Modifiziertes Strafrecht während des Nazi-Regimes

josef

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#1
Strafrecht im Nationalsozialismus: Abschreckung und Vergeltung

Das Dritte Reich modifizierte das Strafrecht, "um das Wohl des eigenen Volkes zu schützen"...
Teil eins der Reihe

Ausgehend von der Idee eines auf das Wohl der Volksgemeinschaft gerichteten Führer-Staates, setzten sich die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden oder konform gehenden Juristen bereits ab 1933 entschieden für eine Neugestaltung des Strafrechts ein. Ende 1933 wurde im Auftrag Hitlers eine Amtliche Kommission zur Neugestaltung des Strafrechts unter der Leitung des Justizministers Franz Gürtner gebildet, der namhafte Universitätsprofessoren und Staatssekretäre angehörten.

Wenngleich sich Hitler weigerte, den Mitte Dezember 1939 vom Justizministerium vorgelegten Entwurf für ein neues Strafgesetz zu unterzeichnen (Hitlers Unwilligkeit, sich auf Normen festzulegen, war notorisch), hatten die Arbeiten der NS-Juristen und die Verschiebungen auf der Ebene der Strafrechtstheorie einen erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung und das soziale Leben im Dritten Reich. Die von den NS-Theoretikern ab 1933 geforderten Reformen des Strafrechts konzentrieren sich im Wesentlichen auf folgende Punkte:

- Das Strafrecht als Abschreckungs- und Vergeltungsinstrument
- "Ethisierung" des Strafrechts
- Entwicklung eines Willensstrafrechts
- Umformung des Grundsatzes "nullum crimen, nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz) in das Prinzip
"nullum crimen sine poena" (kein Verbrechen ohne Strafe) und Aufhebung des Analogieverbots
- Neuformulierung der Straftatbestände und Wiedereinführung der Ehrenstrafe

In drei Blogbeiträgen sollen diese Punkte beleuchtet werden. Im ersten geht es um das Strafrecht als Abschreckungsinstrument und dessen Ethisierung, im zweiten wird die Entwicklung des Willensstrafrechts behandelt sowie die Wiedereinführung der Ehrenstrafe, während ich im letzten Beitrag die Radikalisierungen im Krieg und die Entmachtung der Justiz durch die Polizei beleuchten werde.

Das Strafrecht als Abschreckungs- und Vergeltungsinstrument
Erklärtes Ziel des NS-Staates war es, dem liberalen Strafrechtsdenken in der Weimarer Republik, das neben dem Verzicht auf die Todesstrafe und die Ehrenstrafe auch – im Anschluss an die Liszt’sche Schule – den Resozialisierungsgedanken stark machte, eine autoritäre Strafrechtskonzeption entgegenzusetzen. Dies drückt sich neben der Abwertung des Begriffs des Rechtsguts auch in der radikalen Betonung des Abschreckungsgedankens und dem Vergeltungsmoment als dem Sinn der Strafe aus.

Eine liberale Strafrechtskonzeption sieht den Sinn des Strafrechts im Schutz der grundlegenden Rechtsgüter, also vorrangig im Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum. Einige NS-Theoretiker – zu nennen ist hier vor allem Roland Freisler (ab 1942 berüchtigter Präsident des Volkgerichtshofs) – definierten den Sinn des Strafrechts anders: An die Stelle des Schutzes von Rechtsgütern tritt bei Freisler der Schutz von "Grundwerten des Rechts", zu denen er "Rasse, Ehre, Arbeit, Boden und Staat" zählt.

Aus liberaler Sicht sollen im Strafrecht die negativen Folgen bestimmter Handlungs- und Verhaltensweisen deutlich zum Ausdruck kommen – die Strafe ist demnach eine Reaktion auf eine bestimmte Tat und stellt ein Übel dar. Die Vergeltung als Zweck des Strafrechts wird jedoch explizit abgelehnt. Die Idee der Vergeltung ist mit Rache, Zorn und Hassgefühlen verknüpft und stellt eine atavistische Form des staatlichen Umgangs mit Rechtsverstößen dar. Darum distanzieren sich moderne Theorien des Strafrechts vom Prinzip der Vergeltung und der damit assoziierten Instanz einer erzürnten, nach Sühne und Rache verlangenden Autorität. (Dies bedeutet nicht, Opfern von Verbrechen berechtigte Gefühle von Ressentiment, sogar von Wut und Zorn, abszusprechen. Doch staatliche Gerechtigkeit hat sich selbstredend von solchen Gefühlen fernzuhalten.)


foto: public domain
Reichsgesetzblatt aus dem Jahr 1938.

Nach den Nazi-Juristen stellt aber gerade die Vergeltung die zentrale Komponente im Strafrechtsdenken dar. Wie etwa der Strafrechtstheoretiker Edmund Mezger schrieb: "Die Vergeltung begangener Verbrechen erweist sich damit als ein unentbehrliches Mittel künftiger Verbrechensverhütung."

Für die NS-Strafrechtstheoretiker zählte vorrangig die generelle Abschreckung (Generalprävention), nicht die Verbrechensvorbeugung mit Bezug auf den einzelnen Täter (Spezialprävention). Hellmuth Mayer, ein NS-Jurist, begründet in den folgenden Worten, warum allein die durch Vergeltung gewährleistete Generalprävention entscheidend sein sollte:

"Allen spezialpräventiven Maßnahmen fehlt das starke sittliche Pathos der vergeltenden Strafe, keine appelliert unmittelbar an die sittliche Selbstverantwortung, keine spricht ein deutliches Verdammungsurteil über die böse Tat. Jede spezialpräventive Strafbegründung bleibt unweigerlich in der Praxis des Lebens an den bloßen Nützlichkeitsgedanken hängen. Damit beraubt aber das spezialpräventive Denken das Strafrecht seiner besten Kraft. Soweit eine Erweichung in dem Strafrecht der Weimarer Episode zu verzeichnen ist, sind hier die Ursachen zu finden. Gewisse bösartige Entartungserscheinungen konnten sich nur dadurch entwickeln, weil dem Untermenschentum nicht mehr mit dem Anspruch des sittlich besseren Rechts entgegengetreten wurde."

Die "Ethisierung" des Strafrechts
Die NS-Theoretiker sprachen sich für eine Vereinheitlichung von Recht und Moral aus. Diese Moralisierung des Rechts bedeutet, dass die Grenze zwischen der Gesetzesverletzung und der Verletzung moralischer Standards verschwimmt. Da die ethische Bewertung ins Zentrum der strafrechtlichen Verurteilung rückt, wird der Wille des Täters strafrechtlich zentral, wie etwa folgende Ausführungen Wilhelm Sauers klar unterstreichen:

"Das eigentlich ethische wie kriminelle Element ist jener Willensentschluß, der über Wesen und Wert einer Persönlichkeit entscheidet, weil er als deren Schöpfung erscheint. Wie nach der Kant-Fichteschen Ethik nichts gut ist als allein der gute Wille, so liegt umgekehrt der Schwerpunkt des Verbrechens im bösen Willen. ... Für eine unverbindliche Auffassung ist das Kennzeichen des Verbrechers aber von jeher der moralische verwerfliche Wille gewesen, der eben das materiale Wesen der Schuld ausmacht. Verdunkelt konnte jener Zusammenhang von Verbrechen und moralischer Verwerflichkeit nur werden, als eine übertrieben liberalistische Auffassung einen haarscharfen Strich zwischen Moral und Recht, wie zwischen Willen und äußerem Verhalten zog."

Damit veränderten sich auch Strafzweck und Strafbemessung. Im "ethisierten Schuldrecht" des Nationalsozialismus wurde die Strafe zur ethisch berechtigten Reaktion der Volksgemeinschaft, die Vergeltung und Sühne verlangte. Dies führte zu einer eingehenden Debatte, wie weit die Gesinnungen, aber auch der Typus des Täters strafrechtlich relevant sein sollten. Letztlich mündeten diese Kontroversen in die Entwicklung eines Willensstrafrechts, das eine Art Synthese von Gefährdungs-, Gesinnungs- und Täterstrafrecht darstellte.
(Herlinde Pauer-Studer, 5.3.2019)
Strafrecht im Nationalsozialismus: Abschreckung und Vergeltung - derStandard.at
 

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#2
Strafrecht im Nationalsozialismus: Kein Verbrechen ohne Strafe

In der NS-Zeit musste jede kriminelle Handlung bestraft werden. Zusätzlich wurde die Ehrenstrafe wieder eingeführt, um das Volk zu erziehen.
Teil zwei der Serie

Unter den regimekonformen Strafrechtstheoretikern bestand ab Mitte der 1930er-Jahre weitgehend Konsens darüber, dass ein Willensstrafrecht den weltanschaulichen und politischen Vorstellungen des Nationalsozialismus am besten gerecht werde. Auch die amtliche Strafrechtskommission sprach sich für ein Willensstrafrecht aus. Maßgeblich für das Willensstrafrecht war die These, dass der verbrecherische Wille des Täters und nicht vorrangig der Taterfolg für die strafrechtliche Schuldzumessung ausschlaggebend sei.

Das tätergebundene Willensstrafrecht
Die breite Befürwortung eines Willensstrafrechts – der verbrecherische Wille steht im Mittelpunkt der Schuld- und Strafzuschreibung – bewirkte eine Subjektivierung des Strafrechts und die Tendenz zur Entwicklung einer Tätertypologie. Damit einher ging auch eine von den Rechtstheoretikern bejahte Verschärfung der strafrechtlichen Maßnahmen.

Das Willensstrafrecht sollte das bisher geltende "Erfolgsstrafrecht", das vom objektiven Tatbestand ausgeht, ersetzen. Dahinter stand die Maxime, nicht erst auf eine erfolgte Rechtsverletzung zu reagieren, sondern jede Schädigung der Volksgemeinschaft bereits in der vorbereitenden Willensartikulation zu unterbinden: "möglichst früh und mit aller Macht!" – so lautete Roland Freislers Vorgabe.

Die Beurteilung der Straftat sollte primär von der Willenshaltung des Täters abhängig gemacht werden. "Bestraft wird", wie Freisler betonte, "der Wille des Täters, nicht die Tat." Das Strafrecht mutierte zu einer "dauernden Selbstreinigungsapparatur des Volkskörpers". Der Feind der Volksgemeinschaft war der Wille des "Friedenstörers", der "Träger des asozialen" und "des anarchischen Prinzips", "auf den", so Freisler, "das Auge des Strafrechts stets gerichtet sein muß".


foto: bundesarchiv (cc 3.0)[creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en]
Volksgerichtshof 1944. Im Bild (v. li.): Hermann Reinecke: General der Infanterie, Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofs, und Ernst Lautz, Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof.

Die Vertreter des Willensstrafrechts sprachen sich für eine Vorverlagerung der strafrechtlichen Zugriffsmöglichkeiten aus. Vonseiten des Staates sollte nach Möglichkeit bereits in das Planungsstadium eingegriffen und die Tatausführung unterbunden werden. Mit Beginn der Tatplanung werde notwendig, so die These, dass sich der Täter Strafdrohungen gegenübersehe.

"Volksverräter" und "Volksschädling"
Wenngleich die Vertreter des Willensstrafrechts nicht die Tatbestände rein durch Täterkategorien ersetzen wollten, leistete das Willensstrafrecht einer Tätertypologie Vorschub. Diese Nähe zu einer Tätertypologie ist verständlich: Wenn nicht erst der Tatversuch oder Taterfolg zählt, sondern das Auge des Gesetzes sich bereits auf den bösen Willen richten soll, von dem Unheil ausgeht, dann muss es entsprechende Indizien des Erkennens dieses gefährlichen Willens geben. Naheliegend ist es, deshalb von bestimmten Typen von potenziellen Tätern auszugehen. Der Tätertyp ist gleichsam das Bindeglied, um die Lücke zwischen nicht erfolgter, aber befürchteter Tat und dem verbrecherischen Willen zu schließen. Dies erklärt, warum im nationalsozialistischen Strafrechtsdenken die Täterkategorien – der "Gewohnheitsverbrecher", der "Volksschädling", der "Volksverräter", der "Korruptionsverbrecher" – so großes Gewicht haben. Auf diese Tätertypen nehmen strafrechtliche Regelungen im NS explizit Bezug.

Wie stark das Willensstrafrecht auch Elemente des Täterstrafrechts integrierte, verdeutlicht Mezgers Akzentuierung des Konzepts der "Lebensführungsschuld", das auf dem Charakter des Täters aufbaut. Mezger schreibt: "Schuld ist Tat-Schuld, aber auch Lebensführungs-Schuld, und deshalb richtet sich die Strafe nicht nur nach der Einzel-Tat, sondern auch nach der Persönlichkeit des Täters, soweit aus ihr gegen den Täter ein Vorwurf erhoben werden kann."

Eine Konsequenz des Willensstrafrechts war, dass alle an einer Straftat Beteiligten im gleichen Ausmaß zu bestrafen sind. In der Bestimmung des Strafausmaßes sollte der Unterschied zwischen Beihilfe zur Tat, Anstiftung zur Tat und erfolgreicher Tatausführung entfallen. Maßgeblich wurde ein "weiter Täterbegriff", der alle an einer Straftat Beteiligten unter den "verbrecherischen Gesamtwillen" subsumierte.

"Nullum crimen sine poena" und die Aufhebung des Analogieverbots
Die Konzentration auf größtmögliche Abschreckung bedingte, dass im Nationalsozialismus ein weiterer wesentlicher Grundsatz der bisherigen Strafrechtspraxis, das Analogieverbot, aufgegeben wurde. Das Verbot der Analogie im Strafrecht (sofern die Analogie zur Neuschöpfung oder Ausdehnung von Straftatbeständen oder zur Verschärfung von Strafen beiträgt), bildet ein Kernelement des liberalen Strafrechts. Gerade aber die Schaffung neuer Straftatbestände und harte Strafen waren erklärte Ziele des NS-Staates.

Selbst die amtliche Strafrechtskommission unter der Leitung des Justizministers Gürtner empfahl 1935 die allgemeine Zulassung der Analogie im Strafrecht, womit der Grundsatz Paragraf 2 des seit 1871 geltenden Strafrechts "Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde" (nulla poena sine lege) außer Kraft gesetzt wurde.

Dieses Prinzip, das eigentlich die Bürger und Bürgerinnen vor richterlicher Willkür schützen soll, galt den NS-Theoretikern als die "Magna Charta des Verbrechertums". Denn eine solche Voraussetzung ermögliche es einem Täter, der Strafe durch eine unzureichende Fassung eines Gesetzes oder durch eine Lücke im Gesetz zu entgehen. Dementsprechend wurde die Formel nullum crimen, nulla poena sine lege (kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz) von den NS-Juristen in den Grundsatz nullum crimen sine poena (kein Verbrechen ohne Strafe) umgeformt. Jede Form von Verbrechen, selbst wenn diese nicht einem gesetzlich festgelegten Delikt entspreche, verlange nach Strafe und Sühne.

Kein Verbrechen ohne Strafe
Der Vorschlag der amtlichen NS-Strafrechtskommission zur Neuformulierung des Paragraf 2 des Strafgesetzbuches lautete: "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesunder Volksanschauung Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft."

Mit der Auflage, "gesunde Volksanschauung" durch "gesundes Volksempfinden" zu ersetzen, wurde diese Formulierung dann Teil des Artikels 1 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935 (Reichsgesetzblatt RGBL. I, 839).

Dem Richter wurde nun die Aufgabe übertragen, den hinter einer Regelung stehenden Rechtsgedanken zu erkennen und auf analoge Tatbestände zu übertragen. Damit erweiterte sich der richterliche Ermessensspielraum erheblich. Einschränkend wurde nur verlangt, dass der Richter nicht zu stark abstrahieren dürfe. Es gelte, den in einer Strafnorm enthaltenen Grundgedanken so zu verallgemeinern, dass sich die konkrete Verbindung mit dem gesetzlichen Tatbestand nicht völlig löse. Dem Richter wurde somit zugestanden, relativ eigenständig zu befinden, was als strafwürdige Tat zu gelten hatte – solange er sich im Rahmen der völkischen Sittenordnung bewegte und dem "gesunden Volksempfinden" Rechnung trug.

Die Wiedereinführung der Ehrenstrafe und die Zweispurigkeit der strafrechtlichen Maßnahmen (Sicherungsverwahrung)
Treue und Ehre waren leitende Ideen des neuen Strafrechtsdenkens. Folglich sprachen sich eine Reihe von NS-Juristen für die Wiedereinführung der Ehrenstrafe aus. Der gewichtigste Vorbehalt gegen die Ehrenstrafe – dass der Staat nicht über Gesinnungen richten dürfe – sei, wie der NS-Theoretiker Georg Dahm betonte, mit der Überwindung des liberalen Rechtsdenkens obsolet geworden. In einem System, in dem "Recht und Sittlichkeit, Strafrecht und Volksanschauung zusammenwachsen", sei die Ehrenstrafe "nicht hinwegzudenken (...), denn jede wirkliche Gemeinschaft setzt Führung und Gefolgschaft, also Treue und Ehre ihrer Mitglieder, voraus".

Was genau war mit "Ehre" gemeint? Dahm bleibt eine genaue Definition schuldig und begnügt sich letztlich mit der vagen Formulierung, dass die Ehre ein Wertbegriff und "Ausdruck des jeder Gemeinschaft Wesentlichen" sei. Der Begriff der Ehre mutierte zu einer pathetischen Formel, mit der eine dem NS-Regime dienliche persönliche Haltung der Selbstverpflichtung eingemahnt und kultiviert wurde. Dahms Erklärung der mit der Ehrenstrafe verknüpften Sanktionswirkungen unterstreicht dies. Die Ehrenstrafe entspreche einer "politischen Funktion der Strafe", da sie "das Mittel zur Erziehung des Volkes" verkörpere, indem sie "von besonderer Bedeutung für alle Verbrechen (ist), deren Bestrafung eine symbolhafte und integrierende Bedeutung hat".

"Gegen das Volk"
Die Verlagerung auf den Begriff der Ehre hatte damit zu tun, dass im nationalsozialistischen Strafrechtdenken die Rechtswidrigkeit nicht eine Verletzung eines Rechtsgutes darstellte, sondern die Verletzung einer sittlichen Pflicht gegenüber der Gemeinschaft.

Die Betonung von Ehre und Treue hatte auch Konsequenzen für die Neuformulierung von Straftatbeständen, die besonders vom Reichsrechtsamt der NSDAP forciert wurden. So wurde die Kategorie der Verbrechen "gegen das Volk in seinen Substanzwerten" geschaffen, die den Volksverrat, den Verrat an der NS-Bewegung, aber auch die Zersetzung von Volkskraft und die Untergrabung der NS-Weltanschauung umfassten und die in der ideologisch kontrollierten Rechtsprechung des Dritten Reiches eine verhängnisvolle Rolle spielten. Gravierende Folgen hatte auch die Verbindung von Rassenideologie und Strafrecht, denn zu den Verbrechen gegen "Rasse und Volkskraft" zählten die "Angriffe gegen die biologischen Substanzwerte", also "die unmittelbaren Angriffe auf Erbgut, Fortpflanzung und Volksgesundheit". Als kriminelle Straftat galt gleichfalls die "Vermischung des Rasseerbguts mit artfremdem Erbgut und die Fortpflanzung kranken Erbgutes".

Da im NS-Strafrecht die "Tilgung der sittlichen Verwerflichkeit und Sicherung gegen soziale Gefährlichkeit" zentral waren, sprachen sich eine Reihe von NS-Strafrechtstheoretikern für die sogenannte "Zweispurigkeit" der strafrechtlichen Sanktionen aus: Neben die Strafen im klassischen Sinn traten die Sicherungsmaßregeln. Dies waren strafrechtliche Maßnahmen, die zwar tatbezogen waren, die aber insbesondere auf die künftige Verbrechensverhütung "nach der Persönlichkeit des Täters und seiner sozialen Gefährlichkeit" zielten. Zu diesen "Maßregeln der Sicherung, Besserung und Heilung" zählten die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt, die Unterbringung in einem Arbeitshaus, die Entmannung (Kastration) gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher, die Untersagung der Berufsausübung und die Sicherungsverwahrung.

Sicherungsverwahrung und Schutzhaft
Die Sicherungsverwahrung richtete sich gegen sogenannte "Gewohnheitsverbrecher" und trat als Maßregel neben die Strafverschärfung für Gewohnheitsverbrecher. Bei Vortaten oder Vorverurteilungen konnten Gewohnheitsverbrecher mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft werden; wenn die neue Tat ein Verbrechen darstellte, drohte Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren. Handelte es sich aber um "gefährliche Gewohnheitsverbrecher", so konnte der Richter qua Gesetz zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwahrung anordnen (Grundlage war das Gesetz über gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln zur Sicherung und Besserung vom 24. November 1933).

Die Sicherungsverwahrung erfolgte in der Regel so lange, wie der Zweck dies erforderlich machte; da sie zeitlich nicht begrenzt war, konnte sie lebenslangen Freiheitsentzug bedeuten. Die Idee war, die Volksgemeinschaft über den Zeitpunkt der Strafverbüßung hinaus vor weiteren Verbrechen und vor Wiederholungstätern zu schützen. Vorgesehen war eine dreijährige Nachprüfung. Die Entlassung konnte aber widerrufen werden. Wie Mezger bemerkte: "Die, wenn nötig lebenslange, Sicherungsverwahrung ist eines der wichtigsten Kampfmittel des neuen Staates gegenüber dem gefährlichen Gewohnheits- und Berufsverbrechertum."

Laut Mezger wurde in den Jahren 1933 bis 1936 insgesamt über 6.160 Personen Sicherungsverwahrung verhängt; mit Stichtag 1. Jänner 1937 befanden sich 3.258 Gefangene (3.127 Männer, 137 Frauen) in Sicherungsverwahrung.

Wichtig ist, den Unterschied zwischen der Sicherungsverwahrung und der Schutzhaft zu beachten. Die Sicherungsverwahrung war Teil der strafrechtlichen Maßregeln zur Sicherung und Besserung von Tätern und somit eine Maßnahme der Justiz, die von den Gerichten ausgesprochen wurde. Die Schutzhaft, die eine Einweisung in ein Konzentrationslager bedeutete, war hingegen eine kriminalpolizeiliche Maßnahme zur Verteidigung der Volksgemeinschaft gegenüber Volks- und Staatsfeinden und fiel in den Zuständigkeitsbereich der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Die Schutzhaft war in Paragraf 1 des Gestapo-Gesetzes als "Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei" definiert, die "zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen" angeordnet werden konnte – und zwar gegen alle Personen, die eine Gefahr für Volk und Staat bedeuteten. Die Schutzhaft wurde rein auf Basis eines Schutzhaftbefehls des Geheimen Staatspolizeiamtes angeordnet. Das gesamte Verfahren und die Handhabung der Schutzhaft bewegte sich außerhalb der Justiz.
(Herlinde Pauer-Studer, 6.3.2019)
Strafrecht im Nationalsozialismus: Kein Verbrechen ohne Strafe - derStandard.at
 

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#3
Strafrecht im Nationalsozialismus: Gewalt und Terror in der Kriegszeit

Die Polizei wurde im NS-Reich zur Justiz selbst. Und in den besetzten Gebieten führte man das deutsche Strafrecht ein.

3. und letzter Teil.
Kennzeichnend für das Nazi-Regime war eine äußerst brutale Handhabung des Strafrechts. Die Hinwendung zum blanken Terror hing damit zusammen, dass sich im Strafvollzug zunehmend eine Rivalität von Justizstrafrecht und Polizeistrafrecht ergab, in dem sich letzteres durchsetzte. Ein Auslöser dieser Entwicklung war, dass Heinrich Himmler, der ab 1936 neben seinem Amt als Reichsführer-SS auch das Amt des Chefs der Deutschen Polizei inne hatte, mit allen Mitteln seinen Machtbereich auf die gesamte innere Sicherheit auszudehnen versuchte.

Radikalisierung im Krieg und Entmachtung der Justiz durch die Polizei
Zunehmend verlor die Justiz an Kompetenz. Zunehmend wurde das Justizprinzip in der Strafrechtsanwendung ausgehöhlt und die Position der Justiz als vorrangiges Organ der Strafrechtsanwendung von den Sicherheitsorganen der Polizei, insbesondere der Geheimen Staatspolizei unterwandert. So, dass sich, wie Gerhard Werle in seiner brillanten Studie "Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich" schreibt, "die Polizei als ein der Justiz gleichgeordnetes oder sogar übergeordnetes Organ der Verbrechensbekämpfung etablierte". Parallel zu der Strafrechtspflege durch die Justiz entwickelte sich somit eine polizeiliche Strafjustiz, die durch die Eingliederung der Polizei in den Autoritäts- und Herrschaftsbereich Himmlers eine Radikalisierung mit unmenschlichen Konsequenzen erfuhr.

Bereits ab 1933 kam es zu polizeilicher Freiheitsentziehung ohne vorherige oder nachträgliche Gerichtsverfahren. Die Vorbeugungshaft bei nicht-politischen Verbrechen und die Schutzhaft bei politischen Verbrechen waren mit Einweisung in ein Konzentrationslager verbunden. Konkret bedeutete dies, dass Straftäter in Konzentrationslager eingewiesen wurden, wo sie über die Verbüßung ihrer Haftstrafen hinaus festgehalten wurden und vielfach keine Chance auf Entlassung und Rückkehr in ein ziviles Leben hatten.

Neue Dynamik für Gewalt und Terror
In den Anfangsjahren des Dritten Reichs stützte sich das polizeiliche Vorgehen auf die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933" (die sogenannte Reichstagsbrandverordnung), die erlaubte, bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zur Sicherung des inneren Friedens zu setzen. Während sich zunächst die Justiz als das für die Konzentrationslager zuständige Organ verstand und Anzeigen, die von Angehörigen, deren Verwandte in KZs zu Tode kamen, durchaus verfolgte, wurde ab 1936 und in den Folgejahren das KZ-System aus dem Justizbereich ausgegliedert und der SS unterstellt. Damit konnte sich die Willkür ungehindert ausbreiten und die KZ-Haft zum Terrorinstrument des Regimes werden.

Die Tendenz zu Gewalt und Terror, die von Beginn an die Strafrechtskultur des Dritten Reichs bestimmte, gewann besonders unter den Bedingungen des Kriegs an Dynamik. Zahlreiche Gesetze, die zu Beginn und im Laufe des Kriegs geschaffen wurden, bedeuteten eine extreme Verschärfung der Strafzurechnung und der Strafmaßnahmen. Als Beispiele seien die "Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939", die "Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939" und vor allem die "Verordnung zum Polen- und Judenstrafrecht vom 4. Dezember 1941" genannt.


foto: bundesarchiv (cc 3.0)[creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en]
Hitler im Reichstag 1939.

Die Verordnung gegen Gewaltverbrecher sollte wie die Volksschädlingsverordnung die "innere Front" im Kriege sichern. Das Gesetz besagte, dass jede mit einer Waffe ausgeführte Gewalttat mit dem Tode zu bestrafen sei. Explizit genannt wurden Notzucht, Straßenraub und Bankraub; das Gesetz sollte aber alle mit Gewaltanwendung verknüpften schweren Taten erfassen. Das Gesetz galt rückwirkend. Die Tatbestände und der "Waffen-Begriff" wurden sehr weit ausgelegt. Beihilfe und Versuch konnten, da die Strafmilderung entfiel, auch mit der Todesstrafe geahndet werden.

Das Gesetz war stark von Ideen des Willensstrafrechts geprägt: Der Träger jeder feindlichen und die innere Sicherheit gefährdenden verbrecherischen Willenskundgebung sollte nicht nur bekämpft, sondern "ausgemerzt" werden. Bei der Verurteilung spielte neben der Tat auch eine Rolle, wie weit die Persönlichkeit des Täters die Zuordnung zur Kategorie "Gewaltverbrecher" rechtfertigte. Die Rechtsprechung orientierte sich zunehmend am Tätertyp und daran, wie weit ein Täter die Gewaltverbrechereigenschaft erfüllte, wobei bereits bei Beginn der Tatausführung diese Voraussetzung erfüllt sein konnte. Durch die weite Auslegung der Tatbestände, die starke Einbeziehung von typisierenden Persönlichkeitsmerkmalen und die kriegsbedingte alarmierte Stimmung, waren dem richterlichen Ermessensspielraum kaum Grenzen gesetzt.

Das Strafrecht in den "Besetzten Ostgebieten"
Die Polen- und Judenstrafrechtsverordnung vom 4. Dezember 1941 verschärfte die Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 6. Juni 1940. Die Verordnung drohte in Absatz I (2) Polen und Juden die Todesstrafe an, "wenn sie gegen einen Deutschen wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum eine Gewalttat begehen"; gleichfalls drohte Polen und Juden gemäß Absatz I (3) die Todesstrafe, in weniger schweren Fällen Freiheitsstrafe, "wenn sie durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden, insbesondere deutschfeindliche Äußerungen machen oder öffentliche Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen abreißen oder beschädigen, oder wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen".

Wesentlich ist auch Absatz II, in dem klar der Grundsatz der Analogie zum Tragen kommt: "Polen und Juden werden auch bestraft, wenn sie gegen die deutschen Strafgesetze verstoßen oder eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient."

Die Grenze zwischen Politik und Recht war im Polenstrafrecht aufgehoben. Die Verordnung bot keinerlei Rechtssicherheit oder gar Schutz für Polen und Juden. Die Polen- und Judenstrafrechtsverordnung war primär ein politisches Instrument der Disziplinierung. In der auch in den Ostgebieten zwangsläufig gegebenen Konkurrenz zwischen Justiz und Polizei setzte sich klar die Linie Himmlers durch, der sich Ende 1942 mit dem Justizminister Thierack einigte, dass die Polizei die Strafgewalt in den "besetzten Ostgebieten" übernehmen sollte.

Politik wird Recht
Das Eintreten der führenden Strafrechtstheoretiker für die Aufhebung der Trennung von Recht und Politik blieb nicht leere Rhetorik: Das Recht im Dritten Reich mutierte de facto zum reinen Machtinstrument der Führung. Der Richter wurde zum Ausführungsorgan des Führerwillens. Führerverordnungen und Führeräußerungen standen im Rang einer Rechtsquelle. Das Rechtsystem war somit gezwungen, sich der wandelbaren und schwer fassbaren NS-Ideologie anzupassen.

Der rein selektive Gebrauch der Moral als Bindeglied der Gemeinschaft der Volksgenossen unterstützte die Entgrenzung in den politisch besonders sensiblen Bereichen des Strafrechts. So war das Polen- und Judenstrafrecht zwar Teil der deutschen Rechtsordnung, doch ein Teil, für den gerade das Prinzip der "völkischen Ungleichheit" und damit die ethnisch-rassisch motivierte Ausgrenzung der Rechtssubjekte konstitutiv war.

Die theoretische Grundlage war die von den Juristen propagierte Umformung des allgemeinen Gleichheitssatzes in ein völkisches Gleichheitsprinzip. Bereits in dem für die deutsche Bevölkerung geltenden Strafrecht vermischten sich Recht und Politik; doch gegenüber einer Bevölkerung, die nicht nur als andersartig, sondern als a priori ungleichwertig galt, kippte die Politisierung des Strafrechts zwangsläufig in die blanke politische Gewaltausübung. Moralische Ausklammerung bedeutete, dass die letzten Beschränkungen, die eine "völkische Moral" oder "völkische Sittlichkeit" überhaupt noch aufzubringen vermochte, entfielen.

Strafrecht und Rassenlehre
Wenngleich die Stellung der Justiz letztlich von Hitler selbst und von Himmlers SS- und Polizeimacht untergraben wurde, waren die systemkonformen Juristen Wegbereiter der dargelegten Verschiebungen im Strafrecht. Mezgers aus 1938 stammende programmatische Definition der neuen Strafrechtskonzeption brachte dies klar zum Ausdruck. Er schrieb:

"Trotz heftigen Meinungsstreits im einzelnen lässt sich die Neueinstellung im ganzen als die Verbindung eines ethisch begründeten Strafrechts mit einem biologisch begründeten Sicherungsrecht unter Betonung wertender Rechtsbetrachtung und einer neuen strafrechtlichen Ganzheitsauffassung kennzeichnen."

Das neue Denken drückte sich nicht zuletzt in der Verbindung des Strafrechts mit der Rassenlehre und der Verpflichtung zum Schutz der arischen Volksgemeinschaft vor biologisch-genetischer Unterwanderung aus. Eine besondere Rolle bei der Legitimierung der neuen Vorgaben im Strafrecht spielte die Moralisierung des Strafrechts. Was von den führenden Rechtstheoretikern als ethisch verbindlich begründet und im Sinne des "gesunden Volksempfindens" als richtig behauptet wurde, war der Hinterfragung von Seiten der einzelnen Mitglieder der Volksgemeinschaft entzogen. Strukturell entscheidend waren die Relativierung des nulla poena sine lege-Prinzips, die Aufhebung des Analogieverbotes und des Rückwirkungsverbotes wie auch die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe ("Wohl des Reiches", "Wohl des Volkes", "gesundes Volksempfinden"). Es war letztlich aber die Summe dieser Maßnahmen in einem totalitären politisch-staatlichen Kontext, die den Schritt zur Umformung des Strafrechts in ein Terrorinstrument des Staates ermöglichten.
(Herlinde Pauer-Studer, 7.3.2019)

Herlinde Pauer-Studer ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Schwerpunkt ihres ersten ERC Advanced Grants zu "Transformationen normativer Ordnungen" (2010–2015) war das Rechtssystem des NS-Regimes. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Moral von Gruppen. Zahlreiche Aufenthalte in den USA, unter anderem in Stanford, Harvard und an der New York University. Aktuelle Veröffentlichung: "'Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin'. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen", gemeinsam mit J. David Velleman, erschienen bei Suhrkamp.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Herlinde Pauer-Studer, "Einleitung. Rechtfertigungen des Unrechts" in dem Band Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, hg. von Herlinde Pauer-Studer und Julian Fink, Berlin: Suhrkamp 2014.

Weitere wichtige Literatur:
- Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1933-1944. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München: Oldenbourg 1988.

- Werle, Gerhard, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin, New York: de Gruyter 1989.

Strafrecht im Nationalsozialismus: Gewalt und Terror in der Kriegszeit - derStandard.at
 

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#5
NS-Sondergericht Wien: Heimtücke und heimliches Schlachten
Rund 3.600 Personen wurden zu teils drakonischen Strafen verurteilt. Es war ein bedeutendes Werkzeug zur Repression der Bevölkerung und zur Anpassung an die "neuen Verhältnisse"
Um ins Visier der nationalsozialistischen Justiz zu geraten, brauchte es nicht viel: Ein kritischer Kommentar über den Kriegsverlauf, das unerlaubte Schlachten eines Schweins, das Kopieren von Lebensmittelkarten oder das Sammeln von Zigaretten aus einem zerbombten Gebäude waren ein ausreichender Grund für Nachbarn, Verwandte und NSDAP-Funktionäre, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger bei der Gestapo zu melden. Diese wiederum erstattete Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, die bei den oben genannten Delikten die Anklage vor dem Sondergericht erhob.


Patriotisches Gedicht, weitergegeben von Walter D., der hierfür vom Sondergericht Wien zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.13 Sondergericht, A1 – SHv-Strafakten: Nr. 5152/47.

Gleichschaltung der österreichischen Justiz
Im Deutschen Reich wurden die Sondergerichte direkt nach der Machtübernahme 1933 installiert. Sie sollten in möglichst raschen Verfahren politische Gegnerinnen und Gegner mundtot machen. Ihre Kompetenzen wurde im Laufe der Jahre stetig erweitert, insbesondere nach Kriegsausbruch, als sie unter anderem auch für die "Kriegswirtschaftsverordnung" zuständig wurden. Nach 1939 wurden immer öfter hohe Zuchthausstrafen und die Todesstrafe verhängt.

Nach dem Anschluss ans Dritte Reich übernahm vorerst ein spezieller Senat am Oberlandesgericht Wien die sondergerichtlichen Aufgaben im ehemaligen Österreich. Die Kompetenzen des Senats wurden 1939 an die Landgerichte abgegeben, bei denen im Frühjahr 1940 eigenständige Sondergerichte eingerichtet wurden. Besetzt werden sollten sie mit besonders zuverlässigen (großteils österreichischen) Richtern. Ihnen oblag die Stigmatisierung von abweichendem Verhalten und damit der Ausschluss von "Volksgenossen" und "-innen" aus der "Volksgemeinschaft".

Differenzierung der "Volksgenossen" und "Volksgenossinnen"
Die nationalsozialistische Idee der "Volksgemeinschaft" war getragen von rassistischem und rassenhygienischem Denken: Alle "Deutschstämmigen" konnten Teil der völkischen Gemeinschaft sein, wenn sie sich ihrer als würdig erwiesen. "Fremdvölkische" wie Juden und Jüdinnen, politisch Andersdenkende, Behinderte, "Arbeitsscheue", als "asozial" Kategorisierte und Homosexuelle wurden aus ihr exkludiert. Sie wurden zu Menschen zweiter Klasse degradiert, überwacht, weggesperrt, gequält, getötet.
Die NS-Justiz beurteilte die von ihr Verfolgten umfassend, nicht nur anhand ihres Stammbaums, sondern auch aufgrund ihres Berufs, ihrer Konfession oder ihres Sexlebens. Auch vor dem Sondergericht Wien dürften diese informellen Beurteilungskriterien eine große Bedeutung bei der Urteilsfindung und für das Schicksal der Angeklagten gehabt haben.


Rudolf B. wurde vom Sondergericht Wien wegen einer "heimtückischen" Äußerung zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.13 Sondergericht, A1 – SHv-Strafakten: Nr. 5562/47.

Die Handlungsoptionen der Betroffenen
Nicht vergessen werden darf dabei, dass nicht nur die Denunziantinnen und Denunzianten und Beamtinnen und Beamten, sondern auch die Verfolgten sich der Idee der "Volksgemeinschaft" bedienen konnten. Wollten sie einer harten Strafe entgehen, hatten sie sich als vorbildliche Anhängerschaft des Nationalsozialismus und wertvolles Mitglied der deutschen Gemeinschaft zu inszenieren. So sind auch die Aussagen des Pfarrers Alois D. zu werten, der bei seinem Verhör angab, er würde immer nach dem Grundsatz "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" handeln. Er wurde dennoch vom Sondergericht Wien zu vier Jahren Haft verurteilt, die er nicht überlebte.

Insbesondere bei Verstößen gegen die "Kriegswirtschaftsverordnung" dürfte es schwierig gewesen sein, die Straftat als uneigennützig darzustellen. "Schwarzschlachtungen" standen an der Tagesordnung des Sondergerichts Wien. Lebensmittel und Rohstoffe waren streng rationiert, wer die Deckung des "lebenswichtigen Bedarfs" der Bevölkerung gefährdete, verging sich an der "Volksgemeinschaft".
So leistete die "Wahrheitsfindung" vor Gericht ihren Teil zur Repression der Bevölkerung und Verwirklichung der "Volksgemeinschaft". Durch die Ahndung selbst geringfügig abweichenden Verhaltens wurden den Menschen in ihrem Alltag enge Grenzen gesetzt. Wer sich nicht anpasste, wurde streng bestraft.
(Gabriele Hackl, 19.7.2019)

Gabriele Hackl ist seit Dezember 2018 DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und behandelt in ihrer Dissertation "Frauen und Männer vor dem Sondergericht Wien" auch die Frage nach der Wirkmächtigkeit des Konzepts "Volksgemeinschaft" in der Rechtsprechung des Sondergerichts Wien als größtem Sondergericht der "Alpen- und Donaureichsgaue". Hierzu zieht sie vor allem die am Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrten Prozessakten aus den Jahren 1939 bis 1945 heran und geht der Bedeutung verschiedener Differenzkategorien ("Rasse", Klasse, Geschlecht, Religion und Körper)
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NS-Sondergericht Wien: Heimtücke und heimliches Schlachten - derStandard.at
 
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