Geist

Worte im Dunkel
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#1
Dieser Beitrag ist die Fortsetzung zu jenem von letzter Woche, der sich der Parole „Pst! Feind hört mit!“ gewidmet hat. Heute zeige ich ein spannendes Plakat, das die Bevölkerung im Luftschutzkeller davor gewarnt hat, sich durch unbedachtes Plaudern oder vermeintliche Fachgespräche unter Schutzsuchenden im schlimmsten Falle des Landesverrats schuldig zu machen. Es ist sozusagen die Textvariante zur Aufforderung „Pst!“, die ich vorige Woche vorgestellt habe.
Darauf aufbauend beschreibe ich kurz, in welchen justiziellen Mahlstrom jemand geraten konnte, der den Fehler beging, die falschen Worte mit dem falschen Gesprächspartner zu wechseln.

Wie schon letzte Woche gezeigt, wurde die Bevölkerung des Dritten Reichs massiv mittels Plakaten, Filmen und Zeitungsartikeln dazu angehalten, kein Wissen weiterzugeben, das sie durch ihre Arbeit oder in ihrem Alltag erlangt hatten. Jede noch so kleine Information konnte gemäß der nationalsozialistischen Behörden dem Feind einen Vorteil verschaffen.

Kellertür, an der noch heute der Hinweis für die damalige Bevölkerung hängt, verschwiegen zu sein.

Doch was geschah, wenn tatsächlich jemand absichtlich oder unabsichtlich ein Staatsgeheimnis verriet und dabei erwischt wurde? Da dieses Vergehen als Landesverrat galt, fiel das Verfahren in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes. Der Delinquent geriet damit in einen Verfahrensablauf, der potenziell tödlich enden konnte: Die zuständige Staatsanwaltschaft meldete den Fall eines Hoch- oder Landesverrats sowie ab 1943 auch öffentliche Wehrkraftzersetzung an die Oberreichsanwaltschaft in Berlin.
Dort wurde dann entschieden, ob der jeweilige Fall beim ebenfalls in Berlin ansässigen Volksgerichtshof (VGH) verhandelt werden sollte, der seit 20. Juni 1938 auch für Österreich zuständig war. Wenn die Oberreichsanwaltschaft den Fall nicht dem VGH zuteilte, wurde er beim Oberlandesgericht (OLG) Wien oder ab Oktober 1944 auch beim OLG Graz bearbeitet, das für Kärnten und die Steiermark zuständig war. Die Oberreichsanwaltschaft konnte aber genauso gut die Einstellung des Verfahrens veranlassen, wenn es die Sachlage als nicht verhandelbar oder verhandlungswürdig erkannte.

Diese Entscheidung der Oberreichsanwaltschaft war für den Angeklagten von höchster Bedeutung, denn nach 1940 fällte der Volksgerichtshof in mindestens 40 Prozent aller Verhandlungen ein Todesurteil, während am OLG Wien diese Quote bei etwa 0,4 Prozent lag – von 4163 Verhandlungen in Wien endeten mindestens 17 mit einem Todesurteil. Der große Rest kam mit Zuchthaus davon. Wurde der Fall eines „österreichischen“ Landesverräters also vor dem OLG Wien verhandelt, so standen die Chancen relativ gut, wenigstens in nicht schwerwiegenden Fällen mit dem Leben davonzukommen, während ihn in Berlin etwa eine 50:50-Chance erwartete.

„Man kann den Volksgerichtshof wohl als ein politisches Gericht bezeichnen, und zwar schon deshalb, weil er das einzige Gericht in Deutschland ist, das die schweren Hoch- und Landesverratsverbrechen abzuurteilen hat. […] Darum müssen wir auch von allen Richtern dieses Gerichtshofes und von allen Vertretern der Anklagebehörde verlangen, daß sie in erster Linie Politiker und dann erst Richter und nicht umgekehrt sind. […] So wie die Wehrmacht den äußeren Bestand des Staates zu sichern hat, so hat der Volksgerichtshof diese Verpflichtung nach innen hin in Verbindung mit der Geheimen Staatspolizei.“*

Wie hoch war nun aber die Wahrscheinlichkeit für den Angeklagten, vor das OLG Wien gestellt zu werden und nicht vor den Volksgerichtshof? Sie lag bei etwa 66 Prozent – zwei Drittel der Fälle wurden in Wien verhandelt, der Rest in Berlin. Interessant ist bei diesen Zahlen, dass die Quote zwischen den Verhandlungen, die am Oberlandesgericht und jenen, die am Volksgerichtshof geführt wurden, im deutschen Bundesland Hessen um ein Vielfaches niedriger war. Dort wurden etwa 93 Prozent am OLG verhandelt und nur die restlichen sieben Prozent in Berlin.
Die Begründung für diese Ungleichheit liegt im Status Österreichs als „angeschlossenem“ Staat begraben. Die deutschen Justizbehörden betrachteten Fälle des Hoch- und Landesverrats, die in Österreich begangen wurden, als schwerer und gefährlicher als jene, die aus dem „Altreich“ gemeldet wurden.

Die folgenden Zahlenangaben beruhen auf den Erkenntnissen der neuesten Forschung, sind aber aufgrund fehlender Akten, vor allem aus dem OLG Graz, mit einem gewissen, wenn auch nur kleinen Fehler behaftet.

Zwischen Juli 1938 und April 1945 kamen mindestens 6336 österreichische Angeklagte wegen Hoch- und Landesverrats, öffentlicher Wehrkraftzersetzung oder der unterlassenen Meldung dieser Delikte vor Gericht, davon 4163 in Wien, 36 in Graz und 2137 in Berlin.
In Wien wurden in mindestens 1988 Verfahren die Fälle der 4163 Angeklagten verhandelt. 672 von ihnen waren Frauen. Von den 17 Todesurteilen wurden elf in Wien und eines in Graz vollstreckt, die anderen zu Zuchthaus begnadigt. 458 Personen wurden oft erst nach Monaten oder gar Jahren in Untersuchungshaft freigesprochen – meist mit der Begründung „Aus Mangel an Beweisen“. Nur in neun Fällen wurde „Aus erwiesener Unschuld“ als Grund des Freispruchs angegeben. Aus den Akten geht hervor, dass ein großer Teil der Angeklagten aus dem politischen Umfeld der Kommunisten und Sozialdemokraten stammte.
Von den 2137 am Volksgerichtshof in Berlin verhandelten Verfahren endeten 814 mit einem Todesurteil, mindestens 681 wurden auch vollstreckt.**


Aushang zur Verschwiegenheit, denn der „Feind hört mit!“

Transkription des Plakattextes:

„Willst Du siegen – sei verschwiegen!

Fast jeder Volksgenosse steht heute teils mittelbar, teils unmittelbar im Kampf um das Dasein des Reiches.
Fast ein jeder wird durch seine Tätigkeit oder andere Umstände Mitwisser von Vorgängen und Maßnahmen, die streng geheim zu halten sind und auf keinen Fall zur Kenntnis des Feindes kommen dürfen.
Jede Nachricht über innere und äußere Vorkommnisse militärischer oder wirtschaftlicher Art kann dem Gegner von Nutzen sein. Wie wichtig sie ist, kann der Einzelne nicht beurteilen.
Dein oberster Grundsatz in Kriegszeiten also:
Sei verschwiegen!
Zwinge Dich dazu, jedes Gespräch zu überdenken, überlege jeden Brief, den Du schreibst, sieh Dir an, mit wem Du umgehst.
Tue Dich nicht wichtig, prahle nicht mit Deinen beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen.
Laß Dich nicht aushorchen und durch Widerspruch zum Ausplaudern geheimer Dinge reizen.
Sprich auch mit Deiner Familie, Deiner Frau oder Braut nur über das Notwendigste, soweit es Deinen Dienst betrifft.
Wo Du auch stehst, denke daran:
Feind hört mit!
Auch fahrlässige Preisgabe von Staatsgeheimnissen ist Landesverrat!“

Fehlende Stellen im Plakat habe ich mittels abgedruckter gleichlautender Texte in Zeitungen ergänzt, siehe:

Artikel „Sei verschwiegen!“, in: Innsbrucker Nachrichten, Mittwoch, 14. April 1943, S. 3, online unter: ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften, ANNO, Innsbrucker Nachrichten, 1943-04-14, Seite 3 (28. Mai 2020)
Artikel „Willst du siegen, sei verschwiegen“, in: Niederösterreichischer Grenzbote, Sonntag, 20. Juni 1943, S. 4, online unter: ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften, ANNO, Niederösterreichischer Grenzbote, 1943-06-20, Seite 4 (28. Mai 2020)

Vielen Dank an Marcello La Speranza für den Hinweis auf dieses extrem rare Plakat, das nach mehr als 75 Jahren noch immer an dem Ort klebt, an dem es angebracht wurde.

Fußnoten:

* Karl Engert, Stellung und Aufgaben des Volksgerichtshofes, in: Deutsches Recht, Heft 13/14, 20. Mai 1939, S. 485, zitiert nach: Wolfgang Form, Ursula Schwarz, Österreichische Opfer der NS-Justiz, online unter: DÖW, https://www.doew.at/cms/download/e1o6m/form_schwarz_ns-justiz.pdf, S. 5 (28. Mai 2020)

** Der Text entstand auf Grundlage von:
Peter Schwarz, NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945 (Rezension), online unter: DÖW, DÖW - Erforschen - Projekte - Arbeitsschwerpunkte - Widerstand und Verfolgung - Abgeschlossene Projekte - Hochverrat, Landesverrat, Wehrkraftzersetzung - NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938 - 1945 (28. Mai 2020)
und
Ursula Schwarz, Todesurteile des Oberlandesgerichtes Wien bei Verfahren der „besonderen Senate“, online unter: DÖW, DÖW - Erinnern - Fotos und Dokumente - 1938 - 1945 - Todesurteile des Oberlandesgerichts Wien (28. Mai 2020)

Quellen:

Verordnung über die Einführung der Vorschriften über Hochverrat und Landesverrat im Lande Österreich vom 20. Juni 1938, online unter: ALEX Historische Rechts- und Gesetzestexte online, ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (28. Mai 2020)

Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Einführung der Vorschriften über Hochverrat und Landesverrat im Lande Österreich vom 20. Juni 1938, online unter: ALEX Historische Rechts- und Gesetzestexte online, ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (28. Mai 2020)

Verordnung zur Ergänzung der Vorschriften über Hochverrat und Landesverrat in den Alpen- und Donau-Reichsgauen vom 18. Januar 1943, online unter: https://www.servat.unibe.ch/dns/RGB..._Landesverrat_Alpen-und_Donau-Reichsgauen.pdf (28. Mai 2020)

Literatur:

Thomas Keplinger, Oberlandesgericht Wien 1938–1945 – Wien Josefstadt, online unter: Geheimprojekte.at, Oberlandesgericht Wien 1938 - 1945 - Wien Josefstadt (28. Mai 2020)

Marcello La Speranza, Erforscht. NS- und Kriegsspuren in Wien, Expeditionen, Hinterlassenschaften und Zeitzeugen (Wien 2016), S. 8–10.

Links:

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende – Worte im Dunkel

Mehr zur NS-Justiz in Österreich zwischen 1938 und 1945:
1938 nach dem „Anschluss“ – Worte im Dunkel

Link zum Originalbeitrag: 1943 bis 1945 – Feind hört mit! – Worte im Dunkel
 

josef

Administrator
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#2
Dazu einige Screenshots von Einschaltungen in Werkszeitungen aus 1944/45:

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Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft 1944 (Heft 3)
ÖNB-ANNO - Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft

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Artikel aus Betriebsnachrichten für die Gefolgschaft der Firma Herrburger u. Rhomberg, Dornbirn, Innsbruck, Wien 1944 (2)
ÖNB-ANNO - Betriebsnachrichten für die Gefolgschaft der Firma Herrburger u. Rhomberg, Dornbirn, Innsbruck, Wien

1591028628252.png 1591028899456.png
Links: Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft 1945 (Heft 1)
ÖNB-ANNO - Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft
Rechts: Glück Auf! Werkzeitschrift der Wolfsegg-Traunthaler Kohlenwerks AG Juli 1944
ÖNB-ANNO - Glück Auf!


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Werkzeitung der Hammerbrotwerke Wien 1944
ÖNB-ANNO - Werkzeitung der Hammerbrotwerke


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Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft 1944 - Heft 9
ÖNB-ANNO - Werkszeitung der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft
 
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