisch spielte für die einstigen Bewohnerinnen und Bewohner der Gruta de Oliveira offenbar eine wichtige Rolle in ihrem Menüplan, denn das Team fand Überreste von im Feuer geschmorten Ziegen, Hirschen, Pferden, Auerochsen, Nashörnern und Schildkröten. An anderen Ausgrabungsorten mit Zugang zum Mittelmeer war das anders. In der Nähe von Cartagena in Spanien hatte man etwa Spuren gefunden, die auf Fische, Muscheln und Mollusken und sogar geröstete Pinienkerne als Nahrungsmittel hinwiesen.

Wie die Neandertaler ihre Herdfeuer entfacht haben, stellt die Forschenden allerdings noch vor ein Rätsel. "Vielleicht gingen sie vor wie die Menschen in der Jungsteinzeit. Sie könnten Feuersteine gegen einen anderen Stein geschlagen haben, um mit den entstehenden Funken einen Zunder, etwa ein trockenes Vogelnest, in Brand zu stecken", mutmaßt Angelucci. Diese prähistorische Technik dürfte auch Ötzi verwendet habe, wie entsprechende Untersuchungen seiner Habseligkeiten gezeigt hatten.

Wie bei Homo sapiens zu Hause
Wie ähnlich sich in dieser Hinsicht Neandertaler und moderner Mensch waren, ließ sich ebenfalls aus den Ausgrabungen herauslesen. Jüngere Funde aus der Gegend, die auf das Jungpaläolithikum zurückgehen und von Homo sapiens stammten, zeigten fast dasselbe Bild wie jenes aus der Neandertalerzeit. "Das Leben, das sie in diesen Höhlen führten, gestaltete sich also in ganz ähnlicher Weise", sagte Angelucci. Aufgrund dieser Parallelen ließen sich kaum Unterschiede in ihren Fähigkeiten und ihrer Intelligenz beobachten, so der Archäologe.
(Thomas Bergmayr, 18.10.2023)

Studie
Plos One: "Formation processes, fire use, and patterns of human occupation across the Middle Palaeolithic (MIS 5a-5b) of Gruta da Oliveira (Almonda karst system, Torres Novas, Portugal)."

Neandertaler war ebenso intelligent wie Homo sapiens
 
Oben