Ein Sudetendorf zum Schnäppchenpreis

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In Tschechien bietet der Staat ein Ruinen-Dorf zum Verkauf an. Einst lebten hier Sudetendeutsche, die nach dem Krieg vertrieben wurden. Die Hoffnung ist nun, dass einer von ihnen zurückkommt. Von Hans-Jörg Schmidt, Prag

Die Tschechen trauten ihren Augen nicht. Da schrieb die Prager Zeitung "Mlada fronta Dnes" über ein womöglich lohnendes Geschäft: Der tschechische Staat, so hieß es da, verkaufe den Ort Vitin (Wittine) unweit von Usti nad Labem (Aussig), an den Meistbietenden. Ein Ort ist zu verkaufen? Ein kompletter Ort?

Ein Blick auf die aktuelle tschechische Karte erweist sich als wenig hilfreich: einen Ort namens Vitin findet sich dort nicht. Bei Google wird man fündig: Vitin existiert dort als "verlassener Ort", in dem bis zum Kriegsende eine Handvoll Sudetendeutscher gelebt hat. Den Ort als solchen gibt es seit 1965 nicht mehr, als das letzte Gehöft – die Kneipe "Zur schönen Aussicht" – dichtmachte.

Fotos kann man sich immerhin noch ansehen, sie stammen aus den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg. Auf jenen von heute sieht man nur Ruinen, alleinstehende Häusermauern, die sich gegen die Rückkehr der Natur nicht wehren können. Meterhohe Bäume ragen neben den Mauerresten in den Himmel, Gras und Unkraut wachsen in erkleckliche Höhe.

Ein Dorf zum Schnäppchenpreis

14.600 Euro umgerechnet möchte der Staat für ein paar Hundert Quadratmeter Boden haben. Ein absolutes Schnäppchen. In schönster Lage zwischen Decin (Tetschen) und Usti nad Labem (Aussig), unweit des Berges Bukovina (Buchenberg), von dem ein Fernsehturm weit ins Land grüßt, der Autofahrer heute zwischen beiden Orten entlang der Elbe unmöglich verborgen bleiben kann. Vitin selbst ist auf einer Anhöhe gelegen, die das Erreichen mit Fahrzeugen schwer macht. Dort hinauf gibt es nur einen steinigen Lehmweg.

Schon in der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie ersuchten die deutschsprachigen Bewohner die Behörden um eine ordentliche Straße Richtung Aussig. Sie bauten mehrheitlich Obst an, Äpfel und Birnen, mit denen sie gern Geschäfte gemacht hätten. In Wien, der damaligen Hauptstadt, winkte man desinteressiert ab.

Die erste Tschechoslowakische Republik hatte für eine Straße später ebenso wenig Geld wie danach der sudetendeutsche "Gauleiter" Adolf Hitlers. Die Obstbauern karrten ihr Obst weiter mit Traktoren über einen abenteuerlichen Weg Richtung Aussig, von wo aus es mit Schiffen bis nach Hamburg transportiert wurde – hier immerhin war man voll des Lobes über die böhmischen Vitamine. Reich wurden die Menschen in Wittine davon dennoch nicht. Den Rest der jährlichen Ernte brannten sie zu Schnaps, der auch in besagter Kneipe getrunken wurde.

Die verbliebenen Deutschen wurden vertrieben

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erinnerten sich die tschechischen Behörden selbstverständlich rasch der paar Deutschen in dem kleinen Ort. Schon 1946 mussten sie auf den Treck gen Deutschland. So wie insgesamt drei Millionen Deutsche, die in der Tschechoslowakei nicht mehr gelitten waren und kollektiv vertrieben wurden.

Eine tschechoslowakische Armee-Einheit, überwiegend Freiwillige aus Wolhynien in der Karpato-Ukraine unter dem Anführer Ludvik Svoboda, die sich aktiv an der "wilden Vertreibung" der Deutschen beteiligt hatten, zog in dem Ort ein. Die Betten waren noch warm, das Vieh brüllte in den Ställen. Die neuen Herren hatten Landwirtschaft nie gelernt, aßen die Tiere auf oder verkauften sie, sagt der Archivar aus Usti, Vladimir Kaiser.

"Die wollten nicht in dem Dorf bleiben, sondern in eine richtige Stadt wie Usti." Jene, die blieben, hatten es schwer. Der Boden ist karg, zur Arbeit musste man in die Stadt – über den Holperweg. "1949 wurde ein Kind bei einem Unfall verletzt und hätte in eine Klinik gebracht werden müssen. Doch der Krankentransport weigerte sich, in den hoch gelegenen Ort zu kommen", erinnert sich Kaiser. "Das Kind starb. Das war für viele Einwohner der letzte Grund, den Ort zu verlassen."

Der Kneipenwirt machte das Licht aus

1952 war der Ort fast geräumt. Bis Grenztruppen einzogen. Doch auch die blieben nicht ewig. "1965 zog der Kneipier als Letzter weg." Danach begann das längst tschechische Vitin zu zerfallen. Spuren finden sich freilich bis heute. Nicht nur Reste der Mauern aus zumeist ungebrannten Ziegeln.

Eine der Spuren führt zum ersten "Nachwende"-Oberbürgermeister von Dresden, Herbert Wagner. Dessen Großvater stammt aus dem Ort. Die Familie landete nach der Vertreibung in der Nähe des mecklenburgischen Neustrelitz. Mit dem DDR-Regime hatte sie nie etwas am Hut. Mehrere Familienmitglieder landeten in Stasi-Gefängnissen, wurden später von Bonn aus "freigekauft". "Wir haben uns seit 1978 jedes Jahr zu Pfingsten in Böhmen getroffen", kramt Wagner in seinem Gedächtnis und im Computer. Der Vater hat seinen drei Kindern die Familiengeschichte hinterlassen, Herbert Wagner hat sie in einer digitalen Version für die Nachwelt aufbewahrt.

"Wir sind seinerzeit in der Nähe von Aussig über die Elbe übergesetzt, lange gelaufen und haben den Berg erklommen, auf dem damals aber schon nur noch gespenstische Ruinen standen", erinnert sich Wagner. Seine Mutter habe noch sudetendeutschen Dialekt gesprochen, sagt er leise und ein bisschen wehmütig. Die Familie habe in seiner Kindheit oft über die alte Heimat erzählt. Dies – und die Tatsache, dass man sich mit den ausgekauften "Westverwandten" zu DDR-Zeiten nur im Ausland treffen konnte – , habe diese Treffen in der Heimat der Eltern gezwungenermaßen ermöglicht.

"Pfingsten in Böhmen war sozusagen ein fester Termin." Später, nach der "Wende", als es um den Bau der Autobahn von Dresden nach Usti und Prag ging, ist Wagner als Dresdner Oberbürgermeister auch dienstlich ins Böhmische gefahren, hat sich mit seinem Amtsbruder aus Usti getroffen. Er hat nicht nur die Unterstützung des Bürgermeisters aus Usti bekommen, sondern – für ihn völlig überraschend – auch vom Stadtarchivar Kaiser ein paar Dokumente über Wittine, die ihm bis heute am Herzen liegen.

Besucher bekommen Gänsehaut

Nahe kommt die landschaftlich hübsche Gegend auch den Menschen, die sie gezielt oder mehr zufällig besuchen. Auf einer tschechischen Internetseite kann man Kommentare von tschechischen Besuchern lesen. Jeder zweite Eintrag beginnt mit den Worten: "Ich bekam eine Gänsehaut." Oder: "Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich daran dachte, dass in diesem Ort vor nicht allzu langer Zeit Menschen gelebt haben, die es heute nicht mehr gibt, oder die – so sie noch leben – woanders eine neue Heimat für sich finden mussten."

Ondrej Matejka, Chef der tschechischen Bürgervereinigung "Antikomplex", die unter anderem ein Buch über die nach dem Krieg zwangsweise verlassenen Dörfer und Städte der Sudetendeutschen geschrieben hat, sieht die Geschichte mit dem angedachten Verkauf des Dorfes Vitin gelassen. "Es ist zwar das erste Mal, dass der tschechische Staat ein früher sudetendeutsches Dorf verkaufen will. Aber dahinter stecke nichts Emotionales. Schon gar kein Bestreben, sich der gemeinsamen Geschichte mit den Deutschen zu erinnern. Der Staat braucht einfach Geld und guckt nach Objekten, die sich veräußern lassen." Der Preis sei sicher lukrativ niedrig, aber das auch nur auf den ersten Blick.

Das Problem, dass Matejka benennt, ist ein Erhebliches: Zwar kann jedermann das Gebiet des nicht mehr existierenden Dorfes kaufen – aber er kann damit nichts anfangen. Vitin liegt im landschaftlich geschützten Böhmischen Mittelgebirge. Das bedeutet, dass man keine Eingriffe in die Natur vornehmen darf. Also auch nicht auf den Ruinen des einstigen Dorfes etwas Neues aufbauen kann. "Unter diesen Umständen erscheint der Verkauf des nicht mehr existierenden Ortes absurd."

Bürgeraktivist Matejka kann sich eine lokale Initiative vorstellen, die den Ort mit einem Denkmal unter freiem Himmel ehrt. "Mehr aber auch nicht." Andererseits gebe es Orte in anderen Ecken des heutigen Tschechien, etwa in Südböhmen nahe der bayerischen oder österreichischen Grenze oder im Schluckenauer Zipfel an der Grenze zu Sachsen, die neu bebaut worden seien, weil sie wie durch ein Wunder immer noch in den Katasterämtern verzeichnet seien.

Auf Ruinen Neues schaffen

"Dort darf man auch auf alten Ruinen etwas Neues errichten, falls dem keine anderen Gesetze entgegenstehen." Dies treffe aber seines Wissens auf Vitin nicht zu. Das Verbot wegen des Naturschutzgebietes müsse aber nicht wirklich ernst genommen werden. "Schließlich wird im Naturschutzgebiet Böhmisches Mittelgebirge auch die Autobahn nach Dresden gebaut, weil das Umweltschutzministerium dazu eine Ausnahmegenehmigung gegeben hat – gegen grundlegende Verbote."

Womöglich hat jemand aus Deutschland Interesse an dem Kauf. Jemand, der aus der Gegend stammt. Oder dessen Vorfahren, wie die von Dresdens Ex-Bürgermeister Wagner. Tschechische Bürgerrechtler hatten schon einmal ein Treffen mit ehemaligen Deutschen in dem verschwundenen Vitin organisiert. Gemeinsam mit dem Stadtarchiv Usti legten Studenten an einem Wochenende einen Wanderweg an, der auch durch verlassene Nachbarorte von Vitin führt.

Ein Weg in eine untergegangene Welt, obschon dort über Jahrhunderte Leben herrschte. Als Versuch, für die heute in der Umgebung lebenden Tschechen eine Art Bindung an diese vergangenen Zeit zu schaffen. Einen Lehrpfad mit Informationstafeln über die deutsche Vergangenheit wurde seinerzeit von der zuständigen tschechischen Behörde untersagt. Und trotzdem kamen seinerzeit, 2007, mehr als 100 Menschen zusammen, die Bier aus Dosen und Flaschen tranken und dazu Würstchen grillten, wie sich Stadtarchivar Kaiser erinnert.

Doch wie immer die Geschichte mit dem Verkaufsversuch ausgehe: "Das 800 Jahre von Deutschen besiedelte Sudetenland", so Kaiser, "bleibt Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Ob wir es wollen oder nicht. Ein schnöder Golfplatz durch einen neuen Investor wird in Vitin mit Sicherheit nicht entstehen. Das würde schon daran scheitern, dass es dorthin noch immer keine ordentliche Straße gibt."

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Quelle: http://www.welt.de/politik/ausland/article124358268/Ein-Sudetendorf-zum-Schnaeppchenpreis.html





 
#2
Danke für diesen interessanten Beitrag!

Ich war so vor 8-10 Jahren in diesem Gebiet immer mit dem Auto unterwegs. Auch grossflächig im polnischen Teil.
Was es da an verfallenen Gebäuden und Fabriken gibt, ist einfach unglaublich.
Das wäre etwas für unsere Forumsleute, die gerne solche verlassenen Objekte ablichten.
Man sollte die lokale Sprache einigermaßen beherrschen und für ein Paar Euros würden sich interessante Objekte öffnen.

Leider war das Schicksal dieser Familien furchtbar. Wenn man das auf die eigene Situation übertragen würde, und sich vorstellt von heute auf morgen abreisen zu müssen um nie wieder zurückzukommen......
Wer dies nicht am eigenen Leib erlebte kann dies wahrscheinlich nicht mal annäherungsweise verstehen.

War dann in Rumänien mit der gleichen Situation wie oben beschrieben konfrontiert (Donauschwaben, ausgewanderte Tiroler etc.). Dort war noch mehr der Hang zur Gigantonomie. Riesige Fabriken stehen dort leer.
 
S

Senator74

Nicht mehr aktiv
#3
leider traurig

Meine Vorfahren stammen aus Maffersdorf, jenem Ort, wo Ferdinand PORSCHE aufgewachsen ist. Meine Oma erzählte, wenn der Ort finster wurde, sagten die Leute "Da hat beim Porsche-Klemptner der Junge wieder im Keller rumgemacht!"
Maffersdorf und Röchlitz wurden zu Reichenberg (heuteLiberec) eingemeindet.
Einen MAXI BÖHM haben meine Eltern im Reichenberger Schauspielhaus erlebt.
Ich war schon 2x dort, aber es ist insgesamt enttäuschend. Die Kirche, wo meine Eltern 1939 geheiratet haben, ist still gelegt, abgesperrt und in desolatem Zustand.
Revitalisiert wird dort wenig bis nichts.
Einen Streit gab es sogar darüber, ob eine Gedenktafel am Geburtshaus von PORSCHE angebracht werden soll, weil er ja für die NAZIS gearbeitet hatte.
Auf die Benes-Dekrete komme ich besser nicht zu sprechen, weil das hier ja kein politisches Forum ist.
Traurige Replik.
 
S

Senator74

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#4
Danke für diesen interessanten Beitrag!

Ich war so vor 8-10 Jahren in diesem Gebiet immer mit dem Auto unterwegs. Auch grossflächig im polnischen Teil.
Was es da an verfallenen Gebäuden und Fabriken gibt, ist einfach unglaublich.
Das wäre etwas für unsere Forumsleute, die gerne solche verlassenen Objekte ablichten.
Man sollte die lokale Sprache einigermaßen beherrschen und für ein Paar Euros würden sich interessante Objekte öffnen.

Leider war das Schicksal dieser Familien furchtbar. Wenn man das auf die eigene Situation übertragen würde, und sich vorstellt von heute auf morgen abreisen zu müssen um nie wieder zurückzukommen......
Wer dies nicht am eigenen Leib erlebte kann dies wahrscheinlich nicht mal annäherungsweise verstehen.

War dann in Rumänien mit der gleichen Situation wie oben beschrieben konfrontiert (Donauschwaben, ausgewanderte Tiroler etc.). Dort war noch mehr der Hang zur Gigantonomie. Riesige Fabriken stehen dort leer.
Meine Großmutter und mein Vater sind Heimatvertriebene. Meine Mutter hatte stets die österreichische Staatsbürgerschaft, somit kam die Steiermark als neue Heimat in Frage.
 

struwwelpeter

Well-Known Member
#5
Hallo Senator,

nachdem du ja aus diesem Eck der Steiermark stammst, hier ein Hinweis über eine geplante "umgekehrte" Aussiedlung:

http://www.moassa.at/chronik/index.htm

Und weil du Maxi Böhm ansprichst: der hatte ums Eck ein Haus am Semmering und auch die Hütte am Pinkenkogel.

Und dass es bei Porsche manchmal durch den Junior finster wurde, das haben wir in der Schule gelernt (OK, ist schon ca. 40 Jahre her).

Peter
 
S

Senator74

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#6
Hallo Senator,

nachdem du ja aus diesem Eck der Steiermark stammst, hier ein Hinweis über eine geplante "umgekehrte" Aussiedlung:

http://www.moassa.at/chronik/index.htm

Und weil du Maxi Böhm ansprichst: der hatte ums Eck ein Haus am Semmering und auch die Hütte am Pinkenkogel.

Und dass es bei Porsche manchmal durch den Junior finster wurde, das haben wir in der Schule gelernt (OK, ist schon ca. 40 Jahre her).

Peter
Danke für die Info. Auch ein Heinz Conrads war oft am Semmering, beim Bärenwirt. Und die Kinder des letzten Direktors vom Panhans waren bei uns im Gymnasium Mürzzuschlag Schüler.
Klein ist die Welt...
 
S

Senator74

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#7
Das angesprochene PANHANS hatte ja eine Blütezeit unter dem Direktor A......m, doch dann ging es bergab, da die täglichen Mindesteinnahmen nicht mehr erreicht wurden.
 
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