Geist

Worte im Dunkel
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#1
Auf die Stunde genau vor 75 Jahren – am 1. Februar 1945 – heulten um 11:45 Uhr in Wien die Sirenen und kündigten einen bevorstehenden Luftangriff an. Hunderttausende Menschen schnappten sich den ständig bereitstehenden Koffer mit Dokumenten, nützlichen Utensilien und persönlichen Habseligkeiten und eilten so schnell wie möglich in die Luftschutzkeller oder Bunkeranlagen.

Der Kuckucksruf
Bevor jedoch der Fliegeralarm ausgelöst wurde, ertönte in den Radiogeräten der Kuckucksruf, den Sie hier auf der Website der Österreichischen Mediathek anhören können:
Kuckucksruf und Durchsage im Radio (45 Sekunden)
Damit wusste die Bevölkerung, dass die Abschaltung des Senders und die darauffolgende Einschaltung des Luftschutzsenders auf Drahtfunkbasis unmittelbar bevorstand. Der Kuckucksruf selbst galt noch nicht als Luftwarnsignal – es bestand noch keine unmittelbare Gefahr.

Die vier Luftwarnsignale

Näherten sich nun tatsächlich Flugzeuge dem Stadtgebiet, so gab es zwei Möglichkeiten der Alarmierung: Wenn nur vereinzelte Flieger auftauchten, die keinen Großangriff durchführen würden, so wurde das Signal „Öffentliche Luftwarnung“ gegeben. Waren allerdings große Bomberverbände mit entsprechender Angriffswirkung im Anflug, so wurde „Fliegeralarm“ ausgelöst.

1. Öffentliche Luftwarnung
Das Sirenensignal „Öffentliche Luftwarnung“ bestand aus drei hohen Dauertönen innerhalb einer Minute. Nach diesem Signal wussten die Leute, dass zwar mit Fliegern zu rechnen war, aber kein Großangriff in der Luft lag.
Wirtschaft und Verkehr kamen während dieser Alarmstufe nicht zum Erliegen und es bestand keine Verpflichtung Luftschutzräume aufzusuchen. Den Menschen wurde jedoch geraten mit erhöhter Vorsicht zu handeln und Deckungsmöglichkeiten im Auge zu behalten. Sie mussten in dieser Phase der Alarmierung sowohl mit einzelnen Fliegern und gelegentlichem Bombenabwurf als auch einsetzendem Abwehrfeuer der Flakartillerie rechnen.

2. Fliegeralarm
Stand ein Großangriff bevor, so wurde das Luftwarnsignal „Fliegeralarm“ gegeben. Hier warnten die Sirenen eine Minute lang auf- und abheulend. Diese Alarmstufe kündete ganz deutlich von einem bevorstehenden Großangriff. Sobald dieses Signal gegeben wurde, musste sich die Bevölkerung so schnell wie möglich in Luftschutzkellern oder anderen Schutzanlagen in Sicherheit bringen. Wer sich nicht an diese Anordnung hielt, machte sich strafbar.
Fliegeralarm wurde auch gegeben, wenn sich aus der Öffentlichen Luftwarnung durch Nachkommen stärkerer Bomberverbände die Wahrscheinlichkeit eines Großangriffs konkretisierte. Grundsätzlich war die Öffentliche Luftwarnung jedoch kein Vorwarnsignal für den Fliegeralarm.

3. Vorentwarnung
Hier wurde das gleiche Signal wie bei „Öffentlicher Luftwarnung“ gegeben – drei hohe Dauertöne innerhalb einer Minute. Die Menschen wussten in dieser Alarmstufe, dass die Flugzeuge dabei waren, das Stadtgebiet zu verlassen, aber noch immer mit vereinzelten Abwürfen und dem Feuer der Flakabwehr zu rechnen war.
Spätestens in dieser Phase der Alarmierung waren die Selbstschutzkräfte dazu verpflichtet, im Falle eines Feuers oder geborstener Leitungen die Bekämpfung des Schadens aufzunehmen. Weiters nahmen Wirtschaft und Verkehr wieder ihren Betrieb auf.

4. Entwarnung
Nachdem die Flugzeuge aus dem Luftraum über der Stadt abgezogen und keine neuen Angriffswellen zu erwarten waren, wurde das Signal „Entwarnung“ ausgelöst – ein einminütiger hoher Dauerton.

Dieser Vers in der Krypta der Alser Kirche in Wien zeugt von der großen Angst, die im Luftschutzkeller herrschte. 115 mal musste die Wiener Bevölkerung 1944 und 1945 vor möglichen Luftangriffen gewarnt werden.

Auch so manche Krypta war luftschutzmäßig ausgebaut worden. Im Falle eines Fliegeralarms fanden hier Hunderte Menschen Schutz. Einer von ihnen hinterließ der Nachwelt einen Vers, der vom tosenden Grauen des Luftkriegs zeugt, das unter Flaklärm und Bombeneinschlägen die meisten Menschen für ihr restliches Leben seelisch erschütterte.

Text des Verses:
„Als die Flieger brausten oben,
lernten wir dies Gewölbe loben!
Bei Flakge(b)rüll, in Bombennot,
bargen wir uns hier vor’m Tod!

1. II. 45 1943–45″

Um 13:30 Uhr erfolgte an diesem 1. Februar 1945 die Entwarnung. Kein Luftangriff war erfolgt, denn die Bomberflotte wandte sich an diesem Tag nicht der Stadt Wien, sondern der ölverarbeitenden Industrie in Moosbierbaum zu.

Seelen im Krieg

Soldaten erleben in einem Krieg Momente, die sie nie verarbeiten können. Zerfetzte Kameraden, wochenlanges Trommelfeuer oder Befehle Zivilisten zu erschießen, lösen den Begriff des Kriegshelden in Nichts auf. Kehren sie auch körperlich wohlbehalten nach Hause zurück, so ist die Psyche meist krank oder irreparabel zerstört.
Doch auch die städtische Zivilbevölkerung geriet im Zweiten Weltkrieg in Situationen, die wohl nur die wenigsten ohne bleibende Beeinträchtigungen überstanden.

Posttraumatische Belastungsstörungen
Wie man der Informationsplattform „Alter und Trauma. Unerhörtem Raum geben“ entnehmen kann, zeigen sich die Spätfolgen der psychischen Belastungen auf unterschiedlichste Weisen: Alte Menschen, die als Kinder und Jugendliche die Zeit erlebten, als die Bomben fielen, zeigen heute verschiedenste psychische Auffälligkeiten. So manche Seniorin wird bei Donnergrollen nervös, weil es sich wie entferntes Fliegerdröhnen oder Bombenexplosionen anhört. Die einen versuchen sich zu verstecken und kriechen unter den Tisch, die anderen erstarren in Angst – 75 Jahre nach der Gefahr.

Eine Studie, die auf den Erkenntnissen von Altenbetreuern beruht, zeigt welche Trigger auffälliges Verhalten verursachen. Fast 70 Prozent der Befragten nannten „Geräusche“ als hauptsächliche Ursache, aber auch „fremde Sprache“ oder „fremde Hautfarbe“, was auf die negativen Erfahrungen mit Besatzungssoldaten zurückzuführen ist. Die Betroffenen zittern und laufen umher, wenn sie Sirenen hören. Sie verkriechen sich oder bekommen Schreikrämpfe. Das hohe Heulen, das im Krieg immer mit Angst, Stress und Panik in Verbindung stand, sorgt bei Menschen, die den Bombenkrieg erlebten, noch heute für Nervosität. Das Kindheitstrauma dieser Generation tragen sie mit bis in ihr Erwachsenenleben. Kaum jemand hat es systematisch aufgearbeitet, die wenigsten reden darüber.

Eine 2008 veröffentlichte Studie ergab, dass in Deutschland 7,2 Prozent der damals über 60-Jährigen an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, die eindeutig eine Folge der Traumata des Zweiten Weltkriegs war. In Österreich war dieser Prozentsatz aufgrund der im Vergleich zu Deutschland kurzzeitigeren und nicht auf Flächenbombardement ausgerichteten Luftangriffe eventuell kleiner.

Diese Menschen können an Depressionen, massiven Schlafstörungen und Albträumen, diffusen Ängsten, Panikattacken und Beziehungsproblemen bis zur Beziehungsunfähigkeit leiden. Manche vermeiden gefährliche Situationen und trauen sich nicht mehr auf der Autobahn zu fahren. Einige suchen nach den chaotischen Kriegstagen nach Ruhe und Geborgenheit, richten sich ein schönes Zuhause ein und schaffen es nicht, es für längere Zeit, etwa für einen Urlaub, zu verlassen. Bei anderen wiederum zeigt sich das frühe Trauma im Sammeln von Essen und der Unfähigkeit Essen zu entsorgen. Im Kopf lenkt sie unbewusst die Angst, die Not könnte wiederkehren.

Die Kinder der Traumatisierten
Die Forschung hat festgestellt, dass die Traumata des Krieges nicht nur die Betroffenen selbst beeinträchtigen, sondern auch deren Nachkommen. In einem Interview mit der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ sprach Sabine Bode über die seelische Nachbelastung des Krieges, die an die nächste Generation weitergegeben wurde. Die Schrecken der Vergangenheit sitzen tief im Kopf und führen zur entsprechenden Erziehung der Kinder, denen gesagt wird, sie sollten auf Sicherheit bauen, kein Risiko eingehen, nicht auffallen und ähnliches. All das sind Tipps aus dem Krieg, die damals das Überleben sicherten oder Tipps aus der Nachkriegszeit, die darauf abzielten, die mühsam aufgebaute Geborgenheit abzusichern. In der nachkommenden Generation erfüllten sie jedoch keinen Sinn.

So entfremdeten sich die Kinder von den Eltern, die Beziehung zu ihnen wurde nie herzlich oder besonders tief. Die Eltern wollten zwar alles für ihre Kinder tun, ihnen gut zu essen geben, sie mit anständiger Bekleidung ausstatten und sie möglichst erfolgreich durch die Schulzeit begleiten, aber die emotionale Bindung litt unter den erlebten Kriegstraumata. Wo sich die Kinder Rückhalt und Unterstützung wünschten, bekamen sie Unverständnis und Ablehnung. Für die Kinder ist eine mögliche Folge davon das ständige Gefühl der Unsicherheit und von unerklärlichen Ängsten im Erwachsenenalter.

Der Psychotherapeut Hartmut Radebold bestätigt die Weitergabe auffälliger Verhaltensweisen von den Eltern auf die Nachkommen in einem Gespräch mit „Der Spiegel“. Das liege eventuell daran, dass die Eltern ihr Trauma durch die Erziehung und ihr Verhalten an die Kinder weitergeben. Sogar diese spüren dann Nervosität aufsteigen, wenn samstags die Sirenen heulen. Auf diese Weise entfaltet der Krieg selbst 75 Jahre nach dessen Ende seine destruktive Kraft auf die Gesellschaft, der wir nur mit viel Aufklärung, Bewusstsein und Verständnis entgegenwirken können.

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende – Worte im Dunkel
Link zur Pfarre Alservorstadt

http://www.pfarre-alservorstadt.at/

Literatur zu den Fliegeralarmen:
Österreichische Mediathek, Der Kuckuck – Warnung von Luftangriffen auf Städte und Fliegeralarmsirene, online unter:
Portaltreffer | Österreichische Mediathek (30. Januar 2020)

Wien Geschichte Wiki, Luftkrieg, online unter:
Luftkrieg – Wien Geschichte Wiki (30. Jänner 2020)

Marcello La Speranza, Begegnungen. NS- und Kriegsspuren in Wien. Expeditionen, Hinterlassenschaften, Zeitzeugen (Wien 2015)

Marcello La Speranza, Der zivile Luftschutz in Österreich 1919–1945. In: Republik Österreich, Bundesminister für Landesverteidigung (Hg.), Kuckucksruf und Luftschutzgemeinschaft. Der Luftschutz der Zwischenkriegszeit – Avantgarde der modernen ABC-Abwehr und des zivilen Luftschutzes (Schriftenreihe ABC-Abwehrzentrum 8, Korneuburg 2019)

Wolfgang Schulz, Bomben auf Döbling, online unter:
https://www.döbling.com/data/documents/Bomben-auf-Doebling.pdf (30. Januar 2020)

Literatur zur Psychologie:
Annette Bruhns, „Der Schmerz holt mich ein“. Interview mit Hartmut Radebold (01.06.2010), online unter:
SPIEGEL-GESPRÄCH : „Der Schmerz holt mich ein“ - DER SPIEGEL 3/2010 (30. Januar 2020)

Andreas Maercker, Posttraumatische Belastungsstörungen in Deutschland. Ergebnisse einer gesamtdeutschen epidemiologischen Untersuchung, online unter:
https://doc.rero.ch/record/318895/files/115_2008_Article_2467.pdf (30. Januar 2020)

Angelika Prauß, Millionen Deutsche leiden an Weltkriegs-Traumata. Interview mit Sabine Bode (26.09.2014), online unter:
Millionen Deutsche leiden an Weltkriegs-Traumata - WELT (30. Januar 2020)

Astrid Romeike, Reaktivierung von Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg – Erscheinungsformen und Umgang mit der Thematik in der stationären Altenhilfe, online unter:
https://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2018/09/PG-3_2017.pdf (30. Januar 2020)

Alter und Trauma, Der 2. Weltkrieg im Wohnzimmer, online unter:
Der 2. Weltkrieg im Wohnzimmer - Alter und Trauma - Unerhörtem Raum geben (30. Januar 2020)


Link zum Originalbeitrag: 1945 bis 2020 – Sirenenseelen – Worte im Dunkel
 
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