Bosnien-Herzegowina: Voyeurismus rund ums "Krieg spielen"

josef

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Krieg spielen in Sarajevo

Viele Europäer kommen, um mehr über die Belagerung zu erfahren. Einigen geht es um Voyeurismus, aber es gibt auch ernsthafte Auseinandersetzungen
Wenn es die Gäste wünschen, verkleidet sich Arijan Kurbasic sogar als UN-Soldat mit Blauhelm und schutzsicherer Weste. Dann dürfen sich die Touristen ein bisschen so fühlen, als wäre noch Krieg. Genau dieses Gefühl kaufen sie, wenn sie sich im War Hostel in Sarajevo einquartieren.


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Im War Hostel in Sarajevo werden Artefakte des Krieges gezeigt

Sogar einen Bunkerraum hat Kurbasic eingerichtet, in dem man im Dämmerlicht, bei schlechter Luft und von Bombenangriffsgeräuschen belästigt übernachten kann. Doch auch die anderen Räume sind spartanisch eingerichtet, die Fenster teilweise mit Plastikplanen verklebt, im Frühstücksraum sitzt man unter Stacheldraht.


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Die Schlafgelegenheiten geizen mit Komfort.

"Das normale Hostel, das ich geführt habe, hat nicht funktioniert", erklärt Kurbasic seine Motivation, den Krieg der Jahre 1992 bis 1995 zu verkaufen. "Ich bin noch immer arm, aber jetzt geht es mir besser", meint der junge Mann, der seine Familie mit dem Hostel ernährt. Die Idee kam ihm, als er Touristen in Sarajevo Kriegstouren anbot – jene Angebote, bei denen Schauplätze der Belagerung aufgesucht werden, gehören zu den meistgebuchten in der bosnischen Hauptstadt. "Die Leute wollen erleben, wie es ist, wenn man sich aus der Komfortzone herausbewegt", erzählt er über Touristen, die hier übernachten, "sie wollen Authentizität."

Ein bisschen Aufregung
Mit der tatsächlichen Bedrohung, der Angst, dem täglichen Tod und der Versorgungsknappheit in den Belagerungsjahren hat das bisschen Aufregung, für das die Touristen hier zahlen, freilich nichts zu tun. Dabei möchte Kurbasic nach eigener Aussage sogar den Besuchern vermitteln, dass "Krieg nicht cool ist", er möchte sie "näher an die Realität heranbringen". Trotzdem ist das alles ein großes Geschäft.

Die wohl zynischste Kapriole, die aus Geldgier, Voyeurismus und Erregungslust entstanden ist, ist die "authentische Kriegszone" auf dem Berg Igman in der Nähe von Sarajevo, der in der Auseinandersetzung zwischen der Armee der Republika Srpska und der Armee von Bosnien-Herzegowina von strategischer Bedeutung war. Wer will, kann heute mit Softair-oder Paintball-Gewehren und im Camouflage-Aufzug durch den Wald robben und wieder Krieg spielen. Kostenpunkt: 25 Euro.


foto: getty
Auf dem Berg Igman kann man mit Softair- oder Paintball-Gewehren aufeinander schießen.

Auch ernste Auseinandersetzungen mit dem Krieg
Krieg verkauft sich besser als die schnöde derzeitige Wirklichkeit, etwa die Langzeitfolgen für die Familien der hier im Krieg Getöteten – etwa 11.000 Menschen – oder der 56.000 Personen, die in der Stadt oft durch Granatsplitter verletzt wurden. Wer sich jedoch auf fundierte Weise mit den Geschehnissen beschäftigen will, kann das Historische Museum besuchen oder aber auch ins War Childhood Museum gehen, in dem die damalige Zeit in Geschichten mit liebevoll ausgesuchten Artefakten auf sehr persönliche Art beschrieben wird.

Die oft gebuchten Kriegstouren führen meist zu dem Tunnelmuseum in der Nähe des Flughafens. Der Tunnel verband die Stadt mit der Außenwelt und ermöglichte Benzin- und Waffenschmuggel. Er soll nun für Touristen weiter ausgegraben werden. Sogar ein Automat mit Erinnerungsmedaillen ist hier aufgestellt, in den man Geld hineinwerfen soll.

"Sniper-Nester"
Die Kriegstour führt auch auf den Berg Trebević, von dem aus die Armee der Republika Srpska jahrelang die Stadt beschossen hat, aber auch zu Sniper-Nestern, wo Scharfschützen direkt auf die Stadtbewohner zielten. Unter den Touristen, die hierherkommen, sind viele aus Europa.

"Für viele Europäer war der Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren etwas Unverständliches, Befremdliches, nicht Nachvollziehbares", meint der deutschfranzösische Historiker Nicolas Moll, der seit vielen Jahren in Sarajevo lebt. Viele fragten sich, wieso es zu dem Krieg kam, wo man doch seit 50 Jahren in Europa in Frieden lebte und gerade mit dem Maastricht-Vertrag 1992 eine noch tiefere Vereinigung angestrebt worden war.

"Barbarischer Balkan" – oder doch nicht?
In Westeuropa erklärten die einen den Krieg mit dem "barbarischen Balkan". Andere lehnten diese Interpretation ab und sprachen vom Krieg "mitten in Europa" und von Sarajevo als "Symbol des multikulturellen Europa", das es zu retten gelte. Beide Interpretationen wirkten bis heute nach und könnten die gewisse Faszination für das belagerte Sarajevo erklären, so Moll.

Was aber bis heute fehlt, ist eine Ausstellung, die die Ideologie, die zum Krieg geführt hat, erklärt. Dabei ist der völkische Nationalismus als Basis gruppenbasierter Menschenfeindlichkeit, der zu Ausgrenzung, Trennung, Vertreibung und zu massenweiser Tötung von Bürgern führte, ganz gut erforscht.
(Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 30.1.2019)
Krieg spielen in Sarajevo - derStandard.at
 
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