Ein Besuch in Stalins Bunker aus der Kriegszeit in Samara

josef

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#1
SOWJETNOSTALGIE
Ein Besuch in Stalins Bunker zu Zeiten des Krieges
Geschichtsschreibung hat im heutigen Russland eine starke innenpolitische Komponente. Nicht zuletzt soll auf dieser Basis die "Militäroperation" in der Ukraine erklärt werden
Die Besucherzahlen steigen in den letzten Jahren massiv an.
Foto: Reuters / David Gray

Den Eingang zu Stalins Bunker in Samara würde wohl niemand finden, der nicht die genaue Adresse kennt. Hinter einer unscheinbaren Tür, irgendwo in einer Seitenstraße in der Innenstadt dieser Millionenstadt im Südosten des europäischen Teils Russlands, geht es über viele Stufen 37 Meter in die Tiefe. Gebaut wurde der Bunker in einer Geheimoperation innerhalb weniger Monate im Kriegsjahr 1942. Damals war er der tiefste Bunker der Welt, doppelt so tief unter der Erde wie Hitlers "Führerbunker" in Berlin.

Noch heute sei der Stalin-Bunker funktionsfähig: 600 Menschen könnten hier Platz finden, erklärt Wladimir Romanowitsch, der Guide. In den vergangenen Jahren sei die Besucherzahl stark gestiegen, sagt er. "Der Grund könnte die Eskalation in den Beziehungen zwischen Russland und der Nato sein."

Immer tiefer geht es hinab, vorbei an mächtigen Metalltoren, die Wände sind mit Bleiplatten ausgekleidet: Schutz vor radioaktiver Strahlung. Schließlich, im achten Untergeschoß, ein großer Konferenzraum mit einer Karte der Sowjetunion an der Stirnwand. Und daneben ein kleines Büro mit Besuchersofa und Toilette. Von seinem grünen Schreibtisch aus hätte Sowjetchef Josef Stalin seine Befehle gegeben – doch er war nie hier. Der Bunker wäre bloß sein Ausweichquartier gewesen, nach einer Zerstörung Moskaus, was nicht geschah.

Ein neuer Weltkrieg?
Viele Besucherinnen und Besucher wollen sich an Stalins Schreibtisch setzen, machen Erinnerungsfotos. Doch die Stimmung ist beklommen. "Es ist beängstigend, darüber nachzudenken, dass in diesen Tagen ein weiterer Weltkrieg anfangen könnte", sagt ein Ehepaar aus Samara. "Wir lesen die Nachrichten und wissen, dass es große Meinungsverschiedenheiten zwischen Russland und dem Westen gibt. Aber keiner von uns will einen Krieg. Ich wünsche mir, dass sich die Politiker schnell einigen."


Beliebtes Fotomotiv: eine Aufnahme vor dem Stalin-Bunker.
Foto: Reuters

Einige Stockwerke über Stalins Befehlszentrale hat man ein kleines Museum eingerichtet. Zu sehen sind Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, der hierzulande "Großer Vaterländischer Krieg" genannt wird. Stalin sei für sie "eine widersprüchliche Persönlichkeit in der Geschichte", meint Natascha, die mit einer Freundin den Bunker besucht. Sicher: Stalin stehe für Diktatur, Repression, brutale Unterdrückung jeder Denk- und Meinungsfreiheit, Säuberungen. Millionen Menschen starben in den Straflagern, den Gulags. "Aber in Russland respektieren ihn viele, weil er die Sowjetunion zum Sieg geführt hat."

Für Russlands Präsident Wladimir Putin sei Stalin kein Vorbild, sagt Carmen Scheide, Dozentin für die Geschichte Osteuropas an der Universität Bern, dem STANDARD. "Putin hat sich immer wieder sehr klar von Stalin distanziert und seine Verbrechen verurteilt. Vorbilder, auf die der heutige russische Präsident zurückgreift, sind die Zaren des imperialen Russlands."

Mythologische, verklärte Bilder Russlands
Der Sieg im Zweiten Weltkrieg allerdings spiele eine große Rolle im heutigen Geschichtsbild Russlands, sagt Scheide. "Putin bezieht sich auf das imperiale Russland, ebenso auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Die heutige Vorstellung und Propagierung der russischen Nation ist eng verbunden mit spezifischen konstruierten Vorstellungen der eigenen Vergangenheit. Die basieren nicht auf differenzierten wissenschaftlichen Geschichtsdarstellungen, sondern sind oftmals mythologische, verklärte Bilder."

Im Russland von heute wird ein patriotisches Geschichtsbild konstruiert, die Vergangenheit verklärt. Lehrbücher werden umgeschrieben, Jahrestage wie etwa der 9. Mai, der Tag des Sieges über Nazideutschland, werden pompös gefeiert.

Umgang mit Vergangenheit
Verfolgt werden hingegen Initiativen, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Beispiel: Memorial, die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation in Russland. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich Memorial für die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen ein; mischt sich aber auch immer wieder in aktuelle Debatten ein. Memorial wurde als "ausländischer Agent" eingestuft, verstieß angeblich gegen das Gesetz und wurde schließlich vom Obersten Gericht Russlands verboten.

Die neue russische Sicht auf die Geschichte sei vor allem innenpolitisch wichtig, meint Scheide. "Geschichte dient in Russland zur nationalen Einigung nach innen. Zugleich findet eine massive Abgrenzung nach außen statt, da es keinen Dialog zwischen unterschiedlichen Geschichtserfahrungen und -betrachtungen mehr gibt."

Vor allem die Nato-Erweiterung wird von Moskau als Bedrohung empfunden. Unter anderem damit begründete Putin am 24. Februar 2022 den Beginn der "Spezialoperation" in der Ukraine: "Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – ich betone, auf unseren eigenen historischen Gebieten – ein uns feindlich gesinntes ‚Antirussland‘ geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle von außen gestellt wurde, von den Streitkräften der Nato-Länder intensiv besiedelt und mit den neuesten Waffen vollgepumpt wird. Für die USA und ihre Verbündeten ist dies eine sogenannte Politik der Eindämmung Russlands, eine offensichtliche geopolitische Dividende. Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation."

Putins Lesart
Die Ukraine als "eigenes historisches Gebiet"? "Im Krieg mit der Ukraine dient Geschichte als Waffe, da Putin der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen hat und historisch argumentiert, beide Länder seien unzertrennliche Brüder, die nur zusammen eine erfolgreiche Zukunft hätten", widerspricht Scheide. "Nach Putins Lesart ist der Donbass ein integraler Bestandteil von Russland, der nach der Oktoberrevolution von Lenin fälschlicherweise der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen worden sei. Putin hinterfragt somit historische Grenzziehungen, die völkerrechtlich unstrittig sind."

Auch die Besucher des Stalin-Bunkers diskutieren über die aktuelle Situation. "Als der Konflikt in die russische Offensive in der Ukraine überging, konnte ich das die ersten drei Wochen nicht glauben", sagt einer der Besucher, der ukrainisch-russische Eltern hat. Er hält den Angriff zwar für einen Fehler, aber da es nun schon so weit sei, müsse er auch zu Ende gebracht werden. Ein Rückzug oder eine Niederlage Russlands würde aus seiner Sicht die Existenz des Landes insgesamt in Gefahr bringen. So wie er denken viele Menschen in Russland.
(Jo Angerer aus Samara, 17.8.2022)
Ein Besuch in Stalins Bunker zu Zeiten des Krieges
 
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