Die Nähe zur Schweiz hat im Zweiten Weltkrieg viele Deserteure nach Vorarlberg gelockt

josef

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Vorarlberg als Zufluchtsort für Wehrmachts-Deserteure
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Die Nähe zur Schweiz hat im Zweiten Weltkrieg viele Deserteure nach Vorarlberg gelockt. Unter ihnen waren auch 250 Vorarlberger Soldaten, die teilweise ebenfalls ins Nachbarland flüchteten. Einige fanden aber auch Zuflucht in ihrer Heimat, wo sie in ihrem Umfeld auf Solidarität und Hilfe stießen.
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„Es waren größtenteils ganz ‚normale‘ Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die Entscheidung gefällt haben, nicht mehr kämpfen zu wollen“, so Historiker Peter Pirker. Er ist Leiter eines Forschungsprojekts des Zeitgeschichte-Instituts der Universität Innsbruck und des Vorarlberger Landesarchivs, das sich mit der Geschichte der Deserteure im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt.

Die Recherchen haben gezeigt, dass 250 Vorarlberger Soldaten und Wehrpflichtige Fahnenflucht begangen haben, also ihren militärischen Verpflichtungen nicht oder nicht mehr nachgegangen sind. Sie haben in der Schweiz oder in ihren Heimatdörfern Zuflucht gesucht.

Den Krieg „schlicht und einfach nicht mehr ausgehalten“
Viele desertierte Vorarlberger Soldaten hätten über Jahre hinweg in der Wehrmacht gedient, „und haben den Krieg schlicht und einfach nicht mehr ausgehalten“, erzählt Pirker. Den meisten gelang die Flucht, wie die Forschungen überraschend zeigten – etwa 60 Prozent der Vorarlberger Deserteure schafften es nach Hause oder in die benachbarte Schweiz.

In ihrer Heimat seien die Desertierten zumeist auf Solidarität gestoßen. Insbesondere die Frauen hätten die Soldaten versorgt und geschützt – ihnen geholfen, den Krieg und die Desertation zu überleben. „Das ist eigentlich das wichtigste Ergebnis unseres Forschungsprojekts“, meint Pirker.

Tonangebend in der Gemeindepolitik
In den Recherchen besonders aufgefallen ist die Bregenzerwälder Gemeinde Krumbach. Dort wurden viele Deserteure über Jahre hinweg erfolgreich versteckt, großteils zu Hause. „Hauptsächlich stammten die Menschen aus dem christlich-sozialen Milieu“, erzählt Historikerin Isabella Greber. Sie seien zumeist bereits vor dem Krieg – und auch danach wieder – tonangebend in der Gemeindepolitik gewesen.

Zum Tode verurteilt: Nicht allen gelang die Flucht
Auch in anderen Teilen Vorarlbergs fanden Desertierte Zuflucht: Leonhard Burtscher beispielsweise konnte sich in den Felsen von Buchboden im Großen Walsertal verstecken. Sein Bruder Wilhelm hingegen wurde von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei des NS-Regimes, aufgegriffen und zum Tode verurteilt. Martin Lorenz und Jakob Domig ereilte dasselbe Schicksal, nicht allen Vorarlberger Deserteuren gelang also die Flucht.

ORF Vorarlberg
Deserteure wurden geächtet, viele Anträge auf Entschädigung wurden abgewiesen

Keine Opferfürsorge für Nachkommen und Hinterbliebene
Im Forschungsprojekt wurde einem weiteren Tabuthema auf den Grund gegangen: der Opferfürsorge in der Nachkriegsgeschichte. Denn Angehörige von hingerichteten Deserteuren wurden nicht nur gesellschaftlich geächtet, auch ihre Anträge auf Entschädigung wurden zumeist abgelehnt. „Deserteure und ihre Angehörigen sind in der Nachkriegszeit kaum auf Verständnis gestoßen“, beschreibt Pirker.

Sie hätten größtenteils Ablehnungen entgegengesehen. Den Hinterbliebenen von desertierten Soldaten erging es ähnlich: Die Mutter von Martin Lorenz beispielsweise, der vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und in Graz hingerichtet wurde, bekam keine Opferfürsorge. „Das war eine bitterarme Frau, die man völlig im Stich gelassen hat“, sagt Pirker. Ab 1953 wurden alle Anträge auf Entschädigung abgelehnt.
23.12.2023, red, vorarlberg.ORF.at

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