Am 16. Februar 1919 durften in Österreich erstmals Frauen zur Wahlurne...

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VOR 100 JAHREN

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Die große Angst, was Frauen wählen
Der 16. Februar 1919 ist ein historisches Datum in der Geschichte Österreichs. Erstmals durften auch Frauen wählen und selbst gewählt werden. Der Weg dorthin war keine Selbstverständlichkeit, Frauen in ganz Europa kämpften jahrzehntelang dafür. Der Wahltag war in Österreich mit Spannung erwartet worden, denn in allen Parteien herrschte große Unsicherheit darüber, wo die Frauen ihr Kreuzerl machen würden.
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Denn sowohl die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als auch die Christlichsoziale Partei (CSP) hatten die Befürchtung, das Frauenwahlrecht könne ihnen schaden. Während die Sozialdemokraten einen Stimmenverlust in Richtung der Christlichsozialen befürchteten, vermuteten die Christlichsozialen genau das Gegenteil. Und in puncto Wahlbeteiligung erwartete man von den Frauen nicht allzu viel.

Doch entgegen aller Erwartungen war die Wahlbeteiligung der Frauen nur wenig geringer als jene der Männer. So schritten 82,10 Prozent der 1.904.741 wahlberechtigten Frauen und 86,98 Prozent der 1.649.501 Männer zu den Urnen. Die Sozialdemokraten erreichten mit 72 Mandaten die relative Mehrheit. Die Christlichsozialen kamen auf 69 Mandate. Zusammen bildeten sie bis 1920 eine Regierungskoalition.

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Der Durchsetzung des Frauenwahlrechts in Europa ging ein langer Kampf der Frauenbewegung voraus

Frauen favorisierten katholisch-konservative Partei
Damals konnte man nur schätzen, wofür die Frauen tatsächlich stimmten. Um das Wahlverhalten der Geschlechter in Zukunft besser einschätzen zu können, wurden ab 1920 Kuverts in unterschiedlichen Farben verwendet. Auf diese Weise konnte statistisches Material gesammelt und ausgewertet werden. Das Ergebnis: Tatsächlich favorisierten Frauen eher die katholisch-konservative CSP.

Heute erklären Historikerinnen und Historiker das vor allem damit, dass Frauen eher häuslich und religiös orientiert gewesen seien. So waren die meisten Frauen in Österreich in den 1920er Jahren von der Erwerbsarbeit ihres Ehemannes abhängig. In vielen Familien ist das zwar auch heute Tatsache, doch hat sich die Frauenerwerbsquote über die Jahre immer weiter erhöht. Erst die Familienrechtsreform 1975 sollte regeln, dass Frauen überhaupt ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten gehen durften. In diese Reform fiel außerdem das Mitentscheidungsrecht über den gemeinsamen Wohnsitz und den Familiennamen.


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Bereits 1903 gründete Emmeline Pankhurst (Bild) mit ihrer Tochter Christabel und vier weiteren Frauen die Women’s Social and Political Union, eine radikal-bürgerliche Frauenbewegung

Suffragetten als Vorreiterinnen
Als Vorreiterinnen in der Frauenbewegung gelten die Suffragetten in England. Frauenrechtlerinnen wie Emmeline Pankhurst und Emily Wilding Davison, Selina Cooper, Millicent Garrett Fawcett und Teresa Billington Greig predigten zivilen Ungehorsam bei Demonstrationen und Kundgebungen und waren etwa als Lobbyistinnen bei Abgeordneten tätig.

Die Aktivistinnen rund um Pankhurst versuchten ihr Recht auch gewaltsam umzusetzen – weltweit eine Ausnahme. Die Proteste weiteten sich in Form von Brandstiftungen und Bombenanschlägen auf das ganze Land aus. Es kam zu kleineren Explosionen, Briefkästen wurden mit Säure übergossen, Kirchen in Brand gesteckt und öffentliche Verkehrsmittel zerstört. Pankhurst wurde als Drahtzieherin eines Bombenanschlags verhaftet, später aber ob ihres schlechten Gesundheitszustandes wegen Hungerstreiks wieder freigelassen.

„Gebt uns unsere uneingeschränkte Freiheit“
Die Ereignisse eskalierten mit dem Tod von Davison, die sich 1913 vor das Pferd von König George V. warf. Kurze Zeit später erlag sie ihren Verletzungen. Die Pankhursts stilisierten Davison anschließend zur „Märtyrerin“ der Frauenbewegung.
Pankhurst kommentierte Davisons Tod so: „Das menschliche Leben ist für uns heilig, daher sind wir fest dazu entschlossen: Wenn schon Leben geopfert werden muss, dann unser eigenes. Wir werden uns nicht selbst umbringen, aber wir werden unsere Gegner in eine Position zwingen, in der sie sich entscheiden müssen: Gebt uns endlich unsere uneingeschränkte Freiheit oder tötet uns." Es sollte weitere 15 Jahre dauern, bis auch die Frauen in England endlich wählen durften.

Zerfall der Monarchie als Katalysator
Österreich erreichte am 12. November 1918 mit dem Ausruf der Republik Deutschösterreich also noch vor England das Frauenwahlrecht. Der Zerfall der Monarchie war dafür zwar Katalysator, doch keineswegs alleiniger Grund. Vielmehr waren es auch hierzulande engagierte Frauen, die jahrzehntelang gesellschaftlichen Druck aufgebaut hatten, indem sie den Protest für Gleichberechtigung auf die Straße trugen.

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Die Titelseite der „Kronen Zeitung“ am 17. Februar 1919 über das Ergebnis der Wahl in Österreich

Das erste europäische Land, das 1906 das Frauenwahlrecht einführte, war das damalige russische Großfürstentum Finnland. Der russische Zar versprach eine Reform des Wahlrechts, und die Frauenrechtsbewegung in Finnland war zu diesem Zeitpunkt brandaktuell.


OeNB/ORF
Mit Karikaturen zu „wahllustigen Frauen“ machten sich die Medien in Österreich über das Frauenwahlrecht lustig

So kam es, dass die Forderung der finnischen Frauen nach einem Stimmrecht im Zuge der Reform berücksichtigt wurde. Die Schlusslichter bei der Einführung des Frauenwahlrechts in Europa waren übrigens die Schweiz und Liechtenstein. In der Schweiz war es 1971 so weit, in Liechtenstein sogar erst 1984.

Acht Frauen im Parlament
Das Frauenwahlrecht an sich und die verhältnismäßig hohe Wahlbeteiligung von Frauen spiegelten sich in Österreich nach der Wahl 1919 allerdings nicht in der politischen Vertretung wider. 115 Politikerinnen kandidierten, doch nur acht schafften den Einzug in die Konstituierende Nationalversammlung am 4. März.
Sie alle hatten zuvor für die Rechte der Österreicherinnen gekämpft: Anna Boschek, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch für die Sozialdemokratische Partei sowie Hildegard Burjan für die CSP. Als Pionierinnen forderten sie etwa die Gleichstellung der Frau im Beruf und in der Ehe, aber auch den legalen und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch, die Einführung der Karenzzeit und Quotenregelungen. Die meisten Forderungen sollten jahrzehntelang zu keiner Umsetzung kommen, für manches wird bis heute gekämpft.

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Die weiblichen Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei 1919: Adelheid Popp, Therese Schlesinger, Anna Boschek, Emmy Freundlich, Maria Tusch und Amalie Seidel (von links vorne)

„Heute noch seid ihr gleichberechtigte Frauen …“
Die Sozialdemokratin Popp war es auch, die 13 Jahre später in einer visionären Rede in München darauf aufmerksam machte, dass die Demokratie ein Aushandlungsprozess sei: „Frauen und Mütter: Heute noch seid ihr gleichberechtigte Frauen. Morgen schon könnt ihr rechtlose Mägde sein, gut genug, Kanonenfutter für die Rüstungsindustrie aufzuziehen", mahnte Popp im Juli 1932, damals Abgeordnete während der Regierung Dollfuß I, konkret vor dem Nationalismus.

Zusammen mit einem Komitee an Frauenrechtsexpertinnen und Historikerinnen wurde im Rahmen des Jubiläums 100 Jahre Republik die Geschichte des Frauenwahlrechts in Österreich aufgearbeitet. Die Inhalte wurden in einer wandernden „Wahlzelle“ in Kärnten, Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und Wien ausgestellt, von 8. März bis 25. August 2019 soll es zudem eine größere Ausstellung im Volkskundemuseum Wien geben. Anschließend zieht die Schau weiter ins Frauenmuseum Hittisau in Vorarlberg.
Christina Vogler, ORF.at
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Vor 100 Jahren: Die große Angst, was Frauen wählen
 
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