Jüdisches Museum Wien: Ausstellung "Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien"

josef

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Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien
Museum Judenplatz
10.11.2021 - 15.05.2022

Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938 begann auch für die österreichischen Jüdinnen und Juden die brutale Ausgrenzung und Verfolgung. Die Möglichkeiten zu Flucht waren beschränkt, da sich viele Länder weigerten, sie aufzunehmen. So bemühten sich jüdische Organisationen darum, Kinder und Jugendliche mit Hilfe von Kindertransporten in Sicherheit zu bringen. Ihre Eltern trafen diese schwere Entscheidung zum Wohl ihrer Kinder und mit dem Plan, so bald als möglich selbst zu flüchten, was vielen nicht gelang. Der Kriegsausbruch im September 1939 setzte der Aktion ein unwiderrufliches Ende. Viele Kinder blieben zurück, der Großteil konnte Deportation und Ermordung nicht entgehen.
Die Ausstellung widmet sich den Wiener Kindern, die ab Winter 1938 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Herbst 1939 elternlos ins Ausland geschickt wurden. Die Kinder, die in Länder geflohen waren, in denen später die Nationalsozialisten einmarschierten, erfuhren mehrfache Verfolgung, die nicht alle überlebten. Großbritannien, das die größte Anzahl der Kinder aufnahm, erweckte den Schein eines sicheren Hafens. Doch auch die Ankunft auf der Insel bedeutete das Ende der Kindheit. Allein in einem fremdsprachigen Land mit der ständigen Sorge um das Überleben der Familie, mussten die Kinder aus eigener Kraft belastende und unsichere Situationen durchstehen. Manche wurden von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, andere konnten nicht vermittelt werden und waren in Heimen oder Internaten untergebracht, Mädchen mussten oft als Haushaltshilfen arbeiten. Das sofortige Finden einer geeigneten Unterkunft oder gar die Wiedervereinigung mit ebenfalls geflüchteten Eltern stellte die Ausnahme dar. Während die jüngeren Kinder oftmals ihre Muttersprache verlernten, wurden ältere Buben mit Kriegsausbruch für mehrere Monate interniert. Nicht selten kämpften sie später in der britischen Armee für die Befreiung Österreichs.
Lange Zeit wurde den „Kindern“, wie sie sich heute noch nennen, keine oder nur geringe Aufmerksamkeit gezollt. Ihre Traumata wurden im Vergleich mit KZ-Überlebenden relativiert. Die Ausstellung setzt in diesem Zusammenhang auf ein heterogenes Narrativ und fokussiert auf die unterschiedlichen Lebenswege. Am aktuellen gesteigerten Interesse hat die zweite Generation maßgeblich mitgewirkt. Auch die Präsidentin der New Yorker Kindertransport Association ist die Tochter eines Wiener „Kindes“. Der zweiten Generation wird in der Ausstellung ebenso Raum gegeben, wie dem weiteren Leben der Kinder.

Kuratorin:
Sabine Bergler und Caitlin Gura-Redl
Ausstellungsgestaltung:
GABU Heindl, Wien
Toledo i Dertschei, Wien
#KinderOfVienna
https://www.jmw.at/jart/prj3/jmw/main.jart?rel=de&reserve-mode=active&content-id=1610511893597&j-cc-id=1610511913754&j-cc-node=ausstellung&j-cc-name=hybrid-content

Folder zur Ausstellung
und
Gedenken an Novemberpogrome
 
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Kindertransporte
Nachkommen jener Kinder, die ins englische Exil fliehen mussten, besuchten Wien
Am 10. Dezember 1938 fuhr der erste Kindertransport vom Wiener Westbahnhof in Richtung England ab. Enkel der jüdischen Mädchen und Buben waren im November zu Besuch
Die Geschichte zweier Mädchen aus Wien, die zufällig beide auf den gleichen Vornamen hörten, nämlich Hedi, ist eine Geschichte des Überlebens. Die Ältere, die sich mit einem Ypsilon am Ende schrieb, also Hedy, wurde im Dezember 1922 geboren und war gerade 16 Jahre alt, als sie im Winter 1938 alles hinter sich lassen musste. Hedy Huth saß am 10. Dezember 1938 im ersten Kindertransport nach England. In 23 Zügen wurde damals rund 2500 Kindern unter 17 Jahren, die allermeisten aus jüdischen Familien, das Leben gerettet. Der letzte fuhr am 22. August 1939.


Nachkommen von Jüdinnen und Juden, die in der NS-Zeit nach England fliehen mussten, besuchten am 18. November Wien, unter anderem den Westbahnhof.
Colette Schmidt

Denn die Nazis schreckten nicht einmal bei Kindern davor zurück, sie in Konzentrationslager zu sperren und zu ermorden. Auch Kinder aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen wurden auf den sogenannten Kindertransporten ab Ende November 1938 vor dem Terrorregime in Sicherheit gebracht. Inklusive der aus Österreich kommenden Züge waren es 100 mit rund 10.000 Kindern an Bord.

Ein Koffer pro Kind
Hedy Huth erzählte ihren Enkelkindern später oft, dass ihr Name aus einem Hut gezogen worden sei und sie deshalb in den Zug in ihre Zukunft steigen durfte. Einen Koffer durfte jedes Kind mitnehmen, mehr Gepäck war nicht erlaubt. Sie war schon auf dem mit Kindern und Jugendlichen vollen Zug, als ihr in letzter Minute einfiel, dass sie sich nicht von ihrer Mutter verabschiedet hatte.

Hedy wollte daher noch einmal vom Zug springen. Doch jemand rief ihr zu: "Wenn du jetzt von Bord gehst, kommst du nie mehr in diesen Zug." Sie fuhr in ein fremdes Land, ohne ihre Mutter umarmt zu haben. Sie sah sie nie wieder.

November 2024. Ein kleiner Bub mit einer Kippa am sitzt mitten am Westbahnhof auf seinem Koffer. Um ihn herum laufen Männer, Frauen und Kinder zu Bahnsteigen oder in die Bahnhofsgeschäfte, ohne ihn zu beachten. Eine Gruppe von Menschen, die meisten von ihnen aus Großbritannien, jedoch bleibt stehen und sammelt sich um den Buben. Für das Kind heißt die Skulptur der Bildhauerin Flor Kent. Auf dem Sockel ist ein Zitat aus dem Talmud eingraviert: "Wer ein einziges Menschenleben rettet, ist, als hätte er die ganze Menschheit gerettet."

"Nächste Woche"
Die Besucherinnen und Besucher sind fast alle Nachkommen von Jüdinnen und Juden, die sich während des Nationalsozialismus ins britische Exil retten konnten. Viele von ihnen auf einem Kindertransport. Auch Corinne, die Enkeltochter von Hedy, ist unter ihnen. Sie alle sind auf Einladung des Jewish Welcome Service Vienna gekommen, der 1980 vom 2007 verstorbenen Leon Zelman gegründet wurde.

Alex Maws von der Association of Jewish Refugees liest neben der Skulptur aus den Erinnerungen eines Buben an seine Abfahrt vom Bahnhof. Seine 17-jährige Schwester und seine Mutter standen auf dem Bahnsteig. Sie würden einander "nächste Woche" sehen, rief die Mutter. Letzte Worte, die ein Leben lang traurig nachhallten. Auch sie sahen sich nie mehr.


Hedis Enkel Ari und die Enkelin und der Enkel von Hedy, Corinne und Alex Maws, von der Association of Jewish Refugees.
Colette Schmidt

Am Vormittag desselben Tages war man bereits beim Mahnmal Aspangbahnhof, das auf einer Länge von 30 Metern Eisenbahnschienen an jenem Ort darstellt, von wo aus 47.035 Menschen auf Zügen in den Tod geschickt wurden. Auf Lastwagen waren die Menschen quer durch die Stadt zum Aspangbahnhof gebracht worden, unter den Augen der Wiener Bevölkerung. Nur 1071 überlebten.

"Das war schon ein besonders emotionaler Moment, dort zu stehen", erzählt später in einer Hotellobby im zweiten Bezirk Ari. Er ist Mitte zwanzig und der Enkel der anderen Hedi, die durch die Flucht nach Großbritannien dem Holocaust entkam. Sie hatte das Glück, gemeinsam mit ihren Eltern nach England fliehen zu können. Ari ist das erste Mal bewusst in Wien. Vor einigen Jahren war er auf der Durchreise, hatte sich aber keine Orte der Erinnerung aus dem Leben seiner Oma angesehen.

Engagiert mit 95
Hedi Argent, geborene Schnabl, war zehn Jahre alt, als sie 1939 ihre Heimat Österreich verließ. Wenn Ari von seiner 95-jährigen Großmutter erzählt, leuchten seine Augen voller Liebe. Die rüstige Frau engagiert sich aktiv gegen Antisemitismus und erzählt etwa im Rahmen der Claims Conference in Youtube-Videos von ihren Erinnerungen an den Holocaust. 17 Familienmitglieder von Hedi wurden umgebracht, und dennoch leugnen Menschen heute wieder vermehrt den Holocaust.

Hedis Vater war Strafverteidiger, dem sofort nach dem sogenannten Anschluss die Kanzlei weggenommen und die Wohnung in Schwechat "arisiert" wurde. Deshalb zog die Familie nach Wien. Hedi erinnert sich, dass ihr Vater die Straßen in Wien schrubben musste. Sie war in den späten 1960er-Jahren erstmals wieder in Wien, musste aber abreisen, weil sie die schmerzhaften Erinnerungen nicht ertrug.

Hedi studierte in England und gründete eine Familie. Sie betont, dass sie Londonerin ist. Doch 2013 besuchte sie Wien nochmals, diesmal auch das Rathaus – DER STANDARD berichtete damals.

Corinne sitzt neben Ari auf der Couch in der Lobby und nickt, wenn Ari, den sie zuvor nicht kannte, erzählt, wie seine Großmutter immer ganz bestimmte Dinge erzählt und auch vieles erst sehr spät aussprach. Corinne ist Anfang 40 und war schon als Jugendliche mit ihren Großeltern in Wien. Ihre Großmutter, jene Hedy, die ganz alleine auf dem ersten Kindertransport vom Westbahnhof war, hatte später ausgerechnet einen Wiener Juden in einer Pension für Jugendliche in England kennengelernt – Corinnes Opa.

Das schöne Wien
Hans Erich Reiner hatte das Glück, dass ihm ein Onkel, ein Lederhändler, einen Job in England vermittelte, da war er erst 15. Er und Hedy heirateten 1944 in London. Sie zeigten Corinne und ihrem Bruder später das schöne Wien. "Wir gingen in die Museen", erzählt die Kunsthistorikerin Corinne, "in schöne Kaffeehäuser und in die Oper. Nur einmal erwähnte sie die Nazis: als sie uns ein Aquarium (Haus des Meeres, Anm.) zeigte und sagte, das sei ein Flakturm der Nazis gewesen."


Hedy Huth, hier in der Schule in England, ist das achte Kind von links in der dritten Reihe.
spurenimvest

Ein Bruder von Hedy war in die USA geflohen, nach Savannah in Georgia, erzählt Corinne: "Als sie ihn dort besuchte, war sie beeindruckt davon, dass man ihr Foto in der Zeitung veröffentlicht hatte. Und sie hat erzählt, dass sie auf dem Besuch in den USA gelernt hat, Hendln zu braten."

Das Paar erlebte auf diesen Reisen mit den Enkelkindern die verlorene gemeinsame Heimatstadt, in der es nie gemeinsam gelebt hatte. Hans starb 2004 und Hedy 2007. Sie habe sie immer "pushen" müssen, damit sie etwas von Wien und dem Krieg erzählten, sagt Corinne. Auch ihre Oma hatte viele Erinnerungen im Schmerz begraben, umso wichtiger sei eine solche Reise für die Nachkommen. Corinne überlegt nun auch, sich um die österreichische Staatsbürgerschaft zu bewerben.
(Colette M. Schmidt, 10.12.2024)
Nachkommen jener Kinder, die ins englische Exil fliehen mussten, besuchten Wien
 
#3
Durch die Recherche zu einem anderen Thema bin ich im Internet auf diese Dokumente gestoßen (Link leider nicht mehr bekannt).
Diese zeigen ein Formular, welches damals auszufüllen war, um eben "ausreisen" zu können.
Erschütternd, wie damals ganze Familien aus ihrem Leben herausgerissen wurden, und der Kampf der Eltern - um ihren Kindern die Flucht aus Österreich zu ermöglichen, egal in welches Land und in welchem Beruf - selbst schon ohne jede Hoffnung da ohne Einkünfte, Vermögen und zu alt.

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