"Grabenkunst" - Artefakte, die Soldaten in den Schützengräben der Weltkriege als Andenken produzierten

josef

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„Grabenkunst“ - Soldatenkunst aus den Schützengräben
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Vasen aus Waffenschrott, Kreuze aus Granatsplittern: Zur „Grabenkunst“ zählen Artefakte, die Soldaten in den Schützengräben der Weltkriege als Andenken produzierten. Online werden diese „Militaria“ feilgeboten. Die neue Publikation „Der naive Krieg – Kunst. Trauma. Propaganda“ widmet sich anhand einer Privatsammlung dem Thema, das wenig erforscht wurde.
In die Vase aus Messing sind Blumen eingraviert. Die Blütenblätter und Stängel wurden freihändig in das Metall gekerbt, aber am Boden ist die maschinell gestanzte Signatur „Düsseldorf, Juli 1910“ zu lesen. Nur sein scharfer, unregelmäßiger Rand gibt die Herkunft des Objekts zu erkennen: Hier wurde eine Granathülse in ein Blumengefäß verwandelt. „Orig. Grabenkunst – 1. WK“ titelt das Angebot um 99 Euro auf der Onlineauktionsplattform eBay. In der eBay-Kategorie „Militaria“ sind auch Kruzifixe oder Brieföffner aus Granatsplittern zu erstehen.

Andenken aus dem Schützengraben
Auf eBay hat auch der deutsche Illustrator und Comiczeichner Georg Barber alias ATAK die über 4.000 Objekte seiner Sammlung erstanden, die derzeit unter dem Titel „Der naive Krieg – Kunst. Traum. Propaganda“ im Kunsthaus Stade in Niedersachsen präsentiert werden. Der interessante Begleitkatalog gibt Einblick in die Laienkunst deutscher Soldaten. An der Front oder im Gefangenenlager vertrieben sie sich mit Zeichnen und Handwerk das Warten auf die nächste Offensive und schufen Souvenirs für sich und ihre Angehörigen. Die Palette reicht von selbst gezeichneten Feldpostkarten und Tagebüchern über Kriegsspielzeug, geschnitzte Bilderrahmen und Holzkassetten zur Aufbewahrung persönlicher Dinge bis hin zu Grabkreuzen für gefallene Kameraden.

Sammlung ATAKLinks:
Heinrich Detel: „Zu Deinem Geburtstag 1916 wo Du 6 Jahr wirst die herzlichsten Glückwünsche“, 1916, Gouache auf Feldpostkarte. Rechts: Albert Karl Liesegang: „La Guerre“ (Zeichnung aus Soldbuch), 1919, Bleistift auf Papier

Im angelsächsischen Raum werden diese Artefakte als „Trench Art“ bezeichnet. Englische und auch französische Historiker beschäftigen sich schon länger mit dieser Soldatenkunst. So präsentiert etwa das Imperial War Museum in London derartige Andenken aus den Schützengraben und erklärt deren Entstehungskontext. In Deutschland liegt die Erforschung noch weitgehend brach. „Ich hätte es nicht gemacht, wenn es schon Bücher dazu geben würde“, sagt der Sammler Georg Barber in einem Interview über die in seiner Heimat „hochsensible Thematik“. Angeregt von einem Zufallsfund auf eBay tauchte er in die Welt der Militaria-Sammler ein und trug in wenigen Jahren eine weit gefächerte Kollektion an Kriegskunst zusammen.

Der Ekel der Enkel
Nicht zufällig existiert heute ein derart breites Angebot, stellen doch die Enkel der Kriegsgeneration Andenken auf eBay, die deren Kinder noch nicht verscherbelt hätten. „Bevor ich es aus Ekel über dem Knie zerbreche, dachte ich, dass ich es lieber verkaufe – irgendein besorgter Bürger hat sicherlich Interesse an nationaler Romantik über dem Kaminsims“, schrieb etwa ein Verkäufer angewidert über ein Gemälde seines Großvaters, das er mit der Überschrift „Altes Bild sucht deutschnationales Zuhause“ auf eBay anbot. Ein einzelnes, ebenso patriotisches wie stümpferhaftes Schlachtenbild mag abstoßend wirken, in der Menge lassen sich jedoch strukturelle Befunde machen.
Sammlung ATAKAnonym
Schlachtschiff, um 1950, Holz bemalt

So handelt es sich etwa bei vielen der naiven Darstellungen um Kopien bereits existierender Motive, die auch noch lange nach dem Krieg abgemalt wurden. Eine solche Vorlage stellte das heroisierende Marine-Bild „Der letzte Mann“ des Künstlers Hans Bohrdt dar, das einen im Meer versinkenden Matrosen zeigt, der noch aus den Wellen die Fahne mit dem Eisernen Kreuz in die Höhe streckt. Dieses Postkartenmotiv – das Original existiert nicht mehr – wurde zigtausendmal von Hobbykünstlern kopiert. Insgesamt zeigen die kreativen Erzeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg noch mehr Individualität als solche aus dem Zweiten Weltkrieg, da die Zensur damals durchlässiger war.

Keine Kritik am Krieg
Am stärksten berühren jene Bilder, die direkt aus der Situation entstanden sind. Bei der naiven Kriegskunst wird der Wunsch spürbar, sich mitten in der Wirrnis irgendwie auszudrücken oder die erlebten Umstände festzuhalten. Es gibt Fluchtmomente in eine romantische oder erotische Gegenwelt, ebenso wie religiöse Bilder, die der Angst vor dem Tod Schutzengel entgegenstellen. „Ich mag an der naiven Kunst dieses Schräge, das Verzeichnete, das es dann auch spannend macht“, sagt Barber über die Laienmaler in einem Interview. Bei der Soldatenkunst sehe man sehr schnell die Geschichte und die Tragik dahinter , und das habe ihn auch oft deprimiert.

Sammlung ATAK
Josef W.: „Bei 30° in der Nacht“, um 1990, Filzstift und Wasserfarbe auf Papier

Interessanterweise sucht man Kritik an den unerträglichen Zuständen oder gar Formen einer Antikriegskunst vergeblich. Gewaltanwendung ist in der Regel tabu, am ehesten werden noch Verwundete und Sanitäter dargestellt. Heftige Schlachtenszenen, wie sie etwa das Wiener Heeresgeschichtliche Museum in seiner Galerie von offiziell beauftragten Kriegsmalern zeigt, bleiben ausgespart. Die porträtierten Soldaten und Offiziere würden als „seltsam entrückte oder typisierte Träger des Uniformornats, als rastlose Wanderer, interessierte Liebhaber auf Heimaturlaub oder gar als Reitsportenthusiasten“ erscheinen, heißt es zu dieser distanzierten Darstellung im Katalog.

Sammlung Christoph Hofmann
Heino Jaeger: „Soldaten und Schiff“, 1969, Plaka auf Holz

Gezeichnete Traumata
Aus der Grabenkunst spricht häufig der Wunsch nach einer behüteten Welt. Die Schrecken des Krieges wurden vielfach erst Jahrzehnte später zu Papier gebracht. Zu Barbers Sammlung zählt etwa eine Serie von vierzig Zeichnungen eines Mannes, der zunächst in Russland stationiert war, aus dem Jahr 1990. In einem Bild stellt er sich selbst mit geschultertem Gewehr und Schlitten dar, wie er nachts mutterseelenallein durch eine weite Schneelandschaft marschiert. Auf einem anderen Blatt zeichnet der Veteran, wie er in Frankreich fast von Partisanen erschossen und im letzten Moment gerettet wurde. Solche Funde nennt Barber „Traumazeichnungen“, es handelt sich um Kriegsszenarien, die nach jahrelangem Schweigen noch kurz vor dem Tod mit dem Zeichenstift gefertigt wurden.

Der Bildband „Der naive Krieg“ zeigt nicht nur Grabenkunst, sondern auch andere Kriegsbilder, etwa Kinderzeichnungen. Militärische Auseinandersetzungen waren in den Kinderzimmern des Wilhelminischen Kaiserreichs omnipräsent, spielten doch Buben im 19. Jahrhundert vor allem mit Zinnsoldaten und ähnlichem Kriegsspielzeug. Barber selbst begeisterte sich schon in der Kindheit für Kriegsbilder: Als zwölfjähriger Napoleon-Fan malte er 1979 in der DDR ein großformatiges Panoramabild der Schlacht bei Austerlitz. Überraschenderweise waren Kinderzeichnungen im Internet ungleich schwerer zu erwerben als Soldatenkunst. Barber ließ nicht locker, und so umfasst seine Kollektion heute auch Kinderbilder, von einer explosiven „Seeschlacht“ 1940 bis zur „Kampfszene mit Power Rangers“ von 2013.
Nicole Scheyerer, für ORF.at

Links:
Buchhinweis
ATAK (Hg.): Der naive Krieg. Kunst. Trauma. Propaganda. Kunstmann, 150 Seiten, 25,70 Euro.
„Grabenkunst“: Soldatenkunst aus den Schützengräben
 
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