Geist

Worte im Dunkel
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#1
Zwischen 1945 und 1955 war Österreich von den vier alliierten Mächten besetzt. Niederösterreich, Oberösterreich ob der Donau und das Burgenland befanden sich zehn Jahre lang unter sowjetischer Herrschaft, wovon noch heute zahlreiche schriftliche Relikte zeugen. Die im heutigen Beitrag gezeigten Graffiti stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Besatzungssoldaten der Roten Armee, die sie im Jahr 1954 in Bunkern des Truppenübungsplatzes Bruckneudorf hinterlassen haben. Wie der Alltag dieser Soldaten aussah, beschreibt der Artikel.

Der Tagesablauf der sowjetischen Besatzungssoldaten


Die tägliche Routine des gewöhnlichen Soldaten unterlag minutiöser Planung, die so gut wie keine Freizeit zur persönlichen Verfügung vorsah:
  • 06:30 Uhr: Wecken und Aufstehen
  • Sport, Hygiene, Standeskontrolle
  • 07:30 bis 08:20 Uhr: Frühstück
  • Politinformation
  • Vormittag: Gefechtsübungen
  • Mittagessen
  • Nachmittag: Gefechtsübungen
  • Abend: Reinigung der Waffen und Ausrüstung
  • Politische Massenarbeit
  • Vorbereitung auf die Übungen des folgenden Tages
  • 21:30 bis 22:20 Uhr: Abendessen
  • 23:00 Uhr: Nachtruhe[1]
Der Grund für diese strenge und umfassende Tageseinteilung lag im Wunsch nach Kontrolle über die Soldaten und die Aufrechterhaltung ihrer Disziplin. Die militärische Führung der Roten Armee wollte damit dem Müßiggang der Soldaten vorbeugen und sie in konstanter Beschäftigung wissen.

Der Tagesablauf der Verwaltungsbeamten und Offiziere war bei weitem nicht so streng organisiert wie der oben geschilderte. Diese Gruppen konnten etwas später aufstehen, verfügten über mehr Freizeit und genossen freie Abende.

Der von 1945 bis 1947 in Bruck an der Leitha stationierte Nikolaj Paščenko beschrieb den Tagesplan der Offiziere so:
„Der Arbeitstag begann sowohl für die Offiziere als auch für die Soldaten um 6 Uhr: Wir standen auf, turnten, frühstückten, und danach organisierten wir die Übungen. Um 13 Uhr war Mittagessen, danach Erholung. Anschließend planten wir, wie die Pflege der Militärtechnik zu organisieren war, die nach den Kampfhandlungen erst repariert werden musste. Damit beschäftigten wir uns. Am Abend hatten wir frei. Wir hatten unsere Kantine, Bibliothek, einen Klub, wo es Zeitungen und Journale gab. Dort verbrachten auch die Soldaten ihre Freizeit.“[2]

Doch schon 1945 beklagten Vorgesetzte und Kommandeure die teilweise niedrige Moral bei der Einhaltung der strengen Pläne. Soldaten entfernten sich unerlaubt von der Truppe oder nahmen nicht an den Schulungen und militärischen Übungen teil. Selbst Offiziere missachteten ihre Vorbildfunktion: An ihren freien Tagen begaben sie sich etwa in die nächstgelegene Stadt ohne davor ihren Aufenthaltsort bekanntzugeben oder liefen während ihrer Dienstzeit in unordentlicher Adjustierung mit ungeputzten Schuhen herum.

Abb. 1: Inschrift von Aram Akopjan

Die Unterkünfte der Soldaten und Offiziere


Zu Kriegsende standen 400.000 Männer allein der Roten Armee auf österreichischem Boden, die untergebracht werden mussten. Bis Herbst 1945 verringerte sich ihre Zahl auf etwa 180.000 bis 200.000, Anfang 1946 waren es 150.000. Zu Kriegsende befanden sich noch immer 40.000 sowjetische Soldaten verschiedener Ränge und mehr als 7.000 ihrer Familienangehörigen in Österreich. Sie alle mussten untergebracht werden.

In Fragen der Unterbringung der Armeeangehörigen gab es wie bei der Tagesplanung große Unterschiede zwischen den gewöhnlichen Mannschaften und den Offizieren. Für Mannschaftssoldaten wurden vor allem in den Anfängen der Besatzungszeit meist Kasernen oder aufgelassene Kriegsgefangenenlager adaptiert, in denen sie verschiedenste Qualitätsstufen vorfanden – vom eigenen Zimmer mit Bett und Einrichtung – siehe Zitat des Politberichts unterhalb, bis zur einfachen Notlösung in Form einer Pritsche.

„Sämtliche Angehörige des Mannschaftsstandes leben nach Batterien gegliedert in Einzelzimmern. Jeder Soldat und jeder Unteroffizier verfügt über ein Bett, eine Matratze, zwei Leintücher, eine Bettdecke und einen Polster. Die Zimmer sind mit Bildern der großen Führer, Spruchbändern, Plakaten und Blumen geschmückt, die Böden in den Zimmern und Gängen wurden mit Teppichen ausgelegt. Jede Batterie verfügt über ein Radiogerät.“[3]

Während vor allem anfangs die vorhandenen Räumlichkeiten für die Mannschaften dicht mit zwei- und dreistöckigen Pritschen ausgestattet wurden, um möglichst viele Soldaten unterzubringen, wurden für Offiziere Häuser und Wohnungen beschlagnahmt. Sowohl die abgeschlossene Kasernierung der einfachen Soldaten als auch die von der österreichischen Zivilbevölkerung isolierten Offiziersunterkünfte dienten dem Zweck, der befürchteten Spionage entgegenzuwirken.

Auf diese Weise entstanden an den Unterbringungsorten völlig nach außen abgeschottete Bereiche, in die nie oder nur selten ein Österreicher vordrang, denn es war verboten, sich mit der Zivilbevölkerung eine Unterkunft zu teilen. Ganz im Gegenteil galt jeder Kontakt mit Einheimischen als potenziell gefährlich in politischer und ideologischer Hinsicht. Deshalb legte man seitens der militärischen Führung wert auf strenge Ordnung, Disziplin und einen funktionierenden Wachdienst.

Offiziere, die in beschlagnahmten Häusern oder Wohnungen lebten, standen jedoch ganz entgegen der Vorgaben oft in Verbindung mit den österreichischen Eigentümern und pflegten Umgang mit ihnen. Der ebenfalls in Bruck an der Leitha stationierte Oberleutnant Boris Zajcev erinnert sich:
„Als unsere Einheit nach Bruck kam, suchte der Stadtkommandant für uns Offiziere Wohnungen aus. Die Soldaten wohnten getrennt. Und ich bekam diese Wohnung neben der Brücke. Mit der Frau des Hausherrn hatte ich fast keinen Kontakt, weil ich nicht im Haus, sondern in der Einheit aß. Wir hatten einen guten Koch. Ich schlief dort und ruhte mich dort aus. Diese Familie hatte zwei Töchter und einen Sohn. Der Bub kam sehr gern zu mir. Er redete mit mir und brachte mir Deutsch bei. Er saß neben mir und sagte, wie die Wörter richtig ausgesprochen werden. Er spielte den Lehrer. Und dann gingen wir alle ins Kino, mit den Töchtern und dem Hausherrn, manchmal auch mit dem Sohn. Eine ganze Gruppe.“[4]

Abb. 2: Inschrift von Artöm Podzholjan

Die Besetzung des Truppenübungsplatzes Bruckneudorf


Bereits 1867 wurde der Truppenübungsplatz (Tüpl) Bruckneudorf gegründet, damals noch unter dem Namen „Brucker Lager“ wegen seiner unmittelbaren Nähe zu Bruck an der Leitha. Hier übten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Infanterie, Kavallerie, technische Truppen und sogar die Marine.

Am 17. März 1938 besetzten deutsche Truppen in Folge des „Anschlusses“ den Tüpl und verwendeten ihn bis Kriegsende für sich. Im Zuge dessen fand eine beträchtliche Erweiterung statt, in deren Zuge die Einwohner des Ortes Sommerein ausgesiedelt wurden. An der westlichen Seite des Ortes wurde die Artillerieschießbahn V angelegt, die in nordnordwestlicher Richtung vom Mitterberg bis zur Leitha reichte.[5] In dieser Schießbahn wurden Übungsbunker errichtet, in denen die Rekruten durch Artilleriefeuer an den Gefechtslärm gewöhnt wurden.

Kurz nach Kriegsende brachte die Rote Armee 300 Soldaten einer Pioniereinheit hier unter, die sich der Wiederinstandsetzung der Eisenbahnbrücke widmete. Bis 1955 waren es hauptsächlich Artillerie- und Panzereinheiten, die am Tüpl stationiert wurden.

1946 erfolgte die Beschlagnahme aller Ländereien der Gemeinden Bruck an der Leitha, Kaisersteinbruch und Sommerein, auf denen sich der Tüpl befand, und des Königshofs bei Wilfleinsdorf, da der Übungsplatz als ehemaliges deutsches Eigentum der USIA-Verwaltung unterstellt wurde.

Die Rückgabe des Tüpl an das Österreichische Bundesheer erfolgte am 27. August 1955. Kurz darauf wurde seine Größe wieder auf den Bestand von vor 1938 reduziert, wodurch die Übungsbunker bei Sommerein heute von privaten Feldern umgeben sind.

Abb. 3: Hier sind drei Namen erkennbar: Mittig in schwarzer Farbe Samadashvili, rechts schräg Tymirbaj I. Jumagulov und in brauner Farbe A.I. Ischkov

Die Entschlüsselungen der Graffiti


Frau Mag. Natalia Lagureva vom Befreiungsmuseum Wien konnte die oben gezeigten Graffiti entschlüsseln und übersetzen, wofür ich ihr herzlich danke. Dabei kam ein bunter geographischer Mix der Menschen heraus, die sich an den Bunkerwänden verewigt haben:

Zu Abb. 1:

Im Original:
Zeile 1: АКОПЯН
Zeile 2: АРАМ 1954 – был здесь
Zeile 3: январь 13/I

Umgewandelt in lateinische Schrift:
Zeile 1: AKOPJAN
Zeile 2: ARAM 1954 – byl zdes‘
Zeile 3: janvar‘ 13/I

Bedeutung:
Zeile 1: Akopjan ist ein armenischer Familienname
Zeile 2: Aram ist ein armenischer Vorname, 1954 – war hier
Zeile 3: Januar 13/1

Ergo:
Der aus Armenien stammende Aram Akopjan war am 13. Jänner 1954 hier (in einem Übungsbunker in Bruckneudorf).

Zu Abb. 2:

Im Original:
Zeile 1: 1954 г. 13-го
Zeile 2: Поджолян
Zeile 3: АРТЁМ
Zeile 4: рад.1934

Umgewandelt in lateinische Schrift:
Zeile 1: 1954 g. 13-go ja(nvarja)
Zeile 2: Podzholjan
Zeile 3: ARTÖM
Zeile 4: rad. 1934 г.

Bedeutung:
Zeile 1: 1954 J(ahr) 13.-te Ja(nuar leider außerhalb des Fotobereichs)
Zeile 2: Podzholjan ist ein russischer oder ukrainischer Familienname
Zeile 3: Artöm ist ein russischer oder ukrainischer Vorname
Zeile 4: eventuell ein Hinweis auf sein Geburtsjahr 1934

Ergo:
Der eventuell 1934 geborene Artöm Podzholjan von wahrscheinlich russischer oder ukrainischer Herkunft hinterließ am 13. Jänner 1954 seinen Namen im Bruckneudorfer Übungsbunker.

Zu Abb. 3:

Im Original:
Zeile 1: 1954 г.
Zeile 2: 13/I м чиса? часа
Zeile 3: Был САМАДАШВИЛИ

Umgewandelt in lateinische Schrift:
Zeile 1: 1954 g.
Zeile 2: 13/I m. 3 tchisa
Zeile 3: Byl SAMADASHVILI

Bedeutung:
Zeile 1: 1954 J(ahr)
Zeile 2: 13/I m. um 3 Uhr [eventuell]
Zeile 3: War [Samadashvili ist ein georgischer Familienname]

Ergo:
Am 13. Jänner 1954 war – eventuell um 3 Uhr – ein Mensch aus Georgien namens Samadashvili im Übungsbunker bei Bruckneudorf.

Darunter in brauner Farbe:

Im Original:
Ишков А.И.

Umgewandelt in lateinische Schrift:
Ischkov A. I.

Bedeutung:
Russischer Familienname vermutlich mit den Initialen des Vornamens

Rechts oben schräg:

Im Original:
Zeile 1: 1954-13/I
Zeile 2: Юмагулов
Zeile 3: Тымирбай И.

Umgewandelt in lateinische Schrift:
Zeile 1: 1954-13/I
Zeile 2: Jumagulov
Zeile 3: Tymirbaj I.

Bedeutung:
Zeile 1: 1954-13/I
Zeile 2: Jumagulov ist ein kasachischer Familienname
Zeile 3: Tymirbaj ist ein kasachischer Vorname und eventuell die Initiale eines weiteren Vornamens

Ergo:
Der aus Kasachstan stammende Tymirbaj Jumagulov war ebenso wie die oben angeführten vermutlichen Besatzungssoldaten am 13. Jänner 1954 in diesem Übungsbunker bei Bruckneudorf.

Fußnoten:

[1] Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955 (Kriegsfolgen-Forschung, Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz–Wien–Klagenfurt Bd. 6, Wien/München 2012), S. 559, online unter:
Stalins Soldaten in Österreich (9. Juli 2020)

[2] Stelzl-Marx, Stalins Soldaten, S. 561.

[3] Stelzl-Marx, Stalins Soldaten, S. 564.

[4] Stelzl-Marx, Stalins Soldaten, S. 567f.

[5] Niederösterreichisches Landesarchiv, Der Reichsstatthalter in Niederdonau, Dezernat Ve-3, Zl. 423/1941.

Links und Literatur:

Petra Weiss, 150 Jahre Brucker Lager, Tüpl Bruckneudorf, Teil 1: Von der Gründung 1867 bis zum Ersten Weltkrieg 1914, online unter:
150 Jahre Brucker Lager/TÜPl Bruckneudorf - 1 | Truppendienst (9. Juli 2020)

Petra Weiss, 150 Jahre Brucker Lager, Tüpl Bruckneudorf, Teil 2: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Ende der Besatzungszeit 1955, online unter:
150 Jahre Brucker Lager/TÜPl Bruckneudorf - 2 | Truppendienst (9. Juli 2020)

Petra Weiss, 150 Jahre Brucker Lager, Tüpl Bruckneudorf, Teil 3: Vom Ende der Besatzungszeit 1955 bis heute, online unter:
150 Jahre Brucker Lager/TÜPl Bruckneudorf - 3 | Truppendienst (9. Juli 2020)

Interne Links:

Mehr zu den Jahren der Besatzungszeit:
Besatzungszeit bis 1955 – Worte im Dunkel

Link zum Originalbeitrag: 1954 – Das tägliche Leben der sowjetischen Besatzungssoldaten am Beispiel Bruckneudorf – Worte im Dunkel
 
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