Altlast aus früherer Heimarbeit für Uhrenindustrie - Häuser u. Wohnungen verstrahlt

josef

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Wohnungen und Gebäude verstrahlt

Die Schweizer Uhrenindustrie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Zwischen 1920 und 1963 wurde für Leuchtzeiger und -ziffern radioaktives Material verwendet, auch in der weit verbreiteten Heimarbeit. Nicht immer wurde damit sorgsam umgegangen, die Gefährlichkeit des krebserregenden Radiums wurde damals falsch eingeschätzt. Der Stoff ist auch heute noch in verstrahlten Wohnungen und auch der Kanalisation messbar - über dem nun zulässigen Wert. Teure Sanierungen von Gebäuden und Wohnungen sind die Folge. Offenbar sind mehr Liegenschaften betroffen als bisher bekannt.

Leben mit Radium 226 in der Wohnung
Die Schweiz arbeitet ihre Altlasten betreffend ihrer berühmten und finanziell einträchtigen Uhrenindustrie auf. Zahlreiche Gebäude bzw. Wohnungen sind wegen Leuchtfarben für Zeiger, die bis Anfang der 1960er Jahre verwendet werden durften, auch heute noch radioaktiv verstrahlt. Für den Abriss bzw. die Dekontamination soll jetzt der Steuerzahler aufkommen, wie die „Berner Zeitung“ die jüngste Entwicklung berichtete.

Es sind Gebäude und Wohnungen, in denen früher im Auftrag der Schweizer Uhrenindustrie teils in größeren Einheiten, teils in Heimarbeit die Zeitmesser zusammengesetzt wurden. Für die Leuchtziffern und -zeiger wurde von den 20er Jahren an bis 1963 radioaktives Material - das krebserregende Radium 226 - verwendet, wie Schweizer Medien am Wochenende berichteten. Radium strahlt über Jahrtausende hinweg weiter. Und das ist offenbar teilweise immer noch in den Liegenschaften „zu spüren“. In Heimarbeit trugen die Uhrmacher das krebserregende Material auf.

Radiumpulver gelangte in jede Ritze
Sie seien sich keiner Gefährlichkeit des Radiums bewusst gewesen, schreibt die „Berner Zeitung“ über die Uhrenarbeiter, daher seien sie nicht sehr sorgsam mit dem radioaktiven Pulver umgegangen. So sei etwa die Farbe für die Zeiger und Ziffern auch in denselben Räumen gemischt worden, in denen sie auch geschlafen hätten, so die Zeitung weiter. Das Pulver sei auch in Bodenritzen und anderen schwer zugänglichen Bereichen gelangt. Die Pinsel wurden einfach mit Wasser ausgewaschen.

Hunderte „Sünden der Uhrenindustrie“
Der Bund müsse nun für die Sünden der Uhrenindustrie zahlen, berichtete die „Berner Zeitung“ am Wochenende. Die Liste der betroffenen Immobilien ist lang: Insgesamt könnten mehrere hundert Gebäude betroffen sein. Rund 400 werden nun auf mögliche Altlasten und somit höhere Strahlenwerte hin überprüft, fast 100 sind bereits überprüft worden. Das bisherige Fazit: Rund ein Viertel der untersuchten Liegenschaften ist von einem höheren Strahlenwert als zulässig betroffen - und das nach über einem halben Jahrhundert. Dabei handelt es sich vorwiegend um Wohnungen, aber auch um Geschäftslokale.

Für diese 23 Liegenschaften wisse man mit Sicherheit, dass der jährliche Dosisgrenzwert von einem Millisievert pro Jahr überschritten sei, zitiert die Schweizer Zeitung „Der Bund“ den Sprecher des Schweizer Bundeamtes für Gesundheit (BAG), Daniel Dauwalder. Es bestehe kein unmittelbares Gesundheitsrisiko, beeilt man sich zu sagen. Denn „die Werte liegen unter 20 Millisievert pro Jahr, was dem Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen entspricht“, so Dauwalder zum „Bund“. Ein Millisievert ist allerdings die Grenze bzw. maximale Dosis, der die Bevölkerung pro Jahr ausgesetzt werden dürfe, wie „Der Bund“ weiter schreibt. Ist dieser Wert überschritten, wird saniert, heißt es weiter.

Bis in die Kanalisation
Laut einem Rechtsgutachten muss der Staat die Kosten tragen. Den aktuellen Eigentümern der Wohnungen könnten die Kosten nicht angelastet werden, und auch auf die Kontaminierer, die Uhrenfirmen von damals, werde man in den wenigsten Fällen zurückgreifen können. Einerseits seien sie wegen der Heimarbeit oft nicht mehr eruierbar, andererseits existierten viele Firmen von damals nicht mehr, wie die „Berner Zeitung“ schreibt.

Insgesamt sind fünf Millionen Franken dafür offiziell reserviert - das klingt viel, ist es aber laut Schweizer Medien nicht. Denn die Sanierung gestaltet sich teilweise schwierig. Im einfachsten Fall genügt die Beseitigung der Strahlenquelle, so „Der Bund“. Doch komplexe Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen sind oft nötig. Oft müssen auch Boden oder Wände entfernt und ersetzt werden. Auch die angrenzenden Gärten und sogar die Kanalisation kann von der Verstrahlung betroffen sein, und auch dort müssen Maßnahmen gesetzt werden. Pikant: Auch ein Kindergarten ist von den erhöhten Werten betroffen.

Kritik an Versäumnissen
2014 wurde die Verstrahlung der ehemaligen Uhrmacherateliers und heutigen Wohnungen durch Recherche von Schweizer Medien publik gemacht. Vorerst passierte einmal nichts. Eine kontinuierliche Suche nach alten Uhrenateliers in Wohnungen bzw. Messungen verzögerten sich. Selbst ein Historiker wurde hinzugezogen, um derartige Wohnungen ausfindig zu machen. Die Schweizer Bundesversammlung segnete bereits 2015 einen Aktionsplan bis 2019 ab, der Messungen durch die Behörden beschleunigen und etwaige Sanierungen ermöglichen sollte.

Pinsel mit der Zunge befeuchtet
Weiter offen ist allerdings auch das Schicksal der unmittelbar betroffenen Uhrenarbeiter und -arbeiterinnen. Wie viele von ihnen erkrankten, ist laut „Der Bund“ nicht bekannt. Umfassende Untersuchungen über die Zeit der Heimarbeit von 1920 bis zum Verbot des Radiums 1963 fehlen. Verschiedene Fälle seien allerdings dokumentiert, so „Der Bund“ weiter.

Einigen Frauen mussten die Finger amputiert werden, andere starben später an den Folgen der Verstrahlung. Teils wurde laut der Zeitung den Arbeitern empfohlen, die Pinsel durch gelegentliches Befeuchten mit der Zunge oder den Lippen spitz zu halten, so „Der Bund“. Später stellte die Uhrenindustrie dann auf andere Substanzen, wie etwa Tritium, für die Leuchtziffern - und -zeiger um.
http://orf.at/stories/2318192/2318194/
 
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