Bundesdenkmalamt erstellte eine Liste der jüdischen Orte Österreichs - vom mittelalterlichen Bethaus bis zu den jüdischen Friedhöfen

josef

Administrator
Mitarbeiter
#1
VERGESSENE ORTE
Blick auf Österreichs jüdische Geschichte
1719160690180.png

Vor 1938 haben 200.000 Jüdinnen und Juden in Österreich gelebt. Während der NS-Zeit wurden Zehntausende ermordet, über 100.000 wurden vertrieben. Heute leben rund 15.000 Jüdinnen und Juden im Land. Das Bundesdenkmalamt erstellte nun eine Liste der jüdischen Orte Österreichs, vom mittelalterlichen Bethaus bis zu den jüdischen Friedhöfen, die es im Land gibt, berichtet die ZIB1. ORF.at hat daraus eine interaktive Karte erarbeitet, auf der sich die jüdische Geschichte entdecken lässt.
Online seit heute, 17.44 Uhr
Teilen
Einer dieser Orte ist der jüdische Friedhof von Frauenkirchen im Burgenland. Das letzte Begräbnis fand dort 1956 statt: Eine Familie war im Ungarn-Aufstand durch den Neusiedler See in die Freiheit geflüchtet, die kleine Tochter war ertrunken. Der jüdische Friedhof war jener Ort, an dem das Mädchen gemäß den religiösen Riten bestattet werden konnte. Ein Grabstein findet sich nicht mehr.

Die katholische Basilika von Frauenkirchen ist heute für viele ein Ausflugsziel, doch der jüdische Friedhof in unmittelbarer Nähe ist verlassen und vergessen. Rund 400 Jüdinnen und Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in der Gemeinde im Seewinkel, nur einer kehrte nach dem Krieg zurück. Die jüdische Gemeinschaft wurde vom Nazi-Regime ausgelöscht.


1719161437700.png
Jüdische Orte in Österreich

Über 400 dieser jüdischen Gedenkstätten und Denkmäler, die das Bundesdenkmalamt in einem Verzeichnis erfasst hat, sind in der obenstehenden Karte abgebildet. Die Karte umfasst etwa knapp 300 Betstätten und über 70 Friedhöfe und bietet einen Einblick in die jüdische Geschichte. So reichen die verorteten Gedenkstätten von Synagogen aus dem Mittelalter bis zu noch gut erhaltenen Friedhöfen, etwa jenem in Frauenkirchen.

Wenige Menschen besuchen Friedhof
Denn im Judentum ist die Totenruhe unantastbar, Gräber werden nicht aufgelassen, sie bestehen dem Glauben nach bis zur Auferstehung der Toten. Um den Friedhof heute besuchen zu können, muss man den Schlüssel für das Friedhofstor im Gemeindeamt holen. Die Zahl der Grabsteine zeigt, wie groß die Gemeinde einmal war.
Gleich neben dem Friedhofstor ist ein kleines, ebenerdiges Gebäude: das Tahara-Haus. Hier wurden die Toten gewaschen und für die Bestattung vorbereitet. Der Friedhofswärter hatte eine kleine Wohnung in dem Gebäude, das Eingangstor deutet ein wenig auf die frühere Funktion hin: Die Rundung über dem Eingang ist farbig verglast, sie hat die Anmutung eines bescheidenen Kirchenfensters. Die Türe selbst ist verschlossen, der Besitzer nutzt das Gebäude als Lagerraum, der Zutritt ist nicht erlaubt.

Fotostrecke
ORF/Lukas Krummholz
Die Zahl der Grabsteine in Frauenkirchen erinnert an die große jüdische Gemeinde, die einst in Frauenkirchen lebte
ORF/Lukas Krummholz
Kaum jemand besucht die Gräber

ORF/Lukas Krummholz
Rund 400 Jüdinnen und Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in der Gemeinde im burgenländischen Seewinkel

ORF/Lukas Krummholz
Im Tahara-Haus wurden früher die Toten für die Bestattung vorbereitet – heute wird es als Lagerraum genutzt

ORF/Lukas Krummholz
Der Judenhof in Gattendorf ist direkt an das Barockschloss angebaut

ORF/Lukas Krummholz
Der ärmliche Hof ist ein sozialhistorisches Zeugnis einer ausgelöschen Lebensweise

Kaum jüdische Rückkehrer in ländliche Gemeinden
„Im Burgenland gab es die berühmten Siebengemeinden“, erklärt Paul Mahringer vom Bundesdenkmalamt im ORF-Interview. „Es gab hier über Jahrhunderte reges jüdisches Leben. Heute steht alles im Eigentum der Kultusgemeinde Wien. Aus dem ländlichen Judentum ist kaum jemand in die alte Heimat zurückgekehrt.“ Die Siebengemeinden, sieben Orte im heutigen Nord- und Mittelburgenland, waren im 17. Jahrhundert zu Fluchtorten der aus Wien vertriebenen Juden geworden.
Die Fürsten Esterhazy gewährten den „hochfürstlich Esterhazyschen Schutzjuden“, so die offizielle Bezeichnung, Schutz – gegen erhebliche Zahlungen. In den meisten Regionen Österreichs durften bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Juden keinen Wohnsitz nehmen. Erst das Staatsgrundgesetz von 1867 gewährte ihnen Niederlassungsfreiheit. Davor war man vom Wohlwollen der örtlichen Fürsten abhängig: Sie konnten Juden unter ihren Schutz stellen und verdienten meist gut daran.

Schutz im Schatten der Schlösser
Wie sehr der Schutz des adeligen Patrons notwendig war, sieht man in Gattendorf zwanzig Kilometer nördlich von Frauenkirchen. Direkt ans Barockschloss angebaut ist dort der „Judenhof“. Die enge bauliche Verbindung zeigt einerseits, dass der Schutz ernst gemeint war, andererseits, dass die Esterhazy genügend Schlösser besaßen: Das Schloss Gattendorf wurde von ihnen sehr früh nicht mehr als Wohnsitz, sondern als Getreidespeicher genutzt.

Mitte des 19. Jahrhunderts wohnten jüdische Familien mit rund 250 Mitgliedern in diesem dörflichen Schutzgebiet und Ghetto. Es gab eine Synagoge und eine Mikwe – ein Bad für die rituellen Waschungen. Heute stehen nur noch die ehemaligen Wohngebäude, seit Jahrzehnten unbenutzt. Die Synagoge wurde im Jahr 1996 abgerissen – mit Genehmigung der zuständigen Behörden.

Hier habe sich in den vergangenen Jahren einiges geändert, so Mahringer. „Das hier ist der letzte Überrest des ländlichen, dörflichen Judentums des 18. und 19. Jahrhunderts. Es ist das sozialhistorische Zeugnis einer Lebensweise, die ausgelöscht wurde. Es ist sozusagen eine dreidimensionale geschichtliche Quelle.“ Die jüdische Bevölkerung von Gattendorf und Frauenkirchen war arm. Aufgrund ihrer Religion waren sie von Handwerk und Landwirtschaft ausgeschlossen. Was blieb, war der Kleinhandel.

Zeugnis der Armut und Bedrängtheit
Der „Judenhof“ macht die Armut und Bedrängtheit des damaligen Lebens greifbar. Das Gebäude ist eng und schmucklos, alles Monumentale, das man sonst mit dem Begriff Denkmal verbindet, fehlt völlig. Zumindest das Dach wurde laut Mahringer renoviert. Der Eigentümer hatte vom Denkmalamt eine Förderung, aber auch Auflagen zur Erhaltung des Gebäudes bekommen.

Glücklich sind aber die wenigsten, wenn die Denkmalschützer kommen. „’Können wir es endlich wegreißen?’ war das Erste, was die Anrainer gesagt haben, als wir zum ersten Mal zur Begutachtung gekommen sind“, sagt Mahringer. Doch das Gebäude wurde – anders als die Synagoge – als schutzwürdig eingestuft. „Das heißt nicht, dass man es frei zugänglich machen muss. Das muss kein Museum werden“, erläutert er, aber verfallen dürfe man es nicht mehr lassen.

Der Blick darauf, was für künftige Generationen erhalten werden soll, hat sich doch geändert. Es sind jetzt auch Zeugen des alltäglichen Lebens, es ist auch der Verweis auf Armut und Lebenskampf, nicht bloß auf Pracht und Prunk.

Schmerzliche Erinnerung an Holocaust
Wobei die Zeugnisse der jüdischen Geschichte Österreichs immer noch besonders heikel in der Wahrnehmung sind: Die Besitzerfamilie eines jüdischen Bethauses in einer kleinen Wienerwald-Gemeinde lehnte einen Lokalaugenschein des ORF-Teams ab – aus Angst vor weiteren Besuchern.

Das Verhältnis zum Judentum ist in Österreich immer noch ein besonderes. Es ist eine gemeinsame Geschichte, aber es ist keine einfache. Das zeigt der jüdische Friedhof von Frauenkirchen auf fast schmerzliche Weise: Der einzige neue Stein an diesem sonst verlassenen Ort erinnert an die Familie Rosenfeld: Großeltern, Mutter, zwei kleine Mädchen, 1936 und 1938 geboren. Sie alle starben am selben Tag, dem 15. Juni 1944, im NS-Vernichtungslager Auschwitz.
23.06.2024, Fritz Dittlbacher (Text), ORF News, Sandra Schober (Daten), Lukas Krummholz (Bild), sofe (Bearbeitung), alle ORF.at

Links:
Bundesdenkmalamt
Auf der Adresse des ORF-Beitrages kann man auch die interaktive Karte der "jüdischen Orte in Österreich" aufrufen:
Vergessene Orte: Blick auf Österreichs jüdische Geschichte
 
Zuletzt bearbeitet:
Oben