Neuinterpretation eines vor 30 Jahren im Bereich eines römischen Kastells gefundenen 2000 Jahre alten "Holzstückes"

josef

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16 ZENTIMETER LÄNGE
Archäologen entdecken ersten bekannten "Dildo" der Römerzeit
Der 2.000 Jahre alte Holzphallus in Originalgröße wurde ursprünglich als "Stopfwerkzeug" gedeutet. Sexuelle Verwendungszwecke sind aber wahrscheinlicher
Dass die Römerinnen und Römer vor rund zwei Jahrtausenden ein eher entspanntes Verhältnis zur Sexualität hatten, das noch nicht vom Christentum verkrampft wurde, ist spätestens seit den Ausgrabungen von Pompeji gut dokumentiert. Einschlägige Abbildungen in Villen, die als Bordelle gedient haben, verbergen wenig. Die sexuellen Ausschweifungen in Rom wurden in einschlägigen und nicht jugendfreien Filmen wie "Caligula" auch zum Thema der Populärkultur.

Solche Freizügigkeit war noch vor 30 Jahren Archäologen in Nordengland aber anscheinend etwas peinlich, wie die nun Neuinterpretation eines 1992 gefundenen Objekts zeigt. Damals entdeckte man in einem Graben des römischen Kastells Vindolanda in Northumberland an der Grenze zu Schottland ein rund 15 Zentimeter langes, sorgfältig bearbeitetes Holzstück. Dank der anaeroben Abgeschlossenheit hat sich das gute alte Stück über 2.000 Jahre lang ebenso gut erhalten wie dutzende Schuhe, Kleidungsaccessoires, ein paar Boxhandschuhe sowie handwerkliche Abfallprodukte wie Lederreste.

Stopfwerkzeug der anderen Art
Die damalige, etwas verschämte Deutung des heute unbekannten Experten, der für die Archivierung zuständig war: Bei dem hölzernen Ding handle es sich um ein Stopfwerkzeug. Mit dieser Beschreibung wurde es damals auch in die Sammlung des Museums von Vindolanda aufgenommen. Die Bezeichnung "Stopfwerkzeug" war gar nicht ganz falsch, aber dennoch irreführend. Denn wie eine am Montag erschienene Studie nun zeigt, dürfte es sich bei dem Holzstück um einen lebensechten Holzphallus handeln – und zwar den einzigen bekannten aus der Römerzeit in "Echtgröße".



Sieht eigentlich recht unverwechselbar aus: der Holzphallus von Vindolanda.
Foto: Rob Sands

Unklar ist allerdings, wie er zum Einsatz kam, wie die beiden Archäologen Rob Cross (Uni Newcastle) und Rob Sands (University College Dublin) in einem in der Fachzeitschrift "Antiquity" erschienenen Fachartikel zur Diskussion stellen: Wenn der Dildo nicht als Sexualwerkzeug benutzt wurde, dann könnte es sich bei dem 2.000 Jahre alten Objekt um einen erigierten penisförmigen Stößel gehandelt haben. Oder es könnte ein Teil einer Statue gewesen sein, das die Menschen als Glücksbringer berührten.

Unübliche Größe
Zwei- und dreidimensionale Darstellungen von Phalli waren in der römischen Welt allgegenwärtig, sei es in Mosaiken, Fresken, Topfdekorationen oder Anhängern, die um den Hals getragen wurden. Der Phallus von Vindolanda ist 16 Zentimeter lang, war aber wahrscheinlich größer, da Holz dieses Alters zum Schrumpfen neigt. Die Größe ist auch das Besondere an dem Objekt, dessen Verwendungszweck den Forschenden nach wie vor einige Rätsel aufgibt, wie Rob Cross im Gespräch mit der Zeitung "The Guardian" einräumt: "Wir hatten einige sehr interessante Diskussionen."

Cross und sein Co-Autor Robert Sands vermuten, dass das Holzphallus für sexuelle Zwecke verwendet wurde. Das könnte bedeuten, dass es sich um ein Sexspielzeug handelte. Bei dieser Deutung sei allerdings eine gewisse Vorsicht geboten. Manchmal seien Dildos nämlich auch als Folterwerkzeuge benutzt worden. Wenn die Deutung mit dem Sexspielzeug stimmt, wäre das laut den beiden Autoren der erste römische (Holz)Dildo, der von Archäologen gefunden wurde.


Detailaufnahme der Spitze mit einigen feinen Einschnitten.
Foto: Rob Sands

"Wir wissen aus der griechischen und römischen Poesie und der griechischen und römischen Kunst, dass sie Dildos benutzten", sagt Cross: "Aber wir haben noch keine entsprechenden Objekte gefunden, was an sich schon faszinierend ist."

Zwei weitere Deutungen
Es gibt aber zwei weitere Interpretationen: So könnte das phallische Objekt, das an der Spitze leichte Bearbeitungsspuren aufweist, auch als Stößel verwendet worden sein, entweder für kulinarische Zwecke oder zum Zermahlen von kosmetischen oder medizinischen Zutaten. Aufgrund seiner Größe wäre er leicht zu benutzen gewesen, und die Form hätte den Lebensmitteln oder Zutaten vermeintlich magische Eigenschaften verliehen.

Die dritte Möglichkeit ist, dass der Holzphallus in eine Statue eingesetzt werden sollte, die Passanten berührten, um Glück zu bringen oder um vor Unglück zu bewahren. In diesem Fall hätte sich die Statue wahrscheinlich in der Nähe des Eingangs zu einem wichtigen Gebäude befunden. Alle gefundenen Hinweise deuten aber darauf hin, dass sich der Phallus entweder in einem Innenraum befand oder zumindest nicht für längere Zeit in einer exponierten Position im Freien.

Auch aktuell ist das ehemalige "Stopfwerkzeug", das nun vermutlich als römischer Dildo in die Archäologie eingehen wird, in einem Innenraum zu bestaunen: in der Ausstellung des Museums von Vindolanda.
(tasch, 21.2.2023)


Der Holzphallus in etwas verschämter Präsentationsposition im Museum von Vindolanda.
Foto: Universität Newcastle

Originalpublikation:
Antiquity: "Touch wood: luck, protection, power or pleasure? A wooden phallus from Vindolanda Roman fort"

Bericht in "The Guardian"

Archäologen entdecken ersten bekannten "Dildo" der Römerzeit
 
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