1924, also vor 100 Jahren, nahm Wien die Elektrifizierung der Stadtbahn in Angriff. Das identitätsstiftende Projekt des „Roten Wien“ war Arbeitsbeschaffung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und ein längst fälliger Modernisierungsschub. Sogar Filmaufnahmen sind davon erhalten geblieben. Was heute in Vergessenheit geraten ist: Trotz der gefeierten Stationsgebäude Otto Wagners war die Stadtbahn schon bei ihrer Eröffnung 1898 veraltet.
Die Pläne der Gemeinde Wien, die Stadtbahn aus dem „Dornröschenschlaf“ zu wecken, fanden 1923 breiten Beifall in der Presse. Der Bahnbetrieb auf der Trasse, auf der heute die U-Bahn-Linien U4 und U6 verkehren, war aus kriegsbedingtem Kohlemangel eingestellt worden. Dass dringend wieder ein massentaugliches Verkehrsmittel benötigt wurde, gab Hoffnung auf einen Aufschwung.
Wien war nach dem Ersten Weltkrieg von der dynamischen Metropole eines 53-Millionen-Kaiserreiches zur „Hauptstadt des Hungers“ in einem Kleinstaat geschrumpft. Bauprojekte des „Roten Wien“ halfen nicht nur, die drückende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern auch dieses weltweit „einzigartige urbane Desaster“, so der Stadtforscher Peter Payer, zu verkraften. Sie trugen zur Stiftung einer neuen Identität bei.
Nun gehörte aber die darniederliegende Stadtbahn nicht der Stadt, sondern dem christlich-sozial regierten Bund. Die Verhandlungen der sozialdemokratisch regierten Gemeinde mit den Österreichischen Bundesbahnen um einen Pachtvertrag zogen sich in die Länge, berichtete die Presse. Doch nach mehr als einem halben Jahr war es geschafft.
Ein Teil Wiens ist ja vom Tode auferstanden. Sieben Jahre sah man einen verfallenden Bahnkörper, über dessen Schienen Gras wuchs. Das neue Leben bringt Hoffnung, daß auf die bittere Gegenwart wieder einmal freundliche, fröhliche Tage kommen werden.
„Kronen Zeitung“, 4.6.1925
„Vom Tode auferstanden“
Am 26. Mai 1924 konnten in Heiligenstadt die Bauarbeiten beginnen. Einzelne Arbeitsschritte wurden auf Film aufgenommen, und auch die Eröffnung ist dokumentiert (siehe Video). Wiens Bürgermeister Karl Seitz übergab am 3. Juni 1925 das erste Teilstück seiner Bestimmung – unter „Tücherschwenken und Jubelrufen“, wie die „Kronen Zeitung“ berichtete. Die Zeitung sah einen Teil Wiens sogar „vom Tode auferstanden“ und in dem Projekt die „Hoffnung, daß auf die bittere Gegenwart wieder einmal freundliche, fröhliche Tage kommen“.
Der Preis für eine Einfachfahrt in der elektrifizierten Stadtbahn betrug 30 Groschen (entspricht heute in etwa 1,30 €) – einmal Umsteigen in die Bim war inkludiert. Der Gemeinschaftstarif trug zur Popularität bei. Es gab Raucher- und Nichtraucherabteile. Hunde durften – im Gegensatz zu früher – nicht mitgeführt werden. Das sorgte für Diskussionen.
Trotz des allgemeinen Jubels – die Elektrifizierung der Stadtbahn war kein Herzensprojekt der Stadtregierung, eher eine Notmaßnahme, um den Menschentrauben in den überfüllten Straßenbahnen abzuhelfen. Das machte auch die Eröffnungsrede des Bürgermeisters deutlich. Seitz geißelte die historische Fehlplanung aus der Zeit der Monarchie: was die Stadt eigentlich brauche, sei eine „Untergrundbahn, die vom Herzen der Stadt hinausführt ins Freie, wo die arbeitenden Menschen wohnen“. Doch dafür fehlten in den 1920er Jahren noch die Mittel.
Keine U-Bahn für Wien
Dabei waren Pläne für eine Wiener U-Bahn bereits 1857 herumgegeistert, als man sich anschickte, die Stadtmauern des historischen Stadtkerns zu demolieren und so einen wichtigen Schritt zum Ausbau Wiens zur modernen Metropole setzte. Bis zur Jahrhundertwende war immer wieder über ein schnelles, massentaugliches Verkehrsmittel für die rasch wachsende Stadt diskutiert worden.
Beispiele für moderne Massenverkehrsmittel gab es schon in anderen Ländern: London führte bereits 1863 eine U-Bahn ein, ab 1890 wurde elektrifiziert. Auch Großstädte wie Chicago, Paris, Berlin und Budapest zogen nach und eröffneten um die Jahrhundertwende eifrig U-Bahnen.
In Wien hingegen wurde kein modernes innerstädtisches Beförderungssystem realisiert, sondern eine teilweise oberirdisch geführte Dampfbahn, die das Bedürfnis der Bevölkerung, schnell und ungehindert vom Zentrum in die neuen Stadterweiterungsgebiete zu kommen, vollkommen ignorierte – eben die Stadtbahn, die 1898 in Betrieb genommen wurde.
- Wien Museum
Jugendstil vom Feinsten: Otto Wagners Handzeichnung einer Stadtbahnhaltestelle
- Wien Museum
Wien um 1900: Stadtbahnviadukte und die dampfende Bahn prägten das moderne Stadtbild
- Wien Museum
In die Stadt hineingeplant: Otto Wagners urbanes Gesamtkunstwerk Stadtbahn
- Wien Museum/Birgit und Peter Kainz
Der Bau der Wientallinie 1898
- Wien Museum
Die Linienführung der Stadtbahn um 1900. Wegen der kreisförmigen Anordnung um den Stadtkern hieß sie bald „Rundherum-Bahn“, wohl auch, weil sie an den Bedürfnissen der modernen Stadtbewohner vorbeigeplant worden war.
- Wien Museum
Die Straßenbahn fuhr längst elektrisch, als die Stadtbahn noch mit Kohle betrieben wurde
- Wien Museum
Erklärungsbedarf: Wie öffne ich die Türen der elektrischen Stadtbahn? Der Sicherheitsmechanismus hinderte allerdings Passagiere nicht am gefährlichen Auf- und Abspringen während der Fahrt.
- Wien Museum/Franz Holluber
Die elektrifizierte Stadtbahn bei der Haltestelle Schwedenplatz 1931
- Wien Museum/Peter Kainz/Friedrich Strauß
Dampf und Ruß in Wien um 1900. Die Stadtbahn als Umweltdesaster bei der nicht mehr existenten Station Hauptzollamt (heute Wien-Mitte).
- Wien Museum
Ohne Rauch geht’s auch: Die elektrifizierte Stadtbahn beim Lerchenfelder Gürtel
- Wien Museum
Aus der Postenkartenserie „Neubauten in Wien“ um 1900. Von Otto Wagners wegweisenden Stadtbahnstationen wurden sogar in Berlin Ansichtskarten gedruckt.
Eine Stadtbahn für das Militär
Der Grund dafür: Mehrheitseigentümer der Stadtbahn waren zur Zeit der Monarchie die k.k. Staatsbahnen, und deren Planungen orientierten sich an militärstrategischen Überlegungen. Wien war von Kopfbahnhöfen umgeben, von denen privat geführte Bahnlinien sternförmig in alle Himmelsrichtungen des Kaiserreiches führten. Die Stadtbahn, später auch gerne „Rundherum“-Bahn genannt, wurde ringförmig um die Stadt gebaut und sollte dazu dienen, Soldaten und Kriegsmaterial so schnell wie möglich von einem Kopfbahnhof zum nächsten zu befördern. Personenverkehr war Nebensache.
Auch die Entscheidung, die Stadtbahn mit Kohle zu betreiben anstatt mit elektrischem Strom, war wenig benutzerfreundlich und hatte militärische Gründe: Man hielt Elektrizität im Kriegsfall für zu störanfällig. „Die Tatsache, dass eine 26 Kilometer lange Stadtbahn in der Stadt der Lungentuberkulose die Rauchplage in peinlicher Weise vergrößerte, hat den alten Militärstaat nicht sehr beirrt“, ätzte deshalb 1925 die Zeitung „Der Abend“. Die Elektrifizierung der rußigen Bahn wurde dankbar angenommen, wie ein zeitgenössisches Gedicht zeigt:
Jetzt kann man vor Rauch
nicht mehr ersticken,
und auf dem Sitz
bleibt man
im Ruß nicht mehr picken
Johann Maierbichler
Die Stadt Wien elektrifizierte allerdings 1924 nur einen Teil des Stadtbahnnetzes. Die Vorortelinie blieb auch weiterhin im Besitz der Bundesbahnen und ist es bis heute. Und bis Wien dann tatsächlich eine U-Bahn bekam, dauerte es noch länger.
U-Bahn mit historischer „Verspätung“
Auch die Nazis planten in Wien eine Untergrundbahn. Den Umbau Wiens zu Hitlers „Perle des Reiches“ verhinderte aber der Zweite Weltkrieg. Die Stadtbahn wurde schließlich 1945 durch Luftangriffe empfindlich beschädigt. Und im Nachkriegswien bestimmten erneut widerstreitende Interessen den Ausbau des städtischen Verkehrs.
Der Stadtplaner zwischen 1948 und 1952, Karl H. Brunner, befürwortete eine U-Bahn, aus Geldmangel wurde aber wieder einmal auf den Ausbau der Stadtbahn gesetzt. 1958 übernahm der prominente Architekt Roland Rainer die Stadt- und Verkehrsplanung. Rainer orientierte sich an einer aufgelockerten, durchgrünten Stadt, die vor allem eines sein sollte: autogerecht. Der Zeitgeist räumte dem motorisierten Individualverkehr Vorrang ein.
1962 warf Rainer das Handtuch als Stadtplaner. Der Zug der Zeit ging dann doch in Richtung U-Bahn, und mit einem Beschluss des Gemeinderates am 26. Jänner 1968 trat dann Wien – mit jahrzehntelanger Verspätung – ins U-Bahn-Zeitalter ein.
Auslaufmodell Stadtbahn
Der U-Bahn-Bau wurde zum Aus für die Stadtbahn. Sie wurde zum Auslaufmodell, in das nicht mehr investiert wurde. Unfälle häuften sich auf der vernachlässigten Infrastruktur, und zwischen 1951 und 1978 wurden mehrere der abbröckelnden Otto-Wagner-Stadtbahnstationen abgerissen. Gegen die Demolierung der Stadtbahnstation Meidling gab es 1968 immerhin einen größeren – wenn auch erfolglosen – Protest (siehe Video), an dem sich Stararchitekten wie Gustav Peichl und auch der ehemalige Stadtplaner Rainer beteiligten.
Die Stadtbahn wird zur U-Bahn
Den tatsächlichen Eintritt Wiens ins U-Bahn-Zeitalter markierte der „erweiterte Probebetrieb mit Fahrgästen“, den eine „Silberpfeil“ genannte U-Bahn-Garnitur am 8. Mai 1976 auf einem kurzen Teilstück der Stadtbahnlinie zwischen Heiligenstadt und Friedensbrücke aufnahm. Die Wiener raunzten über die damit verbundenen Unbequemlichkeiten...
Die Stadtbahn wurde etappenweise ins U-Bahn-System integriert, und die Wiener Innenstadt war jahrelang von riesigen Baugruben durchzogen. Anrainer, Passanten, Gewerbetreibende und wahrscheinlich auch die Politiker und Politikerinnen wünschten sich, man hätte die U-Bahn schon im vorigen Jahrhundert gebaut.
Gerettetes Architekturjuwel
So umstritten die Stadtbahn im Lauf der Zeit auch war, zumindest ästhetisch wurde das architektonische Gesamtensemble von Wagner schon Ende des 19. Jahrhunderts als städtebauliches Leuchtturmprojekt wahrgenommen.
17 der 25 historischen Stadtbahnstationen sind erhalten geblieben. Das Gesamtkunstwerk von Stationsgebäuden und Viadukten wird heute wieder als Meilenstein der Jugendstilarchitektur gefeiert und erstrahlt in neuem Glanz. Laut
Forschungen des Bundesdenkmalamtes waren die historischen Einfassungen allerdings nicht in dem heute so stimmig empfundenen Reseda-Grün gehalten – sondern in Beige.
Die Stadtbahn hat sich in mehreren Entwicklungsphasen in die Geografie der Stadt eingeschrieben: vom Notnagel in der Zwischen- und Nachkriegszeit zu einem essenziellen und auch aus ästhetischen Gründen geschätzten Bestandteil im öffentlichen Verkehrsnetz der Großstadt. U-Bahn und S-Bahn haben die alte Stadtbahn abgelöst. Mitgenommen wurden historische Strukturen und Planungen – im Guten wie im Schlechten.
23.12.2024, Silvia Heimader (Text, Archiv), Mona Harfmann (Redaktion), Zita Klimek (Bildredaktion), beide ORF Topos, Anna Schandl (Lektorat), ORF.at