Restitutionsforderungen 1919: Den spektakulärsten Fall lieferte Italien mit dem Raub von Bildern aus dem Kunsthistorischen Museum

josef

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„Kunstraub“ 1919


Als Wiens Museen in Bedrängnis gerieten
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Mit dem Zerfall des Habsburgerreiches war die einstige Weltstadt Wien gefährdet, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken – und auch ihre identitätsstiftende Kunst war in Gefahr: Die Kronländer erhoben Ansprüche auf das museale Erbe des Kaiserhauses. Den spektakulärsten Fall unter den Restitutionsforderungen lieferte Italien, das anno 1919 Bilder aus dem Kunsthistorischen Museum „rauben“ ließ.
Wien, der aufgeblähte „Wasserkopf“ Österreichs: Dieses Bild erfreut sich noch immer großer Beliebtheit, wenn es darum geht, die Bundeshauptstadt und ihre „wichtigtuerischen Eliten“ zu belächeln. Während die Polemik heute meist harmlos ist, erschien sie 1919 noch unter anderem Gesicht. Mit dem Zerfall des Habsburgerreichs und der Gründung der Ersten Republik war die einstige Weltmetropole plötzlich zur sterbenden Stadt geworden. Hunger und Tuberkulose gingen um, Arbeitslosigkeit und Armut.

Eine neue Identität für die ehemalige Kaiserstadt war zu dieser Zeit dringend vonnöten: Der kulturelle Reichtum, eine naheliegende Antwort, wurde aber zum Kampfplatz. „Bruch und Kontinuität“ lautet der Titel einer Ausstellung im Wiener Hofmobiliendepot – und die Zeichen standen im Jahr 1919 eindeutig auf ersterem: Revolutionäre Kämpfe ließen Museumsplünderungen befürchten. Zur Eindämmung der grassierenden Not wurde der Verkauf von Kunst diskutiert. Und nicht zuletzt waren es die ungeklärten Besitztümer, die die junge Republik in Atem hielten.

Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung
Von der italienischen Waffenstillstandskommission beschlagnahmte Gemälde aus dem KHM vor dem Abtransport

Zahlreiche Restitutionsforderungen
„Es war eine höchst delikate Situation“, meint Franz Pichorner, der stellvertretende Direktor des Kunsthistorischen Museums. In seinem Katalogbeitrag rollt er das Drama um die kaiserlichen Museen in den Gründungsjahren der Republik auf: Die Verzichtserklärung von Kaiser Karl I. hatte die Republik nämlich nicht zur Besitzerin des Erbes, sondern zunächst nur zur Verwalterin gemacht.
Bis zur tatsächlichen Übernahme der kaiserlichen Kunstsammlungen – geregelt durch die Habsburgergesetze – sowie bis zur Unterzeichnung eines die Besitzansprüche klärenden Friedensvertrags sollte es noch dramatische Monate dauern, in denen nicht zuletzt die Nachfolgestaaten versuchten, ihre Chance zu nutzen. Sie forderten ihren Anteil an der Erbmasse der Monarchie – und waren dabei nicht die einzigen: Auch die Siegermächte gruben alte Ansprüche aus.

SKB
Nach dem Auszug des Kaisers wurde die Hofburg zunächst zur Stätte von Kulturveranstaltungen

„Die Tschechoslowaken thematisierten die Kunstkammer Rudolphs II., die Belgier wollten die Rubens-Bestände und das Goldene Vlies, die Tiroler die Ambraser Sammlung, und mit den Ungarn lief der Rechtsstreit bis in die 1930er Jahre. Das ging reihum“, so Pichorner. „Die Einzigen, die das aber sehr radikal wahrgemacht haben und die nicht nur Post geschickt haben, waren die Italiener“, ergänzt der Kurator der Ausstellung, Martin Mutschlechner, im Gespräch mit ORF.at.

„Ikonen tief sitzender Empörung“
Es war ein höchst spektakulärer Fall: Ganz bewusst ohne den Spruch der Friedenskommission abzuwarten erschien am 12. Februar 1919 die italienische Militärkommission im Kunsthistorischen Museum und nahm 66 Bilder mit – unter dem Vorwand eines dubiosen Rechtsgutachtens. Auf Anordnung von oben ließ man sie ohne Widerstand gewähren. Tintoretto, Veronese, Bellini, „also erstklassige Bilder“, seien darunter gewesen, meint Pichorner. Sie sind bis heute, bis auf die Canova-Büste von Kaiser Franz Joseph, in den italienischen Museen geblieben.
Das aufsehenerregende Bild des „Italienischen Saals“ im KHM, das damals als Hilfsappell an die Öffentlichkeit gedacht war, ist aktuell auch in der mumok-Ausstellung „Photo/Politics/Austria“ zu sehen. Die leeren Rahmen deutet man dort als „Ikonen tief sitzender Empörung der ohnmächtigen Rest-Republik“. Ein starkes Bild, wie auch Pichorner meint: Die leeren Rahmen „waren natürlich ein Fanal“, meint er. Die zuständigen Beamten hätten schließlich die Weisung bekommen, sie zu entfernen, um die Italiener nicht zu vergraulen – wichtige Lebensmittellieferungen standen auf dem Spiel.

Kunsthistorisches Museum Wien
Gemäldegalerie nach Beschlagnahme der Bilder 1919, Aufschrift: „Von der italienischen Waffenstillstandskommission widerrechtlich weggeschafft“

„Es hätte auch anders ausgehen können“
Der dreiste „Kunstraub“, wie mancherorts zu lesen war, erregte tatsächlich nicht nur die Gemüter der Fachkreise, sondern erreichte bis hin zum US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson eine internationale Öffentlichkeit. Was vielleicht auch dazu geführt hat, dass die Geschichte – trotz der Wellen, die sie damals schlug – heute wenig bekannt ist: Die große Aufmerksamkeit kam nämlich letztlich den Wiener Sammlungsbeständen zugute.
Die amerikanische Delegation wollte Wien als Museums- und Kunststadt nicht geschmälert sehen und setzte sich für die einstige Weltstadt ein. Im Friedensvertrag von Saint-Germain wurde festgehalten, dass es zu keiner prozentuellen Aufteilung der Bestände kommen sollte, sondern dass das, was sich in Wien befand, auch in Wien bleiben sollte. „Dass Österreich diesen riesigen Schatz aus der Monarchie bewahren konnte, ist doch erstaunlich. Das hätte ja ganz anders ausgehen können“, sagt Pichorner. Weitere Restitutionsforderungen gibt es noch heute. – Gerechtfertigt? „Das ist natürlich eine riesige Diskussion, die weit führen würde, bis zu den aktuellen Pariser Auseinandersetzungen um die Benin-Büsten.“

Wien Museum, Foto: Richard Hauffe
Hunger nach dem Krieg: Englische Hilfslieferungen für Wien

Ein Sozialdemokrat als imperialer Beschützer
„Die Österreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt“ – dieser Satz Alfred Polgars passt wohl auch zum Ausgang der Habsburgerischen Erbdiskussion. Dass es übrigens nicht zur weiteren Dezimierung der Kunstbestände durch Österreich selbst kam, hat man dem Kunsthistoriker Hans Tietze zu verdanken, einem revolutionären Kulturpolitiker, der mit seinem Engagement nicht wenige sozialdemokratische Gesinnungsgenossen vor den Kopf stieß: Weil der Kunstmarkt gesättigt war und die Preise für Kunst ohnedies im Keller waren, setzte er sich massiv gegen einen Verkauf der Kunst ein.
Tietze schwebte damals mehr vor: eine neue, volksnahe Museums- und Kulturlandschaft, die die Türen für alle offen halten sollte. Die Umsetzung sollte ihm nicht gelingen. Denn während zu dieser Zeit der Grundstein für heutige Sammlungsbestände und etwa das Belvedere gelegt wurde, ging man in Wien schließlich andere Wege – den der Kunsttempel, die das Feudale weiter zelebrierten.
Paula Pfoser, für ORF.at 20.01.2019

Links:
Ausstellungshinweis
„Bruch und Kontinuität. Das Schicksal des Habsburgischen Erbes nach 1918“,
Hofmobiliendepot Wien, noch bis 30. Juni 2019, dienstags bis sonntags 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Montag Ruhetag, außer 24.12.2018 und 31.12.2018.

„Photo/Politics/Austria“,
mumok, noch bis 3. Februar 2019, montags 14.00 bis 19.00 Uhr, dienstags bis sonntags 10.00 bis 19.00 Uhr, donnerstags bis 21.00 Uhr.

„Kunstraub“ 1919: Als Wiens Museen in Bedrängnis gerieten
 
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